Keine Rucksacktouristen, sondern Besucher mit Geld, benötige die ehemalige „Villa Imperial“ des spanischen Kolonialreichs Potosí, argumentierten die Vertreter der Bürgerbewegung der bolivianischen Bergwerksstadt, nachdem es nach drei Wochen Generalstreik und zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen in La Paz endlich zu Verhandlungen mit der Regierung gekommen war. Außerdem, so der Vizerektor der Universität, solle die Verwaltung der staatlichen Bergwerksgesellschaft COMIBOL nach Potosí verlegt werden. Und für all das sei ein internationaler Flughafen notwendig. Nachdem der Cerro Rico, der Berg, dessen Reichtümer vor allem nach Europa gegangen sind, fast vollständig ausgebeutet ist, brauche die 190.000 Einwohnerstadt dringend neue Einkommensquellen, so Pedro López.
Ein internationaler Flughafen und die ebenso geforderte Zementfabrik seien weiße Elefanten, konterte die Regierung. Sie würden nie rentabel arbeiten können. So wie die Blei-Silber-Schmelze Karachipampa vor den Toren von Potosí. Zu manchen Forderungen oder Projekten mag es berechtigte fachliche Bedenken geben. Das Problem: Sie gehören zu fünf der sechs Versprechen, die Evo Morales 2010 nach massiven wochenlangen Protesten seinen potentiellen Wählern von Potosí gegeben hatte, und die bis heute nicht erfüllt sind. Selbst die Aufnahme der Produktion in Karachipampa, kritisiert die Bürgerbewegung, sei mehr Werbeaktion gewesen (wir berichteten noch optimistisch in latinorama), als eine Tatsache.
Dass der Präsident angesichts einer mageren Bilanz ungern an die Versprechen erinnert wird, ist verständlich. Dass er auf die Notwendigkeit hinweist, Projekte in Angriff zu nehmen, die wirklich rentabel und zukunftsweisend sind, ist gut. Obwohl er es diesmal nicht mit den laestigen Oekologen zu tun hat, sondern mit Menschen, die Entwicklungsvorstellungen vertreten, die seiner Regierungspraxis sehr nahe kommen. Dass er aber, während der Bevölkerung in Potosi das Essen knapp wird, die Krankenhäuser Patienten nach Hause schicken müssen, weil sie sie nicht mehr versorgen können und in La Paz Dynamit gezündet wird, in dem noch kleineren Bergwerksort Uncia seinerseits einen Flughafen verspricht, und anderswo Sportplätze mit einem Fußballspiel einweiht, und dass er sich gleichzeitig weigert mit der Delegation der Bürgerbewegung zu reden, hat ihm nicht nur bei den Bewohnern von Potosí Sympathien gekostet. Sportplätze mit Kunstrasen, die es jetzt mancherorts gibt, sind ja schön und gut. Aber Potosí brauche vor allem produktive Investitionen und Arbeitsplätze, so der Vizerektor der staatlichen Universität. „In vielen Gemeinden, wo es jetzt Kunstrasen gibt, sind die Kinder und Jugendlichen schon laengst abgewandert“, kritisiert eine Sozialaktivistin, „weil es keine Programme fuer eine wirkliche Entwicklung dieser Gemeinden gegeben hat.“ Etwas uebertrieben, denn gerade in den laendlichen Regionen hat es unter Evo Morales mehr Investitionen gegeben als je zuvor. Strassenbau, neue Schulgebaeude, Aufforstungs- und Wasserprojekte oder Elektrifizierung…
Tatsächlich war die Stadt Potosí, anders als die ländlichen Gemeinden im Umland, lange Jahre von der Zentralregierung vernachlässigt worden. Regiert von zwar linken, aber nicht zu Evo Morales MAS gehörenden politischen Gruppierungen unter dem populären René Joaquino. Obwohl Evo Morales Gefolge ihn sogar zeitweise ins Gefängnis hatte stecken lassen wegen angeblich unwirtschaftlichem Handelns, wechselte der von den Vorwürfen letztlich freigesprochene Joaquino letztes Jahr die Seiten und ließ sich fuer den MAS zum Senator für Potosí wählen. Bei den Kommunalwahlen benötigte der MAS bei etwa einem Drittel der Stimmen den nur wenig dahinterliegenden indigen geprägten MOP als Koalitionspartner, um den neuen Bürgermeister stellen zu können. Doch immer noch stoßen die Organisationen aus Potosi mit ihrer inzwischen auf 26 Punkte angewachsenen Liste von Forderungen bei der Zentralregierung auf Beton. Auch MAS- Anhänger protestieren auf den Straßen. Der Sprecher des Protests, Jhonny Llally, ein Bergabeiter und nach eigenen Angaben ebenfalls Wähler von Morales, äußerste sich tief enttäuscht von seinem Präsidenten.
Doch statt auf die eigene Basis zuzugehen, Debatten über die Sachfragen und Konfliktpunkte zu organisieren, und die Entwicklung von Alternativen in den Mittelpunkt zu stellen, holen die Staatsminister wieder das Argument aus der Rhetorik-Kiste, hinter den Protesten stünden Putschinteressen, sie seien von der Rechten gesteuert. Der „Prozess des Wandels“ sei in Gefahr. Wo doch Morales einst für den Wandlungsprozess das Motto ausgegeben hatte, er werde dem Volk gehorchend regieren.
In von der Regierung bezahlten Fernsehspots werden die Protestierer als gewalttätige Randalierer abgekanzelt. Das klingt nicht nur abgenutzt, sondern ist angesichts der Gesichter derer, die in Potosí an den Straßenblockaden stehen oder nach La Paz marschiert sind, wenig überzeugend. Weshalb Evo Morales auch betont, dass es nicht die Menschen von Potosí seien, denen er kritisch gegenueber stehe, sondern deren Sprecher.
Riskant dabei die Mobilisierung von regierungsnahen Bauerngemeinden, bei der nicht einmal darauf geachtet wird, beim entsprechenden Aufruf den Parteistempel wegzulassen. Dort wird der Bürgerbewegung ein Ultimatum gesetzt, den Generalstreik in Potosí abzubrechen und La Paz zu verlassen. Sonst würden die Bauern – friedlich – nach Potosí marschieren und die Stadt einschließen. Ein doppelte Blockade. Von außen und von innen. Wieder einmal soll die Basis die Suppe auslöffeln, die die Regierung eingebrockt hat. Und auch die Kokabauern aus dem weit entfernten Chapare haben die Entsendung von 3000 der ihren nach La Paz angekuendigt. Der Bürgermeister von La Paz ist da klüger und demokratischer. Er bat die Demonstranten aus Potosí dringend darum, auf den – bei den Bergarbeitern sehr gebräuchlichen – Einsatz von Dynamit zu verzichten, aber respektiert ihr Recht, sich auch am Regierungssitz für ihre Interessen zu engagieren, nachdem die wochenlangen Proteste weit weg in Potosí wenig Wirkung erzielt hatten.
Nachdem es erste Fortschritte bei den Verhandlungen gegeben hatte, stocken diese wieder einmal. Das Staatsfernsehen hatte die von den Protestlern als Bedingung geforderte Live-Uebertragung der Verhandlungen unterbrochen. Nun mag das Mitgefuehl im restlichen Bolivien nicht so gross sein, dass die Menschen dafuer auf ihr gewohntes Programm verzichten wollen. Doch eine Unterbrechung der Uebertragung dieser demokratischen Uebung fuer einen Auftritt des Praesidenten in einer Landgemeinde, in der er Saatgut verteilt? Ein Konfliktpunkt ist, dass unklar ist, ob Evo Morales, nachdem er selbst nicht verhandeln will, die mit den Ministern getroffenen Vereinbarungen dann auch unterschreiben werde. Aber auch, dass immer noch vier Protestler in Haft sind. Angeklagt, oeffentliches Eigentum zerstoert zu haben. Die versprochene Haftanhoerung wurde ein ums andere mal verschoben.
Nun besteht kein Zweifel, dass die Dynamitstangen Fenster und Einrichtung des Innenministeriums zerstoert und auch in der deutschen Botschaft ein Feuer entzuendet hatten, worueber auch in Deutschland berichtet wurde. Nur: Unter den Verhaftenden ist auch ein Journalist aus Potosi, der gar nicht am Tatort, sondern spaeter festgenommen wurde. So dass auch MAS Senator René Joaquino an der Rechtmaessigkeit der Anklage zweifelt. Innenminister Romero wies zu Recht darauf hin, dass er oder der ebenfalls an den Verhandlungen beteiligte Praesidialminister Quintana keinen Einfluss auf die Justiz nehmen duerften. Nur klingt das wenig glaubwuerdig just in der gleichen Woche, als Zeugen im Departamento Pando ihre Aussagen gegen einen rechten Ex-Praefekten im Fall des Massakers von Porvenir mit der Begruendung widerriefen, sie seien jahrelang vom MAS manipuliert und benutzt worden.
In Potosí glauben viele, dass die Regierung auf Zeit spielt und erwartet, dass der Widerstand angesichts des Nahrungsmittelmangels zusammenbricht. Manche Reporter beobachten Verzweiflung. „Die Potosinos“, bekraeftigt dagegen bereits erwaehnte Aktivistin haetten, „in den ganzen Streikwochen Einigkeit gezeigt, um das Recht auf Fortschritt und nachhaltige Entwicklung einzufordern“. Nachdem Potosi der Welt seinen Reichtum gegeben habe, sei es nur recht und billig, dass Bolivien in diese verarmte Region investierte. In Potosí ist die Verzweiflung zu spueren, was geschieht, wenn ein extraktives Entwicklungsmodell an seine Grenzen geraet. In diesem Sinne ist es ein Testfall fuer ganz Bolivien.
Im Internet kursierte mit Blick auf die diskutierte Verfassungsaenderung fuer eine Wiederwahl von Evo Morales fuer eine vierte Amtszeit, ein Zitat, das dem Libertador Simón Bolivar zugeschrieben wurde: Es sei nie gut, dass ein Staatsmann zu lange an der Macht sei. Denn dieser wuerde sich dann zu sehr daran gewoehnen, zu kommandieren und die Staatsbuerger, ihm einfach zu gehorchen. Was die Menschen aus Potosí angeht, scheint das bislang noch nicht zuzutreffen. Aber so lange der Generalstreik dauert, werden nicht einmal Rucksacktouristen nach Potosí kommen koennen und wenigstens ein wenig Geld in der Stadt lassen.
Hallo Zusammen,
Ich war kürzlich in Potosi und La Paz, habe die Proteste gesehen und versuche daraus schlau zu werden. Ich hatte ehrlich gesagt den Eindruck, dass die Regierung bereit zum Gespräch ist und vernünftig argumentiert, etwa wenn sie betont, dass ein internationaler Flughafen nicht einfach die Lösung ist für eine wirtschaftliche Verbesserung in Potosi. Ich hatte auch den Eindruck, dass Comcipo die Bevölkerung Potosis instrumentalisiert, gleichzeitig erlebte ich kaum Widerstand gegen den Streik. Ich habe zwar Kritik an Comcipo gelesen, aber wenn man die Leute fragte, dann standen sie alle hinter dem Streik. Sowohl in Potosi selber als auch in La Paz wo man den Streik und die Anliegen der Potosimos guthiess obwohl die Mineros mitten auf den Strassen Dynamit zündeten, was doch beunruhigend zu erleben war.
Was ich mich aber vor allem frage: Was ist der aktuelle Auslöser des Protests? Gibt es einen Zusammenhang mit der Weltwirtschaft, etwa dass Rohstoffpreise länger tief lagen und dies zu einer allgemeinen Unzufriedenheit führte, die sich nun an der Regierung niederschlägt? Oder wieso kommt Comcipo gerade jetzt mit seinen 26 Forderungen?
Ich bin froh um Antworten, die mir helfen einen objektiven Blick auf das ganze zu erhalten.
Vielen Dank und Grüsse!
Dominik