vonPeter Strack 25.12.2015

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

Mehr über diesen Blog

Am südlichen Ende von El Alto, der zweitgrößten Stadt Boliviens, kurz vor der Mautstation Richtung Oruro an der Kreuzung Ventanilla, geht es rechts ab. Der Himmel ist an diesem 24. Dezember gnädig. Die Sonne scheint. Und ohne Regen ist die Avenida Achacollo zwar staubig, aber trocken. Die Erdstraße führt genau in die entgegengesetzte Richtung des im Windschatten des Altiplano gelegenen grünen Tales vor La Paz, nach dem sie benannt ist. Nicht mal die Vertreter des „Ja“ oder „Nein“ zur Wiederwahl von Präsident Evo Morales scheinen es für nötig zu halten, bis hierher zu kommen. Obwohl es genug der kahlen Wände gibt, die sie andernorts gerne für ihre derzeit vor allem in den rot-gelb-grünen Nationalfarben gehaltene Werbung im Vorfeld des Referendums zur Verfassungsänderung belegen.

Doch was sollen Slogans wie „Es geht voran, warum sollten wir zurückschreiten“ oder „Ja zur Industrialisierung der Bergwerkswirtschaft“ hier auch aussagen? Vielleicht das „Ja zum Juancito Pinto“, die Bonuszahlung für Kinder, die ihr Schuljahr erfolgreich abschließen. So, als ob dies keiner staatlichen Politik, sondern dem jeweiligen Amtsträger gschuldet sei.

SAM_7697Nach ein paar hundert Metern ist hinter den letzten Ziegelhäusern die Weite der auf 4000 Meter gelegenen Hochebene schon zu erkennen. An einem Mast baumelt eine Puppe. „Von den Nachbarn bewachte Zone“ steht auf der Mauer neben dem Kulturzentrum „Casa de Solidaridad“, dessen mit bunten Handabdrücken geschmückte kleine Fassade mit der unmissverständlichen Drohung der Selbstjustiz gegen Diebe und Räuber. Bis auf ein paar Schulen ist der Staat weit weg.

Doch heute ist Feststimmung in Villa Paulina. Ein kleines handgeschriebenes Plakat mit einer Einladung zu einem Weihnachtsfest für die Kinder des Viertels hat ausgereicht, dass sich schon um sechs Uhr morgens Kinder in eine Schlange gestellt haben, obwohl die Veranstaltung selbst erst um zehn Uhr beginnt. Ob es wirklich Geschenke für die Kinder geben wird, werden wir von ein paar Knirpsen gefragt, als wir auf dem großen Platz vor dem Kulturzentrum ankommen, der von jugendlichen Freiwilligen bereits mit gelben Bändern für den ohnehin spärlichen Verkehr gesperrt worden ist. Gelegentlich ein Lastwagen und das ein oder andere Sammeltaxi.

SAM_7683Doch noch fehlt die Lautsprecheranlage, eine improvisierte Bühne wird aufgebaut. Und so laden die Ehrenamtlichen die Kinder, von denen die jüngsten gerade laufen können, zunächst zum gemeinsamen Spielen ein. Am Anfang noch etwas improvisiert, doch nach einer Viertelstunde haben sich verschiedene nach Alter gestaffelte Gruppen gebildet, die Rundtänze machen, Singspiele, Katz und Maus, oder Plumpsack in unterschiedlichen Varianten.

Bisweilen schaut Federico Chipana, der Leiter des Kulturzentrums doch etwas besorgt, auf die immer neuen Kinder, die zum Platz kommen. Ob die Geschenke reichen, die er von Freunden und Bekannten organisiert hat? Zumeist Plastikpuppen oder Spiele made in China, die den bolivianischen Markt überschwemmt haben. Der Rahmen ist ähnlich wie bei den Festen, die Coca-Cola oder die Stadtverwaltung andernorts zu Weihnachten für Kinder organisieren. Doch hier ist alles von Einzelpersonen gestiftet, die zumeist selbst nicht unbedingt viel besitzen.

Ich erkundige mich bei dem Sozialarbeiter, was Weihnachten mit der Kultur der Aymara zu tun habe, die Kultur der Bauern, die vom Land in dieses Viertel zugewandert sind. Für Federico, selbst Aymara, ist das überhaupt keine Frage. Vielleicht habe es früher die Geschenke nicht an Weihnachten, sondern am Dreikönigsfest gegeben. Aber für die Jugendlichen des Kulturzentrum sei es vor allem eine Möglichkeit, ihren kleineren Geschwistern ihre Zuneigung zuteil werden zu lassen.

SAM_7695Was Weihnachten für ihn bedeute, frage ich einen Elfjährigen, der am Rande steht und nicht mitspielt. Weihnachten bedeute glücklich zu sein, antwortet Cristian. Denn an Weihnachten bekäme man Geschenke, und die Eltern würden Späße mit ihren Kindern machen. Ob man nicht das ganze Jahr über Spaß machen könne, frage ich nach. Spaß gäbe es nicht einfach so, erklärt Cristian. Da müsse man schon einen Grund dafür haben.

Als die Lautsprecheranlage endlich funktioniert und Chipana den Ton testet, sind die Kinder nicht mehr zu halten und laufen alle zur Bühne hin. Doch Geschenke gibt es immer noch nicht. Sondern Puppentheater mit dem Streit eines Hundes mit einem Fuchs, wem dieser schöne Platz gehöre. Wie es sich gehört, entscheiden sie sich am Ende, den Platz gemeinsam zu nutzen.

In Villa Paulina gibt es sonst wenig Streit um das Territorium. Vielmehr versuchen die meisten, sobald sie können, in ein besser ausgestattetes Viertel zu ziehen. Die Fluktuation der Bevölkerung ist hoch, der Zusammenhalt niedrig. Dem versucht das Kulturzentrum mit kulturellen und Bildungsangeboten für Kinder und Jugendliche entgegenzuwirken.

SAM_7699Nach dem Puppentheater tanzt eine Kindergruppe einen für La Paz typischen Karnevalstanz. Ein junger Afrobolivianer, der den Kindern aus einer TV-Show bekannt ist, tritt ebenso kostenlos auf wie eine Trommel- und Blasinstrumentengruppe.

Wie sie im Viertel sonst Weihnachten feiern, frage ich eine der Freiwilligen. Nichts Besonderes, sie verbrächten Weihnachten mit der Familie zuhause, oder führen irgendwohin, wo es schön sei: Ins Achocalla-Tal oder in die Innenstadt des nahen La Paz. Wohin ich mich dann auch auf den Weg mache, noch bevor es heißen Kakao und die lang erwarteten Geschenke gibt.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/latinorama/keinen-spass-ohne-anlass-weihnachten-in-villa-paulina/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert