vonPeter Strack 12.06.2014

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„Erst war ich erschrocken. Aber mir fiel ploetzlich ein:  Es geht doch um MEINE Rechte. Und dann wurde ich wuetend“, erzaehlt Rubén, erwerbstaetiger Jugendlicher aus dem bolivianischen Bergwerkszentrum Potosí vom Dezember. Damals wollte die Polizei die Delegierten der Union erwerbstaetiger Kinder und Jugendlicher Boliviens (UNATSBO) daran hindern, ihren Protest zum Parlament zu tragen. Dort wurde ein neues Kinder-  und Jugendgesetz verhandelt, das Kinderarbeit pauschal verbieten sollte (siehe damaliger latin@rama blog). Seitdem ist viel passiert. reunion con evo diario nuevo surEs gab mehrere Sitzungen mit Abgeordneten von Parlament und Senat, der Praesident sicherte ihnen seine Unterstuetzung zu. Dass alles dann laenger dauerte, als geplant, liegt daran, dass die Verfassungskommission des Senates und Ministerien sich intensiv an die Arbeit machten, um ein Gesetz zu bekommen, das nicht nur auf dem Papier steht (siehe Interview mit dem Senator Adolfo Mendoza in der Juniausgabe der ila).

Der 12. Juni ist der internationale Tag gegen die Ausbeutung von Kindern. Und wie es aussieht, steht Bolivien kurz vor der Verabschiedung einer neuen Ausrichtung seiner Gesetzgebung. In der sollen nicht die Verbote, sondern der Schutz von Kindern im Mittelpunkt stehen. In der vergangenen Woche stellten die Gesetzgeber den Kindern und Jugendlichen ihren neuen Entwurf vor. Eine Beschaeftigung soll ab dem 12. Lebensjahr, selbstaendige Arbeit ab dem 10. Lebensjahr regulaer moeglich sein. Immer dann,  wenn sie ohne Zwang ausgeuebt wird und von den staatlichen Kinderschutzschutzbueros bzw. der Arbeitsbehoerde kontrolliert und genehmigt ist. Auch die Liste verbotener Taetigkeiten wurde nach den Vorschlaegen der Kinder differenziert. So koennen  Kinder indianischer Tieflandgemeinden auch kuenftig ganz legal gemaess ihrer traditionellen Lebensweise Fische fangen.  Die Liste, sagt der Gesetzentwurf, soll kuenftig in regelmaessigen Abstaenden zusammen mit den organisierten Kindern ueberpueft werden. Parallel zu diesen Bestimmungen sind Sozialprogramme vorgesehen, damit Kinder nicht aus Geldnot zur Arbeit gezwungen sind. Etwa, um ihr Schulmaterial zu bezahlen.

Was den Kindern und Jugendlichen in der schriftlichen Fassung des Gesetzentwurfes  noch fehlt, ist die bereits in der Verfassung verankerte explizite Anerkennung der Arbeit im Familiaeren und Gemeinschaftlichen, zumeist geht es da um die kleinbaeuerlichen Dorfgemeinschaften.  Auch fordert die UNATSBO, dass in den Uebergangsbestimmungen noch ein Passus aufgenommen wird, dass die Schutzmechanismen auch fuer unter 10 jaehrige gelten, solange es noch Kinder in dieser Altersgruppe gibt, die Geld verdienen. Muendlich habe man ihnen das zugesagt, nur stehe es noch nicht im Text (siehe ihre Stellungnahme, uebersetzt von ProNats).  Deshalb baten sie erneut um ein Treffen mit dem Parlament und mit dem Praesidenten. Noch ist nicht klar, ob diesen Forderungen noch nachgekommen wird. Es gibt Bedenken bei einigen Abgeordneten, aber auch anderen Lobbyisten. Am 13. Juni wurde eine Meldung des Senators Mendoza publik, dass das Gesetz im Groben verabschiedet sei. Unklar ist, ob mit den geforderten Klaerungen oder ohne, oder ob diese noch diskutiert werden. Aber schon jetzt haben die arbeitende Kinder und Jugendlichen bewiesen, dass sie nicht nur zu Kompromissen faehig sind, sondern auf der Grundlage ihrer konkreten Lebenserfahrung die Vorstellungen und Vorschlaege der Erwachsenen konstruktiv verbessern koennen.

Unatsbo im SEnat

Fuer den WDR berichtet Elisabeth Weydt aus Potosí. Hier der Link zur Sendung

Und auf der Deutschen Welle eine Filmreportage von der Ortsgruppe der Kinderarbeiterorganisation in Cochabamba: Hier der Link

Fotonachweis: Sitzung mit dem Praesidenten (Diario Nuevo Sur), Kurz vor der Einigung?, UNATSBO nach der  Praesentation des Gesetzentwurfes im Senat (Foto: bolivianischer Senat), Beitragstitelbild: Die Organisation arbeitender Kinder in Cochabamba (AVE, Audiovisuales Educativos) 

 

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https://blogs.taz.de/latinorama/kinderarbeit-bolivien-vor-neuausrichtung/

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kommentare

  • Mein Vater hat als Kind in den 1950er in Deutschland gearbeitet. Das musste er. Vor und nach der Volksschule im Stall und auf dem Feld. Hat seinem Rücken langfristig geschadet. Ging nicht anders. Meine Großeltern waren Selbstversorger auf dem Land und wollten nicht in die Stadt ziehen. — Mich interessiert, wie die Menschheit in den vergangenenen Jahrhunderten im Mittel Kinderarbeit am besten hinter sich brachte. Gibt es ein bewährtes Rezept? Wodurch schafft ein Staat das systematisch? Forschungsstand? Hat die taz darüber schon zur Genüge veröffentlicht?

  • Ich ärgere mich noch, dass ich nicht auch einen Platz auf den hunderten von Sofas (mit Lampen!) im Stadion von 1. FC Union Berlin habe. Nun, wie hörte ich auf einem Buddhistischen Kongress in einer Kreuzberger Waldorf-Schule vor ein paar Jahren? „Verzicht führt zu mehr Zufriedenheit.“ Zeit zum Üben hätte ich jetzt …

    Krass, Sie posten aus Südamerika? Geil. Ich stehe fast nie in Kontakt mit jemand so weit Entferntem! Kontakt zu südamerikanischen Ahnen längst abgebrochen, Brieffreund aus einem Township in Süd-Afrika, längste Entfernung bisher, schrieb irgendwann in der Pubertät nicht mehr zurück.

    Danke für die Infos! Samstags in der Zeit bin ich im Haushalt dran, da komme ich nur durch sehr hoch Einsätze beim Aufgaben-Verhandeln raus wie gesamtes Weihnachten über Familien-Catering, extra Geburtstagsgeschenke usw. Da müsste der Workshop schon „Anleitung zur Kulturtechnik Tageszeitung“, „Erstellen eines Berliner Stadtplans zu Arbeitsausbeutung“, „Arbeitsprojekte für die Drogenverkäufer am Görlitzer Park“ oder so heißen. Das mit dem Haushalt mach ich besser – schlechte Erfahrungen.

    Die Unternehmen aus dem Pdf, kann ich erst später auf einem anderen PC ansehen, kommen bei mir bei Bezug zu meinen Einkäufen in eine Liste, in der auch Amazon, Wiesenhof, Naturland, C&A, H&M, Primark, Axel Springer und Edeka stehen. Da hätte ich sie dann doch, die Zufriedenheit durch Verzicht.

    Schönes Wochenende

  • Apropop Berlin: Am Freitag 27. Juni um 19:00 im FDCL Mehring ist eine Veranstaltung zum Thema, am Samstag, den 28.Juni von 13.30 bis 17:30 ein Workshop, bei dem ein halbstuendiger aktueller Dokumentarfilm ueber die organisierten arbeitenden Kinder in Potosi gezeigt und asnchliessenden die Moeglichkeitkeit besteht, sich mit den Kindern und Jugendlichen ueber Skype zu unterhalten.

    Und mehr Spass beim Public Viewing bei den naechsten Gelegenheiten! Die kleinen Strassenverkaeufer und Schuhputzer hier haben den auch. Erstere, weil sie da Fussball sehen und gleichzeitig ihre Waren verkaufen koennen, und die Schuhputzer zumindest in der Pause. Oder, wenn das Spiel zu langweilig wird, koennen sie zwischendrinn ein paar Schuhe blank wienern.
    Gestern Morgen fuhr sogar eine Buskolonne chilenischer Fans durch den ohnehin stockenden Morgenverkehr von Cochabamba auf dem Weg nach Brasilien.

  • @ Peter Strack: Dank für die Antwort!

    Die Grundproblematik bleibt. Zu vielen international weit entfernten Problematiken, über die die taz berichtet, brauche ich unbedingt eine(n) Bezug(shilfe). Sonst werden die leider kaum zu einem bewusst wahrgenommenen Teil meiner Umwelt. Einst konnte ich alle Länder Nord- und Südamerikas mit Hauptstädten aufzählen inklusive der Bundesstaaten der USA. Oberschul-Thema. Und heute? Käme ich vielleicht auf 40 Länder und Bundesstaaten insgesamt. Use it or lose it …

    Zur Kinderarbeit in Bolivien habe ich durch die Antwort von Ihnen jetzt aber einen Bezug. Die internationale Strategie einer aktiven Verbotspolitik von Regierungen und NGOs war mir nicht bewusst. Ich hätte eher angenommen, dass das Verbot von Kinderarbeit vor allem national vorangebracht wird.

    Als Leser und Nicht-Mitglied von Regierungen und NGOs könnte ich übrigens – kann ja sein, dass hier von den NGOs jemand mitliest – eine Liste im Web/einen Index gebrauchen, wo ich nachlesen kann, welche Unternehmen Kinder für sich arbeiten lassen. Im Geiste von global denken – lokal handeln, wie es Helmut Höge kürzlich in seinem Blog aufführte.

    Beim Verzehr von Schokolade kann ich mir zum Beispiel vorstellen, dass mir Produkte aus Kinderarbeit unterkommen, ohne dass ich es weiß. Entsprechend gekennzeichnete Schokolade ist rar in Supermarktregalen.

    Das Gleiche wäre mir beim Kauf von Kleidung nützlich. Eine Liste von unabhängig recherchierten Unternehmen, die ihre Kleidungsprodukte aktuell in Fabriken mit niedrigen Standards (und/oder Kinderarbeit) fertigen lassen. Zwischen all den Siegeln finde ich mich bei der Zeit, die ich für Kleidungskauf aufbringen will, schlecht zurecht.

    Dann bleibt es beim nächsten Hosenkauf nicht nur bei der für eine Mitarbeiterin eines Kleidungsladens lästigen Nachfrage nach dem Ursprungsort des Hosenstoffs und ihrer Antwort: „Wenn Sie Glück haben, steht das in den Bio-Hosen drin.“ Sondern ich käme schneller bei einer Hose an, in der ich mich wohlfühle. Die ohne Herkunftsangabe könnte ich mit ein paar ausgedruckten Fotos der eingestürzten Fabriken in Bangladesh anschließend an den Klamottenladen zurückschicken.

  • Hallo Herr Mueller,
    nicht jeder muss alles wissen, oder sich fuer alles interessieren. Zum Glueck gibt es viele Menschen, die sich Aufgaben und Engagement aufteilen koennen. Die strikte Verbotspolitik im Bezug auf Kinderarbeit folgt einer internationalen Strategie, an der Regierungen, Unternehmerverbaende und Gewerkschaften (auch aus Deutschland) ueber die Internationale Arbeitsorganisation beteiligt und mit verantwortlich sind. Das spiegeln auch die meisten Presserklaerungen und Artikel, die am 12. Juni zum Thema erschienen sind. Und dies findet seinen Niederschlag auch in der bolivianischen Politik. Von der daher scheint es mir durchaus interessant, wenn ein Land wie Bolivien zusammen mit den organisierten arbeitenden Kinder und trotz Unverstaendnis bei manchen wichtigen internationalen Akteuren, neue Wege zu gehen versucht, die der Erfuellung der Rechte der Kinder kuenftig hoffentlich besser dienen.

  • P.S. WM-Spiele außerhalb der Deutschland-Spiele auf der Fanmeile sehen ist doof. Die meisten Buden sind zu und die wenigen Bildschirme mit WM-Programm klein.

    Ich meine nicht, dass ich grundsätzlich mit weit entferntem Geschehen wenig anfangen kann. Sobald ich Zusammenhänge besser verstehe oder an Bekanntes anknüpfen kann, interessieren mich auch die staatlichen Sex-Förderungen in Japan (weil die Bevölkerung zu wenig Kinder bekommt und in digitale Welten abdriftet) oder die Entwicklung von Mikrokredite in Indien (für Bekannte von mir in Nord-Afrika sind die auch relevant). Kann ich wenig anknüpfen, fehlt mir Orientierung. Die taz berichtet ausnehmend viel über internationales Geschehen. Das geht über Allgemeinbildung hinaus und ich frage mich, ob ich das wissen muss oder ob die taz mit Bericht-Schwerpunkten zum Kongo oder eben Lateinamerika ohnehin als Zielgruppen ExpertInnen und spezialisierte Teil-Öffentlichkeiten anspricht.

  • Bolivien? Das ist sooo weit weg. Da komme ich prekär lebender Berlin niemals hin. Ich kenne niemanden aus Bolivien. Auch nicht bolivianisches Essen. Bitte, warum soll mich das interessieren?

    Ich post kurz Selbstkritik, vielleicht kann mir jemand helfen. Lese ich Berichte über Missstände in sehr weit entfernten Ländern wie hier Bolivien, tendiere ich mittlerweile dazu, sie nur eher zu überfliegen, als das Geschehen an mich rankommen zu lassen. Das betrifft viele der Berichte auf den ersten Seiten der taz jeden Tag.

    Ich bin ein Gegner von Hilfsorganisationen. Eigentlich alle haben bei mir den Hauch, das mehr oder weniger gespendetes Geld versickert, wo es nicht wie beworben hilft. Dauernd über Misstände lesen, ohne das Bewusstsein, etwas tun zu können? Da lese ich lieber über den neusten Berliner Aufmarsch vor Flüchtlingsheimen, wo ich gleich selbst eingreifen und gegen die Spinner (:-) ) vorgehen kann. Oder innerhalb Deutschlands, wo ich die Sprache und das Post-System kenne, Dinge selbst verschicken, wütende E-Mails und Anrufe machen kann.

    Was soll das für Mensch NormalleserIn, sich dauernd mit schrecklichen Geschehen zu beschäftigen, auf das mensch keinen Einfluss nehmen kann?! Teilweise kamen mir bereits perverse Gedanken in den Sinn, wie ich finde. Glotze ich doch auf die Katastrophen der Welt, um mich mehr anzuspornen, sodass ich mehr Geld verdiene, sodass ich mehr Hilfe leisten kann. Während ich auf meinem sicheren Schreibtischstuhl sitze, die Vorzüge einer genialen Stadt besser genießen lerne (Nachher WM-Fanmeile!!! Yeah, was für ein Party-Tag) und ein großenteils glückliches Leben führe.

    Was habe ich am Lesen der tageszeitung nicht verstanden?

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