vonPeter Strack 18.11.2020

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Am 20. November endet das 30-jährige Jubiläum der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Sie definiert die Rechte aller Kinder und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, weltweit. Etwa das Recht auf Meinungsäußerung, Information und Gehör (Artikel 13) oder das Recht auf Freizeit, Spiel und Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben (Artikel 31). In Zusammenarbeit mit Comundo/Interteam, der Kindernothilfe Deutschland und Solidar Suisse, setzt sich CEPROMIN für die Rechte von Kindern von Bergarbeitern in Potosí ein. Mit diesem Beitrag beendet Latinorama die Reihe zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Bolivien.

Von SIMONA BÖCKLER

Büro von CEPROMIN (credit: Simona Böckler)

CEPROMIN steht für „Centro de Promoción Minera”, ist also eine Einrichtung zur Förderung der Bergarbeiterbevölkerung. Das Büro liegt an den Füßen des Cerro Rico, dem „Reichen Berg“ von Potosí.

Die Arbeit von CEPROMIN findet rund um 2 Kinderzentren am Cerro statt: Robertito und Pailaviri. Diese befinden sich auf dem Berg in der Nähe der Minen. Gearbeitet wird mit den Kindern der „Mineros“ (Minenarbeiter) im Alter von 0 bis 18 Jahren. Hier bekommen sie eine warme Mahlzeit und werden in unterschiedlichen Aktivitäten nach der Schule eingebunden.

Kinderzentrum „Pailaviri“ (credit: Simona Böckler)
Der Baum der guten Werte in „Pailaviri“ (credit: Simona Böckler)

Aktuell laufen zwei Projekte, die die Kinder der „Mineros“ und ihre Familien unterstützen sollen. Das Projekt „Aprendiendo a crecer en comunidad” (Lernen in Gemeinschaft aufzuwachsen) wird von der Kindernothilfe Deutschland finanziert und verfolgt 4 Ziele: eine Erziehung für das Leben, Gewaltprävention, Verantwortung in der Gemeinschaft übernehmen und die Förderung eines guten Umgangs miteinander. Im Vordergrund steht die Bearbeitung von Themen, die keinen Raum im Schulunterricht finden. Die Kinder sollen hier Dinge „für´s Leben“ lernen, ihre Rechte und Pflichten kennen lernen und einen neuen Umgang miteinander pflegen.

Hiermit eng verbunden ist das Projekt „Buen trato dentro de las familias mineras“ (Guter Umgang innerhalb der Bergbaufamilien), das von Comundo/Interteam finanziert und unterstützt wird. Hier stehen die Familien der Kinder im Vordergrund, wobei die Arbeit primär mit den Müttern stattfindet. Das zentrale Anliegen des Projekts ist die Gewaltprävention in der Familie. Die Frauen sollen erfahren, welche Formen der Gewalt es gibt und wo und wie sie Hilfe bekommen können. Im Kontext dieses Projekts können Fälle von Gewalt identifiziert und an die zuständigen staatlichen Stellen weitergeleitet werden.

Schließlich arbeitet CEPROMIN mit dem Prinzip der Komitees. Hier nehmen alle Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 7 und 18 Jahre teil. Um die Durchführung kümmern sich direkt die Erzieherinnen, die auch in den Zentren tätig sind. In den Komitees werden an einem fixen Tag in der Woche ausgewählte Themen besprochen, die die Kinder selbst auswählen können.

  • Das Projekt “LanzArte”

„LanzArte“ ist ein Kunst- und Theaterprojekt, dass durch Comics, Videoblogs, Kurzfilme und Theater Informations- und Präventionsarbeit zu Gewalt in der Gemeinschaft leistet. Das Projekt ist ein Partnerprojekt von CEPROMIN und die TeilnehmerInnen von „LanzArte“ besuchen zum Teil auch die Zentren und sind in den Komitees. Die Gruppe besteht aus Jugendlichen im Alter von 14 bis 22 Jahren und konzentriert sich primär im Viertel „San Cristóbal“.

Der Cerro Rico (credit: Simona Böckler)

Sie arbeiten viel am Cerro aber führen ihre Stücke auch an Schulen auf. Ihr Vorhaben ist Präventionsarbeit durch Kunst zu leisten und zentrale Themen ihrer Arbeit sind Gewalt in Familien, sexualisierte Gewalt aber auch Machismus und Mikromachismus, als Wurzel der Gewalt.

Sandivel, Mitarbeiterin von CEPROMIN, erzählt, was die Idee hinter „LanzArte“ ist:

„Im Projekt erhalten die Jugendlichen eine alternative Ausbildung im Bereich des Theaters, Film und Comic. Damit bekommen sie neues Werkszeug an die Hand, um sich Themen wie Machismus und Gewalt zu nähern. Sie sollen in der Theaterarbeit bearbeiten und reflektieren, wie sie als Jugendliche Gewalt erleben und möglicherweise reproduzieren.“

  • Interview

Ich habe mich mit den Jugendlichen von LanzArte getroffen, um mehr über das Projekt zu erfahren. 12 SchülerInnen im Alter zwischen 16 und 18 Jahre haben über ihre Erfahrung im Projekt erzählt.

Gruppenfoto „LanzArte“ (credit: Simona Böckler)

Frage: Was hat euch motiviert, im Projekt „LanzArte“ mitzumachen?

Luis (fiktiver Name): Ich bin erst seit einem Jahr dabei. Das Projekt wurde bei uns in der Schule vorgestellt, ich war sofort begeistert und wollte mitmachen. Ein Theaterprojekt über Machismus und Gewalt, in dem wir unseren Blick schärfen können und unser Verhalten und das unserer Freunde und Familie reflektieren können… das hat mich neugierig gemacht. Ich finde es sehr sinnvoll, dass wir durch die Workshops Werkzeug an die Hand bekommen, um unsere Erfahrung und unser Wissen weiterzugeben. Hinzu kommt, dass Workshops und Aufführungen zum Teil in anderen Städten Boliviens stattfinden. Wir reisen also viel mit der Gruppe, lernen immer neue Menschen kennen, mit denen wir auf der gleichen Wellenlänge sind und verbringen viel schöne Zeit zusammen. Es ist alles sehr spannend!

Comics von „LanzArte“ (credit: Simona Böckler)

Frage: Wie entstehen die Theaterstücke, die Comics, die Kurzfilme? Woher kommt das Material für die Geschichten?

Daniel (fiktiver Name): Unsere Stücke zeigen die Lebensrealität am Cerro und Umgebung. Wir sammeln Anekdoten und Geschichten aus dem Alltag, die uns und unser Publikum interessieren und berühren. Vieles ergibt sich aus unserer persönlichen Erfahrung in der Schule, Zuhause oder bei Freunden und Verwandten. Wir sprechen auch viel mit den Leuten aus der Gegend, wir lassen uns ihre Geschichten, ihr Leid erzählen. Mit den einzelnen Bausteinen stellen wir das Stück zusammen und versuchen die Darstellung so realitätsnah wie möglich zu performen.

Frage: Findet ihr, dass Kunst und Theater ein gutes Medium sind, um Gewaltpräventionsarbeit zu machen? Inwiefern?

Elmer (fiktiver Name): Oft wird Präventionsarbeit über einen Flyer oder eine Power Point Präsentation gemacht. Viele ZuhörerInnen können dem nicht folgen und schalten schnell ab. Es sind nur Worte und Bilder auf einer Leinwand. Hingegen wenn wir ein Stück inszenieren, haben wir die volle Aufmerksamkeit der Zuschauer, denn Theater ist spannend und direkt. In unseren Aufführungen gibt es traurige, aber auch sehr lustige Szenen. Die Leute fühlen mit, sie sind ganz dabei und alle verstehen unsere Message. Eine Power Point ist trocken, ein Theaterstück hingegen ist lebendig. In der Erzählung kann alles passieren, man weiß nie wie es ausgeht. Deswegen bleiben die Zuschauer bis zum Ende sitzen und folgen uns aufmerksam. So erreicht unsere Message immer jede einzelne Person aus dem Publikum. Kurz: Wir konfrontieren sie mit schweren Themen in einer didaktischen Art und Weise.

Frage: Hat die Arbeit bei „LanzArte“ euer Leben irgendwie verändert? Beispielsweise euren Blick auf die Außenwelt oder euren Umgang mit Freunden und Familie?

Antony (fiktiver Name): Viele von uns aus der Gruppe haben in irgendeiner Form Gewalt erlebt und/oder ausgeübt. In unserem Alltag sind wir dauernd von Gewalt umgeben und sind uns dessen nicht mal bewusst. Zuhause, auf der Straße, in der Schule, überall. Wir haben das soweit internalisiert, dass es uns ganz normal erscheint.

Früher war ich sehr unfreundlich und schlecht zu meinen Mitmenschen. Ich habe oft Mädels beschimpft. Einfach so, weil ich es nicht anders kannte und mein Verhalten nie hinterfragt habe. Meine älteren Brüder haben sich auch so verhalten, und sogar meine Mutter hat nichts dazu gesagt.

Durch die Aktivitäten und Workshops habe ich viel über Gewalt gelernt: die Gewalt in unserer Gesellschaft wurzelt im Machismo und dieser manifestiert sich schon in kleinen Dingen im Alltag. Da wurde mir auf einmal klar, dass ich selbst ein richtiger Macho war. Hier habe ich gelernt, was gegenseitige Wertschätzung ist und Frauen als gleichwertige Wesen zu respektieren. Sogar meine Familie hat die Veränderung bemerkt. Sie erleben mich auch im Umgang Zuhause gewaltfreier.

Yoselin (fiktiver Name): Mir hat die Arbeit bei LanzArte sehr dabei geholfen, die Gewalt in meiner Familie zu erkennen. Mein Vater hat lange psychische Gewalt gegenüber meiner Mutter ausgeübt. Dank der Workshops habe ich erstmal überhaupt gelernt, dass es unterschiedliche Formen von Gewalt gibt, und nicht nur ein blaues Auge Ausdruck davon ist. Es gibt subtilere und somit unsichtbarere Formen von Gewalt. Weiterhin haben wir hier gelernt wie und wo man sich Hilfe holen kann. Ich habe also auch Werkzeug an die Hand bekommen, um mich und mein Umfeld schützen zu können.

LanzArte hat mein Leben grundsätzlich verändert, denn mit dem hier erworbenen Wissen konnte ich meine Wirklichkeit und die meiner Familie verändern. Und viel mehr: wir können mit unseren Auftritten die Lebensrealitäten unzähliger Menschen verändern. Wir können Gewalt bestimmt nicht komplett ausrotten, wir können aber dazu beitragen unser Wissen weiterzugeben, damit sie Formen von Gewalt in ihrer Umgebung erkennen und sich dagegen wehren können. Deswegen ist unsere Informations- und Präventionsarbeit so wichtig. Wir können im Kleinen unsere Umgebung etwas gewaltfreier gestalten und die Welt besser machen.

Frage: Glaubt ihr, dass eure Arbeit im Projekt, Freunden, Familie und Menschen aus eurer Umgebung sowie aus dem Publikum erreicht und eine Veränderung angestoßen hat?

Dennis (fiktiver Name): In meinem Freundeskreis außerhalb von LanzArte bin ich der einzige, der sich ausführlich mit dem Thema Gewalt und seine vielen Gesichtern befasst hat. Mit meinem Wissen konnte ich vielen meiner Freundinnen helfen, einen differenzierteren und kritischeren Blick auf ihre eigenen Liebesbeziehungen zu bekommen und sich somit besser gegen Machismus und Gewalt schützen zu können.

Ich habe leider oft erlebt, dass sich durch die Verliebtheit die Gewaltakzeptanz radikal verändert. Junge selbstsichere Frauen, geben auf einmal jeder Laune ihres Partners nach und fangen an, Gewalt zu akzeptieren. Sie werden immer stiller. Viele haben eine toxische Beziehung und glauben, dass das echte Liebe sei.

Viele meiner Freundinnen suchen mich auf und fragen nach meiner Meinung. Ich höre zu und kann ihnen dann erklären, was in ihrer Beziehung gerade vorgeht, dass sie eine Form von Gewalt erleiden, ohne dies zu wissen.

Die Arbeit hier in LanzArte ist also indirekt auch eine Unterstützung für meine Mitmenschen, insbesondere für meine Freundinnen.

Magaly (fiktiver Name): Nach jeder Vorstellung gibt es Raum für Fragen und Fallmeldungen. Viele Personen trauen sich nicht vor allen Zuschauern zu sprechen und wenden sich nach Ende der Veranstaltung an uns. Nach einer Vorstellung für die Eltern einer Schule, sind mehrere Mütter zu uns gekommen. Für sich oder die eigene Tochter, für eine Verwandte oder Freundin, … viele Frauen wollten Gewalt denunzieren und haben uns um Hilfe gebeten.

Diese Frauen konnten sich mit der Protagonistin des Stücks identifizieren und haben entschieden, sich zu wehren. Der wichtigste Schritt aus der Gewaltfalle heraus ist die Entscheidung, was zu ändern. Das Aufführen und somit das Teilen unserer Geschichten in Form eines Theaterstücks kann einen entscheidenden Anstoß für genau eine solchen Entscheidung sein. Wir können die Gewaltproblematiken anderer Menschen nicht lösen, wir können aber durch unsere Arbeit den Prozess anstoßen und sie somit dazu bewegen ihre Alltagsrealität zu verändern.

  • Links zu „LanzArte”

Facebook : LanzArte Potosí

Video Blog: „si pudieramos retroceder el tiempo“

Video Blog: „sobre VIOLENCIA“

 

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