vonPeter Strack 06.10.2020

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Es sei eine seltene Chance für einen Diplomaten, an einer lehrbuchgemäßen Lösung eines Konfliktes teilgenommen zu haben, sagte EU-Botschafter León de la Torre Krais zu seinem Abschied aus Bolivien im Interview mit der Tageszeitung Página Siete. Im Oktober und November 2019 hatte er neben Vertretern der Kirche und der Vereinten Nationen den Verhandlungsprozess begleitet, der nach Wahlbetrug, Aufstand und Ausreise des Präsidenten Evo Morales zur Übergangsregierung unter der evangelikal-konservativen Jeanine Añez geführt hatte. Doch wenn das Wissen der Lehrbücher ausreichen würde, gäbe es vermutlich weniger Konflikte auf der Welt. Und so befand sich auch Bolivien beim Abschied des spanischen Diplomaten im August wieder inmitten gewaltsamer Auseinandersetzungen.

Zunächst waren es steigende Infektionszahlen der COVID-19 Pandemie, die den obersten Wahlgerichtshof dazu gebracht hatten, die für den 3. Mai vorgesehenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zunächst auf den 17. Mai zu verschieben. Später nach Verhandlungen mit den wichtigsten Parteien kam es zu einer weiteren Verlegung auf den 6. September.

Doch während die Organisation der Kokabauern aus dem Chapare sofortige Wahlen und ein Ende der Quarantäne-Maßnahmen forderte, malte die Regierung ein Schreckenszenario von COVID-Infektionszahlen an die Wand, sollten die Wahlen im September stattfinden. Präsidentin Añez machte vorsorglich den Wahlgerichtshof und Evo Morales´ Partei MAS für mögliche COVID-Tote verantwortlich. In Berufung auf die Kompetenzen als unabhängiges Staatsorgan und nach ergebnislosen weiteren Verhandlungen verkündete der Präsident des Wahlgerichtshofes Salvador Romero schließlich die endgültige Verlegung der Wahlen auf den 18. Oktober.

Parteifähnchen allerorten

Es sei das letzte verfassungsmäßig zulässige Datum. Die Rechte aus Santa Cruz zürnte, der Termin sei viel zu früh und drohte mit Strafverfahren gegen den Wahlgerichtshof wegen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit. Die Präsidentin bezeichnete die Verlegung als arbiträr und forderte eine wissenschaftliche Fundierung, wohlwissend, dass ihr eigener wissenschaftlicher Beirat gerade für ein späteres Datum plädiert hatte. Und die Organisationen der MAS organisierten aus Protest gegen die erneute Verschiebung auf dem Höhepunkt der Pandemie wochenlange Blockaden der wichtigsten Überlandstraßen. Aber auch Straßensperren in ihren Hochburgen in einigen strategisch ausgewählten Vierteln von El Alto sowie im Süden der Stadt Cochabamba. Dort vorzugsweise an der städtischen Müllhalde.

Gewaltsame Proteste

Teil der Proteste waren auch Angriffe auf Fahrzeuge mit Ärzten und Krankenschwestern, waren die Entführung, körperliche Misshandlung und Fälle der psychologischen Folter von Andersdenkenden, die sich den Aktionen widersetzten. Zwar erklärte die Koordination der Blockierer offiziell, dass die dringend für die Intensivbehandlung von COVID-PatientInnen benötigten Sauerstoff-Flaschen passieren könnten und militärischer Begleitschutz eine Provokation sei. Doch in der Praxis wurden selbst vom Roten Kreuz begleitete Transporte immer wieder aufgehalten oder unterbunden. So musste die Regierung auf riskante Versorgungsflüge mit dem explosiven Stoff ausweichen. Die Blockaden waren jedenfalls ein gefundenes Fressen für die Minister, um von eigenen Versäumnissen und Korruption etwa bei der Beschaffung von Beatmungsgeräten abzulenken. 40 Tote wegen fehlendem Sauerstoffs, hieß es, gingen auf das Konto der Blockierer. Die forderten inzwischen neben dem Wahltermin vom 6. September auch den Rücktritt der Präsidentin. Und weil der September-Termin – auch dank der Blockaden – schon längst von der Wahlbehörde logistisch nicht mehr zu bewerkstelligen war, wurde am Ende nur noch eine Vorverlegung der Wahlen um eine Woche gefordert. Irgendein Ergebnis wollte man der eigenen Basis wenigstens präsentieren können.

Grenzen der Demonstrationsfreiheit

Die Regierung drohte mit Polizei- und Militäreinsätzen, was Proteste nicht nur der MAS, sondern auch die Kritik Evo Morales nahestehender Presse im Ausland wegen Beeinträchtigung der Demonstrationsfreiheit zu Folge hatte. Wenn es um Bolivien geht, scheinen inzwischen nicht nur die Straßenblockaden ein Teil des Rechtes auf Protest geworden zu sein, sondern auch die Sprengung von Felsen – mit Millionenschäden nicht nur für den Transportsektor – die Zerstörung öffentlicher Infrastruktur, die Behinderung der Arbeit des medizinischen Personals oder das Drohen mit Waffen. Selbst das bolivianische Ombudsbüro, dem in den letzten Jahren immer wieder vorgeworfen worden war, auf dem Auge der MAS blind zu sein, richtete während der Blockaden mahnende Worte an beide Seiten und schaffte es manchmal sogar, bei der Versorgung mit Sauerstoff-Flaschen erfolgreich zu vermitteln.

Kampfpause

Tatsächlich verzichtete die Regierung zumeist darauf, die Blockaden durch die Polizei auflösen zu lassen. Offiziell aufgrund von Geheimdienstinformationen, nach denen Blockierer bewaffnet seien und man Blutvergießen verhindern wolle. Doch je länger diese Proteste andauerten desto mehr sanken auch die Zustimmungsraten für den MAS- Präsidentschaftskandidaten Arce bei den Meinungsumfragen. Stattdessen begannen Gruppen wie die sog. „Resistencia Juvenil Cochala“ in aller Öffentlichkeit mit ihren Motorrädern und mit Ketten und Stöcken bewaffnet zu patrouillieren und damit zu drohen, das zu tun, was der Staat angeblich nicht zustande bringe. Die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Die Gruppe war im vergangenen November von Jugendlichen gegründet und von Unternehmern finanziert worden. Damals hatte sich die Polizei noch geweigert, Demonstrierende gegen Übergriffe der Anhänger der MAS Regierung zu schützen.

Motorradgang: Drohgebährden diesmal mit der Whipala, der indigenen Flagge, die eigentlich für Harmonie und Integration steht; Foto: Internet

Die Reaktion der Gegenseite ließ nicht lange auf sich warten und unterschied sich höchstens in der Art der Bewaffnung und den mitgeführten Flaggen. Bis schließlich auch von Evo Morales aus dem argentinischen Exil die Aufforderung kam, die Blockaden zu beenden.

Doch insbesondere die Aymara-Organisation der Region am Titikaka-See um den „Mallku“ Felipe Quispe, den früheren Konkurrenten von Morales, aber auch die Führung des Gewerkschaftsdachverbandes, denen die Basis schon zu Beginn der Streiks die Gefolgschaft verweigert hatte, wollten sich nicht so einfach zurück pfeiffen lassen.

Der Protest verselbständigt sich: Die Unzufriedenen fühlen sich nicht alle von der MAS vertreten, Foto: Página Siete

Und so dauerte es noch einige Tage, bis gesprengte Felsbrocken und Sandberge von den Straßen geräumt und diese wieder befahrbar gemacht werden konnten. Der Dachverband der MAS-treuen sozialen Organisationen verkündete, dank der Straßenblockaden würden die Wahlen am 18. Oktober nun tatsächlich stattfinden und nicht auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Und solange würde der Kampf ruhen.

Die Epidemie überschreitet den Höhepunkt

Gewiss war der Wahltermin nicht primär eine epidemiologische Frage. Mit über 2000 täglich neu diagnostizierten Fällen hatte die Epidemie am 18. Juli den Höhepunkt erreicht und bewegte sich etwa einen Monat lang um die 1500 täglichen Neudiagnosen. Dies trotz der massiven Protestaktionen und der Lockerung oder immer geringeren Befolgung der Quarantäne-Bestimmungen. Nach einem erneuten Höhepunkt von über 2000 am 19. August begann die Kurve kontinuierlich auf zuletzt gut 300 neue Fälle pro Tag zu sinken. Es ist jedoch fraglich, ob am 18. Oktober die Zahl von 185 Neuinfektionen pro Tag erreicht oder gar unterschritten wird, die am ursprünglichen Wahltermin Anfang Mai gemessen wurde. Dann gäbe es jetzt bereits eine gewählte Regierung. Allerdings hätte die vermutlich notwendige Stichwahl dann tatsächlich in einer Phase starken Anstiegs der Infektionszahlen stattgefunden und diesen beschleunigt. Inzwischen ist das Gesundheitswesen auch besser vorbereitet, sind die Menschen routinierter in der Vorbeugung.

Die Regierung versucht Zeit zu gewinnen

Dafür wollte die Übergangspräsidentin, die sich auch zur Präsidentschaftskandidatin hatte küren lassen, ebenso Zeit gewinnen, wie für Gerichtsprozesse gegen Mitglieder der Vorgängerregierung, oder für die Genehmigung gentechnisch veränderten Saatgutes und die Bekämpfung der Drogenmafia. Vorzugsweise in der Chapare-Region, wo der Mafia nicht nur von der Regierung, sondern auch von investigativen JournalistInnen wie Wilson Garcia Merida oder Amalia Pando enge Verbindungen zur MAS nachgesagt werden. Doch wer da wen benutzt, wer wessen Interessen dient, ist durchaus eine offene Frage. Die diversen und untereinander konkurrierenden Mafiagruppen, ob FARC-Dissidenz, ob im Auftrag der Hisbollah, der italienischen Mafia, brasilianischer Banden oder lokaler Eliten, sind jedenfalls am allerwenigsten an rechtsstaalichen Verhältnissen interessiert. In Zeiten des Konfliktes können sie besser im Trüben fischen. Mehrmals hatte der Innenminister Arturo Murillo während der Blockaden größere Geldsummen, aber auch Munition und Waffen präsentiert, die die Polizei bei Straßenkontrollen konfisziert habe.

Añez´ Kalkül geht nicht auf

Doch die gewonnene Zeit spielte der Übergangsregierung nicht in die Karten. Im Gegenteil: Immer mehr Korruptionsfälle wurden bekannt. So bei der Neubeschaffung von Tränengaspatronen, dessen Bestände bis zum Rücktritt von Morales in den wochenlangen Konflikten aufgebraucht worden waren. Die Übergangsregierung habe weniger gezahlt, als die MAS-Regierung, die den Kaufprozess eingeleitet hatte, veranschlagt hatte, behauptete der Innenminister Murillo. Aber deutlich mehr als der übliche Marktpreis und unter Umgehung der gesetzlichen Vorschriften, so eine interfraktionelle Parlamentskommission, die die Vorwürfe untersucht hat. Auffällig bei all dem auch, dass bei verschiedenen Fällen Namen und Firmen auftauchen, die schon unter der MAS-Regierung mit Korruption in Verbindung gebracht worden waren.

Auch vom mehrheitlich von der MAS kontrollierten Parlament geriet die Übergangsregierung mit zahlreichen Gesetzesprojekten unter Druck: So der rechtlich auf wackeligen Füßen stehenden staatlich angeordneten Stundung von Zinsen bei den Banken oder der Kürzung der sonst ebenfalls privatrechtlich geregelten Mietzahlungen. Und als die Regierung eine weitere allgemeine Bonuszahlung ankündigte, um Geld in die Kassen der privaten Haushalte zu bringen, verdoppelte die MAS die vorgesehene Summe, verweigerte aber gleichzeitig die Genehmigung für die dafür nötigen Kredite. Bolivien, dessen Auslandsschuld schon in den letzten Regierungsjahren von Morales stark angestiegen war, könne keine weiteren Kredite verkraften, wurde argumentiert.

Bei all dem spielt auch eine Rolle, dass Añez mit den Krediten keineswegs nur Bonuszahlungen an die Familien, die COVID-bedingt gestiegenen Kosten der Krankenhäuser oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanzieren wollte. Sondern unter dem Motto der Wiederbelebung der Wirtschaft waren auch Subventionen für die Agroindustrie im Tiefland vorgesehen, die sich nach der gescheiterten Wiederwahl von Evo Morales MAS abgewendet hatte.

Lawfare statt politische Lösungen

Auch mit den zahlreichen Anklagen von MAS-AnhängerInnen vor Gericht wegen Korruption oder angeblicher Beteiligung an einem Aufstand, wegen den Aufrufen zu den Blockaden oder Wahlfälschung, scheint es kaum voran zu gehen. Die Staatsanwaltschaft verweist auf die Quarantäne, die die Arbeit lange Zeit auf Eis gelegt habe. Auch das Strafverfahren wegen Korruption beim Kauf von Beatmungsgeräten, ist nach anfangs schnellem Start inzwischen ins Stocken geraten. Eine MAS-Kandidatin, der die Beteiligung an der Erschießung von Protestlern während der Streiks gegen Morales nach den Oktoberwahlen vorgeworfen wird, ist inzwischen aus der Untersuchungshaft in den Hausarrest entlassen worden. Die COVID-Pause der Gerichte sei kein Grund, die rechtlich festgelegte Höchstdauer für Untersuchungshaft auszudehnen. Marco Amarayo dagegen wurde die Entlassung aus der Untersuchungshaft verweigert, obwohl die Regierung – wie er selbst betont – wisse, dass er unschuldig sei. Vor über fünf Jahren hatte er als neu ernannter Direktor des Fonds für indigene und Kleinbauerngemeinden FONDIOC die Zweckentfremdung der Mittel für parteipolitische Zwecke der damaligen Regierungspartei angezeigt. Dafür wurde er dann selbst mit Gerichtsprozessen überzogen. Fünf Jahre sitzt er nun in Untersuchungshaft.

Damals mitverantwortlich für die unrechtmäßige Auszahlung von Fondsgeldern an Privatpersonen war der aktuelle Kandidat der MAS für das Präsidentenamt. Noch brisanter ist jedoch eine Anzeige gegen Luis Arce Catacora wegen Verstoßes gegen das Wahlgesetz. Es geht um die Veröffentlichung der Ergebnisse nicht von der Wahlbehörde autorisierter interner Wahlumfragen. In einem ähnlichen Fall hatte die MAS-Regierung bei den letzten Regionalwahlen im Beni die Kandidatur der gesamten Liste von Ernesto Suarez „Democratas“ gerichtlich verbieten lassen. Suarez lag damals so wie Arce heute in der Wählergunst vorne. Nun hat der nationale Wahlgerichtshof das Thema dem Verfassungsgericht zur Klärung vorgelegt. Und deren Mitglieder sind wie die meisten hohen Ämter bei Staatsanwaltschaft und Gerichten noch von der Vorgängerregierung der MAS ernannt worden. Das Verfassungsgericht hat nun informiert, erst nach den Wahlen darüber zu entscheiden.

Die Fälle seien nicht vergleichbar, argumentiert Marienela Paco, Pressesprecherin und ehemalige Informationsministerin der MAS. Der Wahlkampfchef von Suarez habe die Ergebnisse damals mit allen technischen Umfragedaten auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben. Arce dagegen habe sie nur in einem Interview erwähnt. Der Verbotsantrag sei ein Akt der Verzweiflung angesichts seines bevorstehenden Wahlsiegs, kommentierte Arce.

Die besondere bolivianische Wahlarithmetik

Tatsächlich liegt die MAS bei allen Wahlumfragen mit um die 30% der Stimmen deutlich vor der Konkurrenz. Und das bolivianische Wahlgesetz begünstigt die stärkste Partei. Das kann bei einem hohen Anteil von ungültigen oder leeren Stimmzetteln dazu führen, dass der MAS-Kandidat mit nur einem Drittel der Stimmen im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt wird, und seine Partei im Parlament sogar eine Mehrheit erhält. Mit 40% der gültigen Stimmen und einem Abstand von 10% zum nächstfolgenden Kandidaten (die einzige Kandidatin liegt chancenlos an der letzten Stelle), würde es keine Stichwahl um die Präsidentschaft geben. Aber so wie es fragwürdig ist, eine Partei, die ein Drittel der Bevölkerung hinter sich weiß, wegen geringfügiger Verletzung der ohnehin fragwürdigen Wahlbestimmungen von dieser auszuschließen, so ist auch zu fragen, ob es tatsächlich der politischen Stabilität dient, wenn ein Präsident gegen den Wunsch einer satten Mehrheit der Bevölkerung ins Amt gehoben wird.

Die Übergangspräsidentin zieht ihre Kandidatur zurück

Diese Möglichkeit, aber auch die zunehmende Kritik der Öffentlichkeit an der Amtsführung insbesondere des Innenministers und interne Konflikte im Kabinett, waren Gründe, warum die bei den Umfragen an dritter Stelle liegende Übergangspräsidentin ihre Kandidatur jüngst zurückgezogen hat. Und mit ihr alle Kandidatinnen und Kandidaten ihres Wahlbündnisses. Tatsächlich wanderte zwar ein Teil ihrer Stimmen zum rechtskatholischen Fernando Camacho, der aus dem Spektrum der Unternehmer der Tieflandregion Santa Cruz kommt und angesichts der Parteiverdrossenheit in der Bevölkerung damit kokettiert, kein Politiker zu sein. Doch auch der politisch zwischen Camachos „Creemos“-Bündnis und der MAS anzusiedelnde sozialliberale ex-Präsident Carlos Mesa konnte zulegen. So wurde der Abstand zu Arce – folgt man den veröffentlichten Umfragen – deutlich verringert, was eine Stichwahl erfordern würde.

Wahlwerbung mit frisch gestrichener Fassade im Barrio Kami von Quillacollo

Und die würde Mesa, der über keine eigene breite Parteibasis verfügt, sondern sich vor allem auf ein Netzwerk von AktivistInnen und Intelektuellen aus der Mittelschicht stützt, laut der gleichen Umfragen mit deutlichem Abstand gewinnen.

Selbstkritik der MAS-Kandidaten

Deshalb wirbt der nicht besonders beliebte Mesa für ein strategisches Stimmverhalten („voto útil“), für sich als einzigen aussichtsreichen Kandidaten, der die Rückkehr von Evo Morales an die Macht verhindern könne. Und während dieser trotz einer ganzen Reihe schwebender Verfahren gegen ihn meint, die eigene Wählerschaft mit der Ankündigung mobilisieren zu können, bei einem Wahlsieg der MAS, am nächsten Tag aus seinem argentinischen Exil zurückzukommen, betont sein Kandidat Luis Arce, nicht Morales stünde zur Wahl, sondern er. Und bei aller berechtigter Kritik etwa an der mangelnden Gewaltenteilung unter der Morales-Regierung, der Instrumentalisierung der Justiz und dem Erzwingen einer erneuten Kandidatur: Er sei damals nur Wirtschaftsminister und an den politischen Entscheidungen nicht beteiligt gewesen. Er könne jedoch für die Zukunft ausschließen, das irgendeiner der früheren Minister von Evo Morales in die Regierung zurückkehren würde.
Ein kleiner Widerspruch, denn nicht nur er selbst, auch sein Vizepräsidentschaftskandidat David Choquehuanca waren über mehr als ein Jahrzehnt aktiv in Morales Kabinett. Der Aymara-Intellektuelle betont, man habe aus den Fehlern gelernt und beschwört eine Regierung der nationalen Versöhnung und des Dialogs. Er selbst war von den Basisorganisationen der Aymara als Präsidentschaftskandidat vorgeschlagen worden. Evo Morales jedoch hatte den Wirtschaftsexperten Arce durchgesetzt. Und auch bei der Besetzung der Kandidatenlisten der MAS hatten eher diejenigen das Nachsehen, die in den schwierigen Monaten der Konflikte mit ihrer Dialogbereitschaft ein noch größeres Blutvergießen zu verhindern geholfen hatten. Auch ist noch die Erinnerung nicht ganz verblasst, wie Choquehuanca, der Vertreter des Konzepts des Buen Vivir, des harmonischen Zusammenlebens von Mensch und Natur, von den Ministerkollegen vor Jahren ausgebootet und von Evo Morales auf einen Botschafterposten abgeschoben wurde.

Mit Ressentiments Stimmen fangen

Man habe ihn gefragt, schreibt der Journalist Andrés Gomez, warum immer noch ein Drittel der Bevölkerung hinter der MAS stehe.

Vor allem auf em Land ist die Unterstützung und Affinität zum MAS noch groß; Wahlkampfveranstaltung in Sica Sica im Altiplano

Als Antwort stellt er eine Gegenfrage: Warum es immer noch  bolivianische Politiker gebe, die glaubten, mit diskriminierenden Sprüchen oder Aktionen gegen die indigene Bevölkerung Wahlen gewinnen zu können. Es ist das Dilemma der alles andere als einigen Opposition und auch der Proteste gegen den Wahlbetrug Ende des letzten Jahres. Denn diese haben auch rechtsradikale Gruppen und rassistische Ressentiments wieder an die Oberfläche gespült. Auch wenn ihre Protagonisten in Bevölkerung wie in den Amtstuben nur eine Minderheit repräsentieren mögen: Das Projekt des sozialen und kulturellen Wandels zu einem plurinationalen, inklusiven Staat, das zwar insbesondere in den ersten Regierungsjahren der MAS vorangekommen war, hat sich noch keineswegs erledigt. Doch dafür müssen die durch Kooptierung und Spaltung geschwächten indigenen Organisationen sich erst wieder neu aufstellen. Und ob es die MAS sein kann, die das eigene ursprüngliche Projekt wieder aufnimmt, oder andere Parteien als Transmissionsriemen in den Staatsapparat werden dienen müssen, wird sich zeigen.

Wahlkampf mit Schreckensbildern

Bis dahin ist es aber noch ein gutes Stück Weg. Zwar gibt es anders als im vergangenen Jahr in den Massenmedien ein große Anzahl von Diskussionsveranstaltungen oder Interviews mit den Kandidatinnen und Kandidaten aller Parteien. Und selbst wenn die politischen Programme nur holzschnittartig und mit stereotpyen  Schreckensbildern präsentiert werden und die Portale, die sich um Aufklärung von Fake News und irreführenden Aussagen bemühen, alle Hände voll zu tun haben, wird zumindest darüber geredet. Das Staatsfernsehen hat sich zwar wieder von einem pluraleren Medium, als am Jahresanfang auch MAS-Vertreter regelmäßig ins Studio geladen wurden, zu einem Sprachrohr der Regierung zurückentwickelt. Doch seitdem Jeanine Añez ihre Kandidatur zurückgezogen hat, ist dies zu verkraften. Zumal die privaten Medien dieses Defizit zumindest teilweise kompensieren.

Andererseits hat das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen in den letzten Wochen allein 30 gewaltsame Übergriffe gegen politische Opponenten im Wahlkampf registriert. Gab es in 2019 nur rote Zonen wie die Kokabauernregion im Chapare, in denen die Opposition keinen Wahlkampf führen konnte, trifft es heute auch die MAS. Doch deren Anhänger gehen gleichwohl selbst gewalttätig vor. Vor  allem gegen Carlos Mesas Comunidad Ciudadana. Auch die Ankündigung einiger Kandidaten der MAS, dass der Sieg im ersten Wahlgang sicher sei und falls die Ergebnisse anders ausfielen dazu aufforderten,  auf der Straße gegen den Wahlbetrug vorzugehen, lässt erneut Konflikte erwarten. Die Bereinigung der Wahlregister von zigtausenden Toten, die im letzten Jahr angeblich noch abgestimmt hatten, ist jedoch eine deutliche Verbesserung.

Zwischen allen Stühlen: Wahlgerichtspräsident Salvador Romero, Foto: ABI

Und dass der Wahlgerichtspräsident Salvador Romero von vielen Seiten heftig kritisiert wird, ist auch eher ein Indiz dafür, dass der mit der Mehrheit der Parlamentierer der MAS, aber auch der anderen Parteien gewählte Wahlgerichtshof diesmal unabhängiger agiert als die Verantwortlichen im vergangenen Jahr. Zumal sich zahlreiche Wahlbeobachtungsdelegationen angekündigt haben.

Der anfangs erwähnte frühere EU-Botschafter León de la Torre Krais, sagt jedenfalls voraus, dass das Kräfteverhältnis im Parlament nach den Wahlen  ausgewogener sei. Es ist abzuwarten, ob dies eher zu Unregierbarkeit, oder doch zur Abschwächung autoritärer Versuchungen und Stärkung von Verhandlungslösungen führt. Gewiss aber ist es ein Jahr nach den gescheiterten Wahlen und immer wiederkehrender politischer Krisen, sowie angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen höchste Zeit für eine Klärung der Kräfteverhältnisse an den Urnen.

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