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vonGerhard Dilger 03.05.2024

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Auf der „Rangliste der Pressefreiheit“ von Reporter ohne Grenzen ist Argentinien von Platz 40 auf 66 abgestürzt – ein Verdienst von Staatschef Javier Milei.

Jorge Lanata ist das wohl bekannteste Gesicht des argentinischen Journalismus. Der 63 Jahre alte Autor ist wegen seiner Recherchen und Polemiken immer wieder ein Ärgernis für Staatschefs, neoliberale wie progressive. Doch keiner ging ihn so an wie Javier Milei, der das südamerikanische Land seit fast fünf Monaten regiert.

Neulich kritisierte der Starjournalist, vollbärtig, korpulent und oft schrill gekleidet, dass der israelische Botschafter an einer Kabinettssitzung teilgenommen hatte. Daraufhin deutete der ultralibertäre Präsident auf der Plattform X an, Lanata habe dafür einen Umschlag mit Schmiergeld erhalten. Der wiederum reagierte mit einer Strafanzeige.

Lanata warb in den Radio- und Fernsehredaktionen von Buenos Aires um Solidarität. Bei seinen Kolleg:innen, die der ständigen Pöbeleien des Präsidenten gegen seine Kritiker müde sind, stieß er auf großes Verständnis.

„Die schlimmste Kloake der Welt“ seien die Medien seines Landes, hatte Milei zuvor einem US-Interviewer erklärt. „Sie haben sich in mein Privatleben eingemischt, sie haben gelogen, mich verleumdet, auf meiner Schwester, auf meinen Eltern, ja auf meinen Hunden herumgehackt.“ Auf X klagte er: „Durch die Umschläge und die Regierungsanzeigen hat sich Journalismus korrumpiert, verdreckt, prostituiert.“

Über 20 Journalistinnen und Journalisten hat Milei namentlich beschimpft, verleumdet, beleidigt – meistens auf den sozialen Netzwerken, wo jede seiner Einlassungen exponentiell vervielfacht wird. Über X, Instagram oder Tiktok werden auch in Argentinien mit allen Mitteln rechtsextreme Narrative verbreitet. Liberale oder Linke kommen dagegen nicht an.

Milei selbst hält sich oft stundenlang auf X auf, um entsprechende Posts zu liken oder weiterzuleiten. Er sei ein „digitaler Heckenschütze“, analysiert der Autor José Benegas. „Er hat eine schmutzige Form der Politik eingeführt, die wir vorher nicht kannten.“ Ziel sind Andersdenkende in allen Bereichen – mit Erfolg: Vor kurzem nahm das US-Magazin Time den exzentrischen Rechtsausleger sogar in seine Liste der 100 einflussreichsten Personen der Welt auf.

„Mileis Angriffe können schnell zu Selbstzensur führen, gerade bei jüngeren Kollegen“, sagt die freie Journalistin Silvina Márquez. Dem Leitartikler, Moderator und Medienunternehmer Jorge Fontevecchia, der eine „neue Inquisition“ beklagte, warf Milei vor, er wollte zu seinem Sturz beitragen, „damit er wieder von Staatsknete leben kann“. Der von Fontevecchia geleiteten Perfil-Verlagsgruppe wünschte der Präsident den Bankrott – worauf der Verleger ebenfalls vor Gericht zog.

Als Milei zu Beginn zu seiner kometenhaften Politikerkarriere 2021 fünf Journalisten eines privaten Fernsehsenders anging, die ihm Nazi-Rhetorik vorwarfen, jubelte er: „Wir sind dabei, die kulturelle Schlacht gegen die Scheiß-Linken zu gewinnen“. Heute sagt Lanata, Milei habe bis heute nicht verstanden, dass er als Präsident anders agieren müsse als früher, als er in TV-Shows herumpöbelte und dadurch bekannt wurde.

Erstaunlich sei es, dass keiner der attackierten Schreiber der peronistischen Opposition nahestehe, findet Alejandro Rebossio vom unabhängigen Internetportal elDiarioAR : „Nun hat der Präsident das Kunststück fertiggebracht, moderate Rechte und Peronisten über das Thema Meinungsfreiheit zusammenzubringen.“

Im März kündigte Milei die Schließung der 1945 gegründeten öffentlichen Nachrichtenagentur Télam an, die größte Lateinamerikas. 700 Mitarbeiter:innen sollen entlassen werden. Dies ist ein Schlag gegen die Pressevielfalt – ebenso wie die wahrscheinliche Privatisierung des öffentlichen Rundfunks und Fernsehens.

Jorge Lanata findet, derzeit könne man den „normalen“ Milei erleben. Richtig schlimm könne es allerdings werden, sollte dessen radikale Sparpolitik auf Kosten von Rentner:innen, Armen und immer größeren Teilen der Mittelschicht endgültig scheitern: „Wie wird der schlecht gelaunte Milei sein?“

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kommentare

  • Was Gerhard Dilger hier zu Mileis Umgang mit den Medien und einzelnen Journalisten zusammengetragen hat, stimmt alles, ist aber nicht neu in Argentinien. Bei der Ex-Präsidentin Cristina Kirchner z.B. gab es vielleicht quantitativ weniger solche Attacken, dafür wirkte jede einzelne irgendwie nachhaltig giftiger. So ist es jedenfalls bei mir hängengeblieben, und so habe ich als Journalist damals ihre Attacken empfunden, obwohl sie mich selbst trotz meiner damals tief empfundenen Befürchtungen nie trafen. Die Gnade der Irrelevanz, vermutlich.
    Im Übrigen gilt auch für solche Aufreger in den Medien: Wenn sie inflationär auftreten wie bei Milei, mindert das zumindest gefühlt ihren „realen Wert“. Zum „Nennwert“ sind sie allesamt und jede einzelne erschreckend und empörend, aber in dieser Flut werden sie fast schon gewöhnlich und langweilig. Wie ernst man Mileis Ausfälle nehmen muss oder sollte, ist mir noch nicht ganz klar. Wirksamer zur Einschüchterung der Medien, als die Beschimpfungen und Beleidigungen, sind womöglich Massnahmen wie die Streichung der staatlichen Werbung und die Quasi-Schließung der Agentur Telam.
    Eine besonders miese Art pflegt übrigens auch Mileis Regierungssprecher Manuel Adorni. Dieser attackiert in seinen täglichen Pressekonferenzen Journalisten und politische Gegner zwar nicht so krass und platt wie sein Chef, dafür aber um so gemeiner und zynischer, mitunter schimmert gar Sadismus durch. Einen kleinen Ausgleichsvorteil bringt das aber auch den betroffenen Medienvertretern. Manch einer der regelmäßig anwesenden Journalisten von drittrangigen Medien dürfte durch die vormittäglichen Streitereien mit Adorni überhaupt erst einem größeren Publikum bekannt geworden sein.
    Am Ende des Beitrags kommt der streitbare und mitunter umstrittene Starjournalist Jorge Lanata zu Wort. Er findet, derzeit könne man den “normalen” Milei erleben. Richtig schlimm könne es allerdings werden, sollte dessen radikale Sparpolitik auf Kosten von Rentner:innen, Armen und immer größeren Teilen der Mittelschicht endgültig scheitern: “Wie wird der schlecht gelaunte Milei sein?”
    Das mag eine interessante Frage sein. Noch interessanter finde ich aber die Vorstellung, wie alle die Beschimpften und Beleidigten in Kreisen von Politik, Wirtschaft und Medien mit Milei umgehen werden, wenn dessen Populäritäts-Stern dereinst erlöschen sollte. Was immer noch mehr als wahrscheinlich ist mittelfristig.
    Journalisten vom Stile Lanatas sind übrigens auch nicht zimperlich. Medienleute wie er haben in ihren Infotainment-Kanälen in Argentinien seit Jahrzehnten erfolgreich Narrative installiert, die etliche Politikerkarrieren erheblich beschädigt und wahrscheinlich auch manche Wahlen entschieden haben.

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