Mit gerade einmal gut 1000 Einwohner*innen macht das bolivianische Huachacalla nahe der chilenischen Grenze gewöhnlich nur wegen Auseinandersetzungen des Zolls mit Schmugglern auf sich aufmerksam. Am 30. November vergangenen Jahres brannte man einen Unterstand der Polizei ab. Die hatte es gewagt, ein Schmuggelfahrzeug bis ins Dorf zu verfolgen. Am 14. Dezember wurde dann Militärpersonal aus einem ähnlichen Grund mit Steinen angegriffen. Zuletzt wurden in dem Ort auf der kahlen Hochebene am 1. Juni sechs Lastwagen mit Schmuggelware konfisziert: Kleidung, Fahrzeuge und Alkohol. Bei letzterem ist sogar möglich, dass er in Huachacalla bleiben sollte. Denn prompt gab es erneut Ärger. Eine Strafanzeige steht im Raum. Und bei der geht es auch um „Modern Talking“, bzw. eine Cover-Band, die in den vergangenen Jahren auch immer wieder in Bolivien unter dem Namen der bekannten Berliner Disko-Pop-Titanen aufgetreten ist.
Das Double aus Deutschland war eine von 11 Gruppen, die zum Patronatsfest von Huachacalla zu Ehren des Heiligen San Antonius von Padua vier Tage lang zum Tanz aufspielten. Dies vor Hunderten traditionell mit Bowler-Hüten und den vielen bunten übereinander geworfenen Röcken bekleideten Frauen und ihre Begleiter. Dabei hatte der Bürgermeister wegen der anwachsenden dritten Welle der Corona-Pandemie nur das Lesen einer Messe zu Fronleichnam genehmigt. Aber wie hatte der Innenminister Castillo bemerkt, als er das Eingreifen der Polizei bei der Verfolgung von Verstößen gegen Corona-Schutzmaßnahmen untersagte: Es solle nichts getan werden, was dem wirtschaftlichen Aufschwung schaden könne. (Zur Problematik des Schmuggels, Drogen- und Menschenhandels in den Grenzregionen und seinem Beitrag zur Entstehung einer neuen Mittelschicht in Bolivien siehe die Rezension Studie Blanes in der ila-Zeitschrift. ).
Imagewerbung aus Europa für die neue Mittelschicht
Nun ist ein Kirchfest für die wirtschaftliche Wiederbelebung vielleicht nicht so relevant. Und die Imitatoren von Modern Talking gehören auch nicht zu den Millionen Menschen aus dem informellen Sektor, die in Bolivien immer noch von der Hand in den Mund leben und unter COVID-Einschränkungen besonders leiden. Vielleicht teilen sie das Los der bolivianischen Musiker*innen, die wegen dem allgemeinen Verbot von öffentlichen Konzerten derzeit kaum Einnahmen haben (siehe das Interview mit Marisol Diaz von Aymuray in der ila).
Obwohl generell und auch im Falle Huachacalla ganz gewiss nichts gegen den internationalen Austausch zu sagen ist. Und dann auch noch ohne jegliche staatlichen Mittel der Kulturförderung. Und wer weiß, wann die Blechbläser der Banda Poopó, die auch nach Huachacalla geladen waren, oder bolivianische Nachahmer aus Deutschland, unter diesem Namen in Berlin auftreten. Schon 1991 war die originale Banda Poopó aus Anlass des 500jährigen Jubiläums der Eroberung Südamerikas in Europa.
Meine Kollegin meint allerdings, es gehe bei Modern Talking weniger um die Musik als um das Image. Doch die Videoaufnahmen, die im Internet auftauchten und dadurch den Skandal bekannt machten, können durchaus auch als Beweis für die Grenzenlosigkeit der Musik dienen. Es ist das Sympathische an vielen bolivianischen Festen im populären Milieu, wie Alt und Jung sich nacheinander zu ziemlich allen Musikstilen bewegen und daran Freude haben. Von traditioneller indigener Musik, über den Walzer bis zum Reggaeton…
Das Timing der Auftritte könnte besser werden
Nur das Timing der Auftritte könnte besser sein: 70 diagnostizierte Fälle von COVID hat es bislang in Huachacalla während der Pandemie gegeben. Das klingt erst einmal wenig. Doch kalkuliert man die Dunkelziffer, ist mit circa 350 Fällen COVID auch an Huachacalla nicht spurlos vorübergegangen. Und sie sind nicht die einzigen, die die Schutzmaßnahmen ignorieren. Die Militärführung feiert den Geburtstag ihres Chefs ohne Mundschutz, der Sohn des Bürgermeisters von Cochabamba mag nicht mit seiner Hochzeit auf bessere Zeiten warten. Tausende tanzen ohne Mundschutz beim Jubiläum einer Organisation der Bus- und Taxifahrer im Chapare. Und auch bei Evo Morales mit einer Massenveranstaltung von Zehntausenden Gefolgsleuten in Cochabamba scheint die Erinnerung an seine eigene Erkrankung verblasst, bei der er Wochen in einer Privatklinik verbringen musste.
Jüngst erreichte die Zahl der neu diagnostizierten COVID Fälle in Bolivien 3839 an nur einem Tag. Es ist der höchste Stand seit Beginn der Pandemie. In den siebeneinhalb Monaten der neuen Regierung sind es über 250.000. In den gut acht Monaten während der Übergangsregierung waren gut 142.000 diagnostiziert worden. Das hat mit der epidemiologischen Dynamik, mit den inzwischen häufigeren Tests, aber auch mit politischen Prioritäten zu tun. Hieß es unter Añez, die Gesundheit stehe an vorderster Stelle, so ist die Priorität von Luis Arce der wirtschaftliche Aufschwung. Der Ökonom weist dabei darauf hin, dass die COVID-Todesrate in seiner Regierungszeit gegenüber der von Añez auf fast ein Drittel gesunken sei. Er vergisst dabei, dass diese Kennziffer noch unter Añez bis Anfang November auf fast Null gesunken war, um mit der folgenden zweiten und dritten Welle wieder zu steigen. Verschwiegen wird auch, dass bei mehr Tests auch der Prozentsatz der Toten zwangsläufig geringer ist, und dass der vom Gesundheitsministeriums immer wieder zitierte Vergleichswert von Juli-August 2020 sich jene Zeit bezieht, nachdem die strenge Quarantäne gelockert worden war, die öffentlichen Proteste der Gefolgsleute der MAS zunahmen, bis dann zeitweise sogar die Versorgung der Krankenhäuser mit Sauerstoff blockiert wurde.
Während die einen Tanzen stehen andere für Sauerstoff Schlange
Tatsächlich ist die Situation schwer vergleichbar und ein harter Lockdown weniger zu rechtfertigen. Inzwischen kennt man den Virus besser, es gibt Behandlungsprotokolle. Trotz aller Korruption etwa beim Kauf von Beatmungsgeräten wurden mehr Kapazitäten im Gesundheitswesen aufgebaut, zweitweise waren 5000 zusätzliche Ärzt*innen und Pflegepersonal eingestellt. Und vor allem sind fast die Hälfte der besonders gefährdeten alten Menschen inzwischen geimpft.
Die Ärzteorganisationen fordern dennoch strengere Schutzmaßnahmen. Denn sie sind es, die seit Monaten die Last tragen, die Patient*innen abweisen müssen, weil die Intensivbetten belegt sind und weil der medizinische Sauerstoff, Medikamente und auch Impfdosen knapp sind, oder mancherorts tagelang völlig fehlen.
Dem medizinischen Personal schenkt die Zentralregierung jedoch wenig Gehör. Mit einem Notgesetz wird ihnen verboten zu streiken, selbst wenn wie jüngst in mehreren Regionen ihnen drei Monate lang das Gehalt nicht ausgezahlt wurde. Statt mit dem ärztlichen Personal zu reden, lassen sich der Präsident oder der Gesundheitsminister dafür gerne bei der Übergabe von Medikamenten oder auch der Einweihung neuer Sauerstoffabfüllanlagen filmen, selbst wenn diese wie jüngst von der größten Bierbrauerei des Landes und nicht vom Staat finanziert wurde.
Doch den Behörden vor Ort helfen das „Modern Talking“ der Werbespots und Erfolgsnachrichten im Fernsehen nicht bei der Bewältigung der Situation. Und so haben in Cochabamba die Regional- und Stadtregierung parteiübergreifend doch wieder Maßnahmen zu einer abgemilderten teilweisen Quarantäne ergriffen. Selbst der Schulminister hat gegenüber früheren Maßgaben zurückgerudert und Lehrpersonal und Schüler*innen in vorgezogene Ferien geschickt, nachdem Bauernsprecher angedroht hatten, die Straßen zu blockieren, damit die Lehrpersonen die Dörfer nicht verlassen und der Unterricht weitergeht. Allein im Depto. Cochabamba hatte die Gewerkschaft der Lehrer*innen den Tod von 100 an COVID gestorbenen Kolleg*innen zu beklagen. Und auch wenn die extrem hohen Behandlungskosten bei COVID das Bruttosozialprodukt steigern, sollte auch einem Ökonomen klar sein, dass der Tod dieser Lehrpersonen nicht nur eine soziale und menschliche Tragödie, sondern angesichts der zuvor getätigten Ausbildungskosten auch ein wirtschaftlicher Schaden ist.
Die Maßnahmen in Cochabamba zeigen jedenfalls erste Wirkung und lassen hoffen, dass die exponentielle Zunahme der COVID-Fälle hier erst einmal gebremst werden konnte.
Und irgendwann werden dann auch Modern Talking, bzw. ihre Epigonen („Mit der Luft ist es schwierig“), oder Mr. President aus Bremen, die wenig zuvor im nahe gelegenen Sacabaya aufgetreten waren, wieder unbesorgt in Huachacalla oder Sacabaya zum Tanz aufspielen können. Dann ohne den schon über ein Jahr andauernden, schwierigen Kampf gegen COVID 19 zu konterkarieren. Denn der Pandemie ist nicht nur der ehemalige Vizeminister für die Bekämpfung des Schmuggels, sondern ist auch so viel medizinisches Personal, sind aber auch zahlreiche bolivianische Musiker*innen, wie zuletzt die populäre Sängerin und Lehrerin Luisa Molina zum Opfer gefallen.