vonPeter Strack 06.08.2011

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Dieser Tage steckte an der Haustuer ein kleiner fotokopierter Zettel der Nachbarschaftsorganisation unseres Viertels in Cochabamba: Mittwochabend mexikanische Mariachi-Musik, Donnerstagmorgen Aufmarsch der Schuelerinnen und Schueler sowie die Pflicht, die Nationalflagge am Haus anzubringen. Anlass ist der 6. August, bolivianischer Nationalfeiertag. Teilnahme sei Pflicht, den Widerspenstigen werden 50 Bolivianos (umgerechnet gut 5 Euro) Strafe angedroht.

Bislang wurden solche Drohungen nicht wahrgemacht. Sei es aus Anlass des offiziellen Starts der Verlegung der Gasleitungen fuer Privathaushalte, oder weil es einen Diebstahl gegeben hat und Schutzmassnahmen vereinbart werden sollen. Und so ist unsere Strasse erst am 6. August selbst einigermassen beflaggt.  Wir haben ohnehin  keine dieser patriotischen rot-gelb-gruenen Textilien im Haus, weder als einfaches Tuch, geschweige denn in der seidenglaenzenden Ausgabe. Hoechstens eine klitzekleine, inzwischen arg verblasste Whipala, die Fahne der indigenen Bewegungen des Hochlands, die bei den Protesten der sozialen Bewegungen  um die Jahrtausendwende fast ueberall praesent waren.

Aber die Whipala scheint im Augenblick nicht hoch im Kurs zu stehen. Dass die Offiziellen im von der Opposition regierten Santa Cruz sie nicht aufhaengen moegen, ueberrascht kaum. Aber auch in Cochabamba wird sie an kaum einem der vielen Strassenstaende zum Verkauf angeboten, die in diesen Tagen  patriotischen Devotionalien feilbieten. Auch im andinen Kapitalismus, fuer den sich Vizepraesident Álvaro García Linera entschieden hat, haengt das Angebot mit der Nachfrage zusammen. Und beides scheint bei diesem Symbol der Ueberwindung des kolonialen Erbes Boliviens derzeit gering. Viele identifizieren es weniger mit indigener Identitaet und sozialem Aufbruch, als mit einer Regierung, deren Chef bei seiner juengsten Rede zum Jahrestag der Erklaerung des Rechts auf Wasser zum Menschenrecht  im Plenarsaal der Vereinten kaum einer zuhoert, und die selbst das Zuhoeren verlernt zu haben scheint.

So in der Frage einer Ueberlandstrasse mitten durch indigenes Territorium in den Cochabambiner Tropen, die die Regierung Morales und die Kokabauern des Chapare unbedingt bauen wollen und nur dort, wo sie es einmal beschlossen haben: Mitten durch den Isiboro-Sécure, eine Naturreserve von unschaetzbarem Wert und Heimat indigener Tieflandvoelker, eines davon  schon jetzt vom Aussterben bedroht. Die Mehrheit dieser Urweinwohner sind mit dem Bau nicht einverstanden.

Soziale Organisationen argwoehnen, dass die Laendereien an der geplanten Trasse bereits unter den zugewanderten Kokabauern aus dem Bergland verteilt seien, protestieren, schlagen Alternativrouten vor. Doch die Regierung stellt sich bislang stur. Wieweit sich Morales in dieser Frage vom offiziellen Diskurs des Schutzes der Mutter Erde und des Respekts vor den indigenen Kulturen entfernt hat, zeigt eine Bemerkung, fuer die ihn nicht nur Frauenorganisationen dieser Tage heftig kritisieren: Der Kokabauernjugend schlug er scherzhaft vor, mit den widerspenstigen indigenen Frauen anzubaendeln,  um sie von der Notwendigkeit des Strassenbaus zu ueberzeugen. Auch wenn das nicht ernst gemeint war, kommt ein Denken zum Vorschein, das der Vergangenheit angehoeren sollte: Die Indigenen nicht als Schuetzer der Natur, sondern als Entwicklungshindernis zu sehen, die es nicht zu respektieren, sondern zu assimilieren gilt, um den Modernisierungsprozess voranzutreiben. Gleichzeitig steht im Andenstaat ein neues Gesetz zum Schutz der Mutter Erde kurz vor der Verabschiedung.

Was es in diesem widerspruechlichen Umfeld  wert sein wird, muss sich vor Ort erweisen, zum Beispiel im Isiboro-Sécure. Aber vielleicht werden die indigenen Tieflandvoelker erst einmal neue Flaggen mit eigener Symbolik hissen muessen, um sich und der Natur Respekt zu verschaffen.

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