vonGerhard Dilger 06.12.2012

latin@rama

Seit 2008 Nachrichten vom anderen Ende der Welt und anderswoher.

Mehr über diesen Blog

Oscar Niemeyer ist tot. Am Mittwochabend, wenige Tage vor seinem 105. Geburtstag, ist Brasiliens Stararchitekt in Rio gestorben.

„Samstags und sonntags arbeite ich am meisten“, erzählte er noch vor ein paar Jahren in seinem Atelier an der Copacabana. „Alleine blättere ich einige Bücher durch, schreibe einen Text, zeichne oder denke ganz einfach über das Leben nach.“

„Das Leben ist ein Hauch“, umriss der bekennende Kommunist und Atheist seine Philosophie. „Der Mensch ist nichts wert, er wird geboren und stirbt. Also muss er zum Himmel sehen und fühlen, dass er klein ist, dass er bescheiden sein muss, dass nichts wichtig ist.“

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=g59t2YQye1A[/youtube]

Eines seiner letzten umgesetzten Projekte war das 2011 eingeweihte Kulturzentrum im nordspanischen Avilés (s. u., Foto: dpa), eine gewohnt kurvenreiche, luftige Anlage. In Havanna ist nach seinem Entwurf ein neues Gebäude für die brasilianische Botschaft geplant, und in Caracas soll ein riesiges Denkmal zum Ruhme des südamerikanischen Freiheitshelden Simón Bolívar entstehen – eine schräg gen Norden gerichtete, 170 Meter lange Pfeilspitze.

Niemeyer wurde am 15. Dezember 1907 in Rio de Janeiro geboren. Auf seine portugiesischen, arabischen und deutschen Wurzeln ist er stolz: „Dabei sind die Schwarzen oder Indianer, die vielleicht auch noch zur Familie gehören, gar nicht berücksichtigt.“ Noch als Student setzte er nach einer Skizze seines Vorbilds Le Corbusier das Ministerium für Erziehung und Gesundheit in der damaligen Hauptstadt Rio um.

Immerhin an die 200 seiner über 500 Projekte wurden gebaut – vom UN-Gebäude in New York über riesige Wohnblocks bis hin zu politischen Skulpturen. Als Baustoff der „unbegrenzten Möglichkeiten“ setzte er dabei stets auf Beton. Bereits in den 40er Jahren, sagt er, habe er eine „andere“ Architektur angestrebt: „Damals war die Architektur rigide, als wäre sie mit Metallstrukturen gemacht. Der Beton hingegen legte ein neues Feld der Erfahrungen und Erfindungen nahe.“

Als Form habe sich die Kurve angeboten: „Sie ist die natürliche Lösung für Beton, wenn du einen großen Raum hast.“ Eduardo Galeano sagte dazu: „Gegen den rechten Winkel hat Niemeyer eine Architektur gesetzt, die so leicht ist wie die Wolken, frei, sinnlich, der Berglandschaft Rios sehr ähnlich. Das sind Berge, die aussehen wie Körper liegender Frauen, von Gott an dem Tag gezeichnet, an dem er dachte, er ist Niemeyer.“

Ab 1958 verwirklichte Oscar Niemeyer mit seinem Freund Lucio Costa im Auftrag des damaligen Präsidenten Jucelino Kubitschek den Entwurf einer neuen Hauptstadt im Hinterland: Brasília. Costa war für die Stadtplanung verantwortlich, Niemeyer für die Gebäude. Der Kongress mit seinen eleganten Schalenkuppeln, zwei Präsidentenpaläste, diverse Ministerien und die Kathedrale bilden den eindrucksvollen Kernbereich des Regierungssitzes.

Die Kritik, manche seiner Gebäude seien nicht funktional genug, wies er entschieden von sich: „Es kommt auf die Schönheit an. Wenn du nur an die Funktion denkst, kommt Mist heraus.“ Die Illusion einer sozialen Utopie hingegen zerschlug sich rasch. „Während des Baus dachten wir, dass die Gesellschaft besser, die Menschen gleicher würden“, erinnerte er sich. „Aber nein, mit der Einweihung der Stadt kamen die Politiker, die Geschäftsleute, die Klassenunterscheide, all das, was man bis heute dort sieht.“

Über seine Architektur sagte er zuletzt: „Wie die Dichtung kann sie die Welt nicht verändern, und die Ärmsten haben nichts davon. Aber sie können innehalten, einen Moment des Vergnügen, der Überraschung haben. In der Hinsicht kann Architektur nützlich sein.“ Mittlerweile quillt die Metropole auf der zentralbrasilianischen Hochebene auf die weit außerhalb angelegten Armenviertel zu. Im Kernbereich fügte Niemeyer immer neue Bauten hinzu. An seinem 99. Geburtstag wurde dort ein imposantes Kulturzentrum mit Nationalmuseum und Nationalbibliothek eingeweiht.

Kurz zuvor hatte er seine langjährige Sekretärin Vera Lucia Cabreira geheiratet. Seine erste Frau Anita war 2004 gestorben. Mit ihr hatte er eine Tochter – sie starb 82-jährig im Juni -, fünf Enkel, 13 Urenkel und vier Ururenkel. Das Geheimnis seiner Langlebigkeit? „Vielleicht, dass ich in allen Dingen gemäßigt bin. Ich trinke wenig, ich esse wenig. Ich streite nicht, sondern versuche, in Harmonie mit den Leuten zu leben, Ich mag die Freundschaft, ich lache gern und mache gern Witze. Und ich liebe die Frauen!“

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=YIXpv0IDAS0&feature=youtu.be[/youtube]

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/latinorama/oscar-niemeyer-ist-tot-das-leben-ist-ein-hauch/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert