vonNiklas Franzen 13.01.2015

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

Mehr über diesen Blog

Lange schien es, als würde alles ruhig bleiben. Plötzlich ein lauter Knall. Tränengasbomben fliegen durch die Luft. Panik bricht aus. Die Menschenmenge flüchtet in verschiedene Richtungen. Die Rauchschwaden werden immer dichter. Auch T-Shirts können kaum Schutz vor dem beißenden Tränengas bieten. Einigen Demonstranten gelingt es in eine Seitenstraße zu flüchten. Die Angst ist ihren Gesichtern anzusehen. Im Hintergrund immer wieder Schüsse.

„Leider war dieses Verhalten der Polizei abzusehen“, sagt eine junge Demonstrantin, die erschöpft am Boden sitzt und versucht, ihre vom Tränengas geschwollenen Augen mit Essig auszuspülen. Eine Gruppe Vermummter lässt ihre Wut an den Scheiben einer Bank aus. Verängstigte Ladenbesitzer ziehen daraufhin schnell ihre Rollläden zu. „Nächste Woche werden wir noch mehr sein“, schreit ein junger Mann einigen grimmig schauenden Polizisten wenig später entgegen, die in voller Kampfmontur eine Bank auf São Paulos Prachtstraße Avenida Paulista bewachen.IMG_4392

Am letzten Freitag kam es in São Paulo nach einer Demonstration gegen eine Fahrpreiserhöhung zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Als sich der Protestzug der Avenida Paulista näherte, löste die Polizei die Demonstration durch den Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen auf. Über 50 Personen wurden festgenommen, mehrere Teilnehmer wurden verletzt.

Die Bewegung für den kostenlosen Nahverkehr (MPL) hatte zu dem Protest aufgerufen, an dem sich laut den Veranstaltern rund 30.000 Menschen beteiligten. Die Polizei sprach von lediglich 2.000 Demonstranten. In einem am Abend veröffentlichten Schreiben kritisierte die MPL das Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte: „Die brutale Polizeigewalt ist eine klare Antwort der Regierung auf den Protest der Bevölkerung gegen die Erhöhung der Fahrpreise“. Die bürgerlichen Medien versuchen indes, die Demonstration vom Freitag als „Protest von Vandalen und Kriminellen“ abzustempeln. Statt über die Forderungen tausender Demonstranten zu berichten, stürzte sich die Presse wieder einmal auf Sachbeschädigungen Einzelner und spielte die Polizeigewalt herunter.

Auslöser der Demonstration war eine Fahrpreiserhöhung in der Millionenmetropole. Ende Dezember hatten Stadtverwaltung und Landesregierung erklärt, sowohl die Bus- als auch die U-Bahnpreise auf 3,50 Reais zu erhöhen – seit dem 6. Januar zahlen die FIMG_4457ahrgäste 50 Centavos mehr. Die Bewohner der armen Vorstädte, die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, trifft die Anhebung der Tarife besonders hart. Einen Tag nach der Erhöhung rissen wütende Passagiere in einer Bahnstation im östlichen Randgebiete der Stadt Drehkreuze aus ihrer Verankerung.

Im Interview mit der brasilianischen Ausgabe von El País hatte São Paulos Bürgermeister Fernando Haddad von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT die Erhöhung mit der Finanzierung von notwendigen Sozialprojekten in der Stadt gerechtfertigt. „Für mich ist dies eine Lüge. Fehlendes Geld wird als Argument vorgeschoben. Das Problem ist, dass sich die öffentlichen Ausgaben an ökonomischen Interessen statt an Sozialpolitik für Gesundheit, Bildung und Transport ausrichten“, sagt der Aktivist Jefferson am Rande der Demonstration.

Die Stadtverwaltung hatte Anfang Januar zudem erklärt, sozial schwachen Studenten eine kostenfreie Nutzung des Nahverkehrs zu ermöglichen. Viele Aktivisten deuten dies als Versuch, die Bewegung zu spalten. Laut dem Studenten Santiago ist der Zugang zu dem Programm außerdem „sehr schwierig und begrenzt“.

Bereits im Juni 2013 war es nach einer geplanten Fahrpreiserhöhung zu Protesten in São Paulo gekommen. Nach gewalttätigen Polizeieinsätzen schwappten die Demonstrationen auf andere Städte über und entwickelten sich zu wochenlangen Massenprotesten im ganzen Land. Die Aktivisten der MPL hoffen nun auf eine Wiederholung der „Formel 2013“ und einen ähnlichen Dominoeffekt wie damals.foto verena 2

Bereits für den kommenden Freitag hat die Bewegung, die seit 2003 besteht und sich als „horizontal und parteienlos“ versteht, die nächste Demonstration in São Paulo geplant. Auch will sie sich die Wut vieler Paulistan@s – der Bewohner von São Paulo – gegen die Fahrpreiserhöhung zu Nutzen machen. Ein älterer, schnurbärtiger Maisverkäufer am Rande des Protests kann die Demonstranten verstehen. „Der Tarif ist doch jetzt schon viel zu hoch“, schimpft er.

Auch in anderen brasilianischen Städten kommt es seit Tagen zu Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen. In Rio de Janeiro und Salvador de Bahia gingen hunderte Menschen auf die Straße. Ob es jetzt zu einem heißen „brasilianischen Sommer“ kommt?

 

Fotos: Verena Glass und Gerhard Dilger

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/latinorama/pfeffer-gegen-freie-fahrt-proteste-gegen-fahrpreiserhoehungen-in-sao-paulo/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Ob es jetzt zu einem heißen „brasilianischen Sommer“ kommt?
    Nun, der ohne Anführungszeichen ist längst da. Rio, 50 graus (wer‘s kennt).
    Dass die Menschen wieder zurück zum vorletzten demokratischen Raum Brasiliens (der letzte autochthone ist die Intakte Natur, aber die wird mit unbändiger Wut und Gier und inklusive seiner innelebenden Völkerschaften per Dilma-Bulldozer und ihren alliierten Agrofaschisten „in Nützliches verwandelt“) finden, der Strasse (solang dort keine Killer in Uniform „patroullieren“, um ein Pluralismusspektakel erst gar nicht aufwärmen zu lassen), seh ich eher realistisch. Und also skeptisch.
    Von den Demonstrationen in einigen Grossstädten hören/sehen wir de facto nichts. Und wenn, warens „ein paar Dutzend“. Vandalen! (Cabral war, den Brasilomedienzaren zufolge, wohl ein Euro-Spätankömmling?) Die Machtmedien haben (seit 2013) schlussendlich auch dazu gelernt.
    Aber ich hoffe ich täusche mich. Wie schon damals, im 13er-Mai. Und die Menschen Brasiliens holen etwas nach, was hier, im Gegensatz zu unsren NachbarInnen von Uruguay bis Venezuela, seit dem 19.Jahrhundert überfällig ist: Revolte-zu-Revolution. Und zwar eine politisch-soziologische die weit, seeehr weit, über Öffifahrpreisrassismus hinaus und in die Hohen Häuser der Vereinigten Feudalherren und Raubritter – auf allen drei Staatsebenen – hinein geht!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert