vonPeter Strack 01.09.2019

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Der bolivianische Komiker Manuel Monroy Chazareta, genannt „Papirri“, hat den Begriff der „Metafísica Popular“, der Metaphysik des Alltags, ein- und zur Blüte geführt. Etwa: „Die Hitzewelle lässt mich kalt“. Auch im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf findet man reichlich Metaphysik. So beim Wahlgerichtshof: Laut Gesetz darf kein Wahlkampf vor dem vom Wahlgerichtshof festgelegten offiziellen Beginn stattfinden.

Das hat die Regierungspartei nicht daran gehindert, vorher auf dem Flughafen von Chimoré im Chapare Hunderttausende von Anhängern oder Staatsangestellten, die ihren Job nicht verlieren wollten, zur Proklamierung des Kandidaten Evo Morales zusammen zu rufen. Das Parlament hatte man vorsorglich schließen lassen. Zwecks Vernichtung von Ungeziefer, so die Begründung. Nicht nur der Termin war regelwidrig auch die umfangreiche Nutzung öffentlicher Mittel für die Veranstaltung. Der Wahlgerichtshof sah jedoch keinen Grund einzuschreiten: Schließlich habe der Wahlkampf damals offiziell ja noch nicht begonnen. Da wären sie ja überhaupt noch nicht zuständig.

Nicht zuständig hätten sich am liebsten auch die Richter in der Tieflandregion des Beni erklärt, als dort in flagranti Parteigänger der MAS bei Wählerbestechung und dem Fälschen von Wahlregistern erwischt wurden. Kaum hatten sie die Festnahme der Verantwortlichen angeordnet, wurden die Rechtshüter auch schon abgesetzt.

Zweierlei Maß in der Justiz

Das sei eine billige Form des Wahlkampfes, entgegnete die Regierung Kritikern, die sich über den Kauf eines 3000 Dollar teuren Bettes für den Präsidenten im neuen Regierungspalast aufgeregt hatten, während in den öffentlichen Krankenhäusern Betten fehlen. Angesichts des tatsächlichen Bedarfs im Gesundheitswesen hätte das durchaus als Marginalie und Ablenkung von den zentralen politischen Fragen durchgehen können.

Oder als Beispiel, wie sich Menschen in Machtpositionen verändern und schlecht beraten werden, gäbe es da nicht den Präzedenzfall des früheren Präfekten von La Paz, Alberto „Chito“ Valle aus dem Clan der Familie des Ex-Diktators Hugo Banzer. Dem hatte man in der Anfangszeit der Regierung von Evo Morales unter anderem wegen dem Kauf einer deutlich billigeren Schlafstätte den Prozess gemacht. Er wurde wegen Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder ins Gefängnis gesteckt. Schlafen, so das Argument der Richter damals, gehöre nicht zum Regierungsauftrag. Sein Bett hätte er deshalb aus privaten Mitteln bezahlen müssen.

Prozessiert wird aktuell dafür unter anderem gegen den Gouverneur von Tarija Adrian Oliva. Nicht gegen seinen Vorgänger, der Oliva das Departament hochverschuldet überlassen hatte und für eine Reihe von Unregelmäßigkeiten verantwortlich zeichnet. Oliva ist jedoch Verbündeter des wichtigsten Gegenkandidaten von Morales bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen Carlos Mesa.

Olivas Vergehen: Zement, der für den Bau einer Straße gekauft worden war, in einer anderen Straße verbaut zu haben. Wegen Verzögerungen sei die Umwidmung nötig gewesen, bevor der Zement unbrauchbar werde, argumentiert Oliva. Warum dem Staat damit ein wirtschaftlicher Schaden entstanden sein soll, bleibt das metaphysische Geheimnis der Anklageschrift der Justiz von Tarija.

Weit über 60 Gerichtsverfahren laufen gegen den Bürgermeister von La Paz, Luis Revilla, ebenfalls Bündnispartner von Carlos Mesa. Zuletzt wegen eines Erdabrutsches an der Müllhalde von La Paz, wegen dem zahlreiche Familien ihr Zuhause verloren hatten. Er habe seiner Amtspflicht nicht genügt und Warnungen nicht ernst genommen.

Dass die Müllentsorgung in La Paz zu den besseren des Landes gehört und dass Nachbarn gezielte Sprengstoffexplosionen durch vermutliche Landbesetzer im Umfeld der Müllhalde beobachtet hatten, die die Schutzmembranen beeinträchtigt haben könnten, hinderte die Justiz nicht daran, ein weiteres Verfahren zu starten und gegen Revilla wie gegen Adrian Oliva Hausarrest zu verhängen.

Chronik eines angekündigten Umweltdesasters

Warnungen von Umweltschützern und Klagen indigener Organisationen nicht ernst genommen hat ganz sicher der Präsident Evo Morales bei seiner Politik der massiven Abholzung der Regen- und Trockenwälder des Tieflands für die Ausweitung der gentechnisch gestützten Agroindustrie, insbesondere den Sojaexport nach Brasilien, aber auch den Fleischexport wie jüngst nach China.

Anfang Juli unterschrieb er dann auch noch ein Dekret, das „kontrolliertes“ Abfackeln von Trockenwäldern auf bis zu 20 Hektar Fläche auch auf Land erlaubte, das laut Bodennutzungsplan als Forstgebiet ausgewiesen ist. Die Bauern seien arm und müssten von irgendetwas doch leben, begründete er diesen Schritt. Verschwieg aber, dass es vor allem um Bodenspekulanten geht, die wie immer wieder angezeigt, Landtitel unter irregulären Umständen erwerben und die Drecksarbeit für die Agroindustrie machen. Gegen zwei enge Verwandte des Landwirtschaftsministers Cocarico laufen derzeit immerhin Verfahren wegen krummen Geschäften mit der Agrarreformbehörde.

Die wirklich armen Bauern, die häufig insgesamt nicht mehr als 20 oder 30 Hektar Land besitzen, wenden die Brandrodung nur auf kleinen Flächen von einem halben oder einem Hektar an, während auf der restlichen Fläche der Wald nachwachsen kann und die einheimische Fauna eine Heimstatt behält. Und schon im Jahr 2016, so der Umweltexperte Pablo Solón, waren laut Zahlen der FAO (Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen) nur 25% der Brände den Kleinbauern zuzuordnen. (Hier Fotos von der Arbeitsgruppe Klimawandel und Gerechtigkeit)

Zahlenstreit während die Wälder verbrennen

Seit wann ein Gesetz in Bolivien Wirkung zeige, verteidigte im sonntäglichen Fernsehprogramm „Dieses Haus ist kein Hotel“ nun ein Vizeminister die Regierungspolitik der massiven Abholzungen. Das Abbrennen der Wälder hätte es mit und ohne Dekret gegeben.

Fakt ist jedenfalls, dass der Vizepräsident noch vor wenigen Wochen stolz vor Agrar-Unternehmern verkündet hatte, die Abholzungen noch auf eine Million Hektar pro Jahr ausweiten zu wollen und dass frühere Regierungen zu feige gewesen wären, illegale Abholzungen nachträglich zu legalisieren, so wie die MAS-Regierung. Dabei war Fachleuten schon damals klar, dass die größten Raten der Abholzung in der Geschichte Boliviens und der damit verbundene Klimawandel zu einer gefährlichen Gemengelage geführt hatten.

In der letzten Augustwoche waren die Brandrodungen aufgrund ihrer hohen Zahl und der durch die Vernichtung der Wälder noch verschärften Trockenheit außer Kontrolle geraten und über 800.000 Hektar Wälder und Savannen abgebrannt.

Es war einmal ein Naturscchutzgebiet, Foto: El Deber

Vielleicht sogar schon eine Million laut Angaben der Regionalregierung von Santa Cruz. Nur 20 bis 30% der abgebrannten Fläche seien Urwälder gewesen, beschwichtigte Morales. Dass Sekundärwälder auch Wälder sind, und auch Savannen die eine ökologische Funktion haben, dass sie Wasser speichern oder Tiere beherbergen, ließ er unerwähnt.

Und während die Relativierungsversuche verpufften, fraß sich das Feuer weiter voran. Am 1. September waren es bereits 1,9 Millionen abgefackeltes Land, davon 700.000 Hektar Wald.

„Bitte nicht politisieren!“

Viel zu lange hatte der Präsident die Ausrufung des Notstands und Hilfe aus dem Ausland kategorisch abgelehnt (Bericht eines argentinischen Helfers), hatten Minister sich stattdessen auf die Verkündung ihrer Erfolge in der Brandkontrolle gestützt. Eines der Argumente: Bolivien sei alleine imstande, die Brände einzudämmen. Ein anderes durchaus metaphysisches, man brauche den Notstand nicht offiziell auszurufen, da er offensichtlich sei. (Hier Video Impressionen von Nicole Maron aus der Region).

Dahinter steht jedoch die Überlegung, dass mit dem Notstand zusätzliche Mittel auch für die oppositionelle Regionalregierung von Santa Cruz hätten frei gemacht werden müssen und deren Handlungsspielraum erweitert hätte. So klingt auch die Kritik an der Opposition wenig glaubwürdig, die aufgefordert wurde, das Thema doch bitte nicht politisieren.

Der Präsident vor Ort

Jetzt müssten alle zusammen stehen, hieß es von Regierungsseite, die zudem selbst keinen Rettungseinsatz ungenutzt ließ, um politische Eigenwerbung zu betreiben, oder wie im Fall des Präsidialministers Quintana gar die Opposition beschuldigte, absichtlich Brände gelegt zu haben, um das wahltaktisch auszuschlachten. Dabei zeigen die Wahlprogramme ohnehin wenig politischen Sprengstoff. Die MAS-Regierung verspricht ein Weiter So, der in den Umfragen drittplatzierte ehemalige Sprecher der Agroindustrie Oscar Ortiz will das Modell sogar noch ausweiten, und Carlos Mesa hält sich mit klaren Aussagen für eine Agrarwende ebenfalls zurück, wie erneut Pablo Solón kritisiert.

Wenn eine große Zahl von Fachleuten und Organisationen in einem gemeinsamen Aufruf nun meinen, die Selbstverständlichkeit einfordern zu müssen, künftig keine großflächigen Brände zwecks Abholzungen mehr auf Böden zu genehmigen, die für Landwirtschaft ungeeignet oder Naturschutzgebiete sind, führt das erneut in metaphysische Gefilde. Immerhin spricht die Regierung inzwischen von einer ökologischen Pause.

Und dass bis zur Rückgewinnung der Wälder keine der beeinträchtigten Ländereien verkauft werden dürften. Ein Hauptmotiv für das Legen der Brände würde damit wegfallen. Es ist nur zu hoffen, dass diese ökologische Pause nicht nur auf dem Papier steht, so wie das Gesetz zum Schutz der Mutter Erde, das mit ihrem Mandat eines harmonischen Gleichgewichts mit der Natur zwar offiziell noch gültig ist, aber durch zig Dekrete sukzessive ausgehöhlt wurde.

Die internationale Dimension

Dass die internationale Kritik am Ausmaß der politisch gewollten Naturzerstörung so mäßig ist, liegt vielleicht auch daran, dass die Waldbrände, die ebenso auf der brasilianischen Seite wüten, ideologisch nicht eindeutig zuzuordnen sind. Und sie diesen nicht nur in Bolivien kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen.

Dass die Brände in Bolivien gar als Argument herhalten müssen, um den brasilianischen Präsidenten Bolsonaro von seiner Verantwortung zu entlasten, und die Brände in Brasilien von der bolivianischen Regierung angeführt werden, um von den eigenen Fehlentscheidungen abzulenken, lässt wenig Gutes in Bezug auf die nötige agrarpolitische Wende erwarten.

Zu Recht kritisiert der Verband der indigenen Völker Amazoniens COICA gleichlautend den rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro von Brasilien wie den unter der Flagge des Sozialismus segelnden Evo Morales von Bolivien und fordern Rechenschaft für ihre katastrophale Politik. Der Abschluss des Freihandelsabkommens mit dem Mercosur, die den Landhunger und die Zerstörung der Amazonasregion noch weiter vorantreiben werden, scheint für die europäischen Regierungen derzeit wichtiger.

Gleichwohl fällt es der bolivianischen Regierung angesichts der Katastrophe schwer, ihr Argument aufrecht zu erhalten, dass eine erneute Regierungszeit von Evo Morales notwendig sei, um das Wirtschaftswachstum Boliviens aufrecht zu erhalten. Auch wenn die immensen Kosten der Löschaktionen kurzfristig die zuletzt zurückgehenden Wachstumsziffern des Bruttoinlandsproduktes wieder befeuern werden, gilt dies auch für die Auslandsverschuldung und das Staatsdefizit. Beide waren bereits in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen.

Eine drittklassige Demokratie

Und so wie die Agrarpolitik nur leichte Kritik aus dem Ausland erfährt, wird auch die Metaphysik des Wahlgerichtshofs von der UNO und selbst von der Europäischen Union, die diese Instanz unterstützt, nur zurückhaltend erwähnt. Der interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof seinerseits lässt sich viel Zeit mit den politisch brisanten Klagen, die aus Bolivien gekommen sind. Etwa zur Frage, ob es gegen die Menschenrechte, konkret den Pakt von San José , verstoße, dass die bolivianische Verfassung eine Amtszeitbegrenzung beim Präsidenten vorsieht. Vorsorglich hatte die bolivianische Regierung schon verlauten lassen, dass man den interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof keineswegs als die Instanz ansieht, die das zu bewerten habe.

Juristische Metaphysik: Man beruft sich auf ein internationales Abkommen, das eigentlich Chancengleichheit der politischen Akteure garantieren soll, um die bolivianische Verfassung außer Kraft zu setzen, behält sich aber das Recht vor, dieses Abkommen anstelle des internationalen Gerichtshofes selbst zu interpretieren.

Auch in dem Fall der MAS-Dissidentin und bei den letzten Wahlen erfolgversprechendsten Bürgermeisterkandidatin von Cochabamba Rebecca Delgado, deren Ausschluss von der Wahl unter fadenscheinigen Gründen Jahre später von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission für rechtswidrig erklärt worden war, hatte die Regierung die geforderte Erstattung der Prozesskosten mit dem Argument abgelehnt, es handele sich ja nur um eine Empfehlung.

Der Journalist Andrés Gomez, der bei keinem der großen Medien eine Chance mehr hat zu arbeiten, weil dort dann keine Anzeigen der Regierung und Staatsbetriebe mehr geschaltet würden, ist davon überzeugt, dass die gravierenden rechtsstaatlichen Mängel bei vielen im Ausland nicht so ernst genommen würden, weil man Bolivien als Drittweltland ansehe. Und für ein solches würden die eigenen rechtsstaatlichen Maßstäbe nicht gelten und reiche eine drittklassige Demokratie anscheinend vollkommen aus.

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kommentare

  • Exzellent der Artikel. Ich selber lebe seit 1982 (mit Unterbrechungen) in Bolivien. Wir arbeiten seit knapp 25 Jahren an der Entwicklung nachhaltiger Agroforstwirtschaftlicher Produktionssystemen, u.A. Trockenreisanbau ohne die Notwendigkeit das Land zur Bodenbereitung abzubrennen. Das beraten wir mittlerweile weltweit, auch im Kontext Beratung Süd-Süd. Bolivianer beraten in Afrika, Asien und anderen Latainamerikanischen Ländern. Übrigens ist Brandrodung schwachsinnig. In kurzer Zeit konnten wir in Ghana und anderen Ländern Bauern überzeugen, durch gemeinsame praktische Feldarbeiten, auf die Brandrodung zu verzichten. Resultat: weniger Folgearbeiten für Beikrautkontrolle und bessere Erträge aller Kulturen. Nur das will doch ein Landwirt, oder? Leider haben wir noch keine große Lobby.

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