vonPeter Strack 25.08.2019

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

Mehr über diesen Blog

Luz Rivera wurde 1968 in der Mine Santa Fé in den Hochanden vor Oruro geboren. Die Bergwerkswirtschaft begleitet sie bis heute. Kaum ein Jahr alt zogen die Eltern mit ihr nach Potosí, wo ihr Vater im berühmten Cerro Rico schuftete. Mit zwei Jahren folgte die Scheidung. Die Mutter nahm Luz mit in das von der staatlichen COMIBOL verwaltete Bergwerkszentrum Huanuni (auf deutsch: „leidend“). Dort habe sie ihre ganze Kindheit verbracht, sagt sie.

In der Welt der Bergarbeiter endet die Kindheit früh: Mit 11 gab es einen erneuten Wechsel, und zwar nach Uncia im Norden von Potosí. Es ist die frühere Mine des Zinnbarons Simón I. Patiño, die nach der nationalen Revolution 1952 ebenfalls in staatliche Hände übergegangen war. Und wo ganz in der Nähe auch die berühmte Bergarbeiterführerin Domitila Chungara vom Hausfrauenkomitee zum Sturz der Banzer-Diktatur beigetragen hatte (siehe auch die schon ältere, aber immer noch beeindruckende Radioreportage von Jörn Klare „Für eine Handvoll Zinn“) und den Nachruf auf latin@rama).

In Uncía blieb Luz Rivera bis zu ihrem 15 Lebensjahr. Danach folgte noch einmal Huanuni, wo sie ihr Abitur machte. Seit Ende ihres Studiums der Sozialarbeit engagiert sich Luz Rivera, zunächst als Freiwillige, später im Auftrag der Sozialpastoral für arbeitende Kinder und ihre Organisation CONNATSOP in Potosí. Im August 2019 fragte ich Luz nach ihrer stärksten Erinnerung an die Zeit ihrer Kindheit.

Am Cerro Rico von Potosí, Foto: Katrin Krämer

Luz Rivera: Meine beiden Eltern waren aktive Gewerkschafter, die für die Demokratie gekämpft haben. Das hat mich geprägt. Und meine Großmutter war vielleicht keine Sozialistin, hat sich aber in der Nationalrevolutionären Bewegung (MNR) engagiert. Sie war eine der Barzolas, dieser Guerrilleras, die die Verstaatlichung der Minen mit erkämpft haben.

In der Revolution von 1952 starb sowohl ihr Mann als auch ihr Sohn. Sie war es, die mir die Geschichte Boliviens nahegebracht hat. Und meine Mutter trat in ihre Fußstapfen und kämpfte in der Gewerkschaft in Huanuni und Oruro für das Ende der Militärdiktaturen: Banzer, García Mesa… Und mein Vater ganz genauso in Potosí.

Und ab wann wurdest du dir der politischen Umstände bewusst?

Als ich 11 Jahre alt war, habe ich verstanden, was Diktatur bedeutet. Mein Leben hat mit den Berichten meiner Mutter von der Diktatur begonnen.Wie sie dagegen gekämpft haben und wie lange Bolivien diese Last schon mit sich geschleppt hatte. Ich besuchte das sechste Schuljahr in Uncía. Ich war eigentlich sehr verspielt. Aber ich spielte viel lieber mit Jungen als mit Mädchen. Puppen oder Küchenutensilien langweilten mich. Ich fand es viel attraktiver, mit Stoffbündeln Ball oder mit Autos zu spielen und sich gegenseitig Abenteuer zu erzählen. Vor allem zusammen mit den Älteren, die bereits in den Schülerorganisationen aktiv waren. Und die sahen mein Interesse, berichteten mir von ihren Treffen. Aber dann meinten sie, dass ich noch zu klein sei und besser nach Hause ginge. Aber das wollte ich überhaupt nicht hören.

Es war die Zeit von García Meza. Da war es schon schwierig, eine Schülervertretung zu wählen. Aber es gab kleine Gruppen. Einer von ihnen, von denen ich wusste, dass sie politisch geschult waren, schloss ich mich an, kaum dass ich in die Sekundarschule gekommen war. Dort wurde mein Wunsch nach einem demokratischen Bolivien geweckt und verstand ich den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur. Ich war die Jüngste.

Mädchen beim Verlesen des Protokolls in der Kinderarbeiterorganisation von Potosí, Foto: Katrin Krämer

Jeder bekam seine Aufgabe. Sie durften mich natürlich nicht gefährlicheren Situationen aussetzen. Zum Beispiel zu Sitzungen zu gehen, die mitten in der Nacht um 1 Uhr, 2 Uhr oder 3 Uhr stattfanden und wo sie dann bis zum Morgengrauen blieben. Nachts zu zweit oder dritt auf der Straße angetroffen zu werden, hätte sie bei den Militärs verdächtigt gemacht. Ihre Wohnungen wären durchsucht worden. Ich war ihre Botin, weil ich wegen meines Alters nicht verdächtig schien. Ich habe zwischen den unterschiedlichen Gruppen Kassiber oder einfach Informationen weitergegeben über geplante Treffen und die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen. Und so war auch ich schon damals politisch sehr gut informiert. Ich hatte auch das Glück, den Oblatenpriester Gregorio Iriarte kennenzulernen, der damals Direktor des Radio Pio XII in Siglo XX war und eine wichtige Rolle in der politischen Bildung dieser Jugendlichen spielte und der Bergarbeiterbewegung sehr nahe stand.

Du hast damals als Kind die wohl härteste Diktatur Boliviens im 20 Jahrhundert hautnah erlebt. Heute gibt es Stimmen, die sagen, dass Bolivien erneut auf dem Weg zu einer Diktatur ist.

Eine richtige Diktatur war das, was in den 70er und 80er Jahren geschah. Da zählte ein Menschenleben gar nichts. Heute können wir nicht von einer Diktatur reden. Von Autoritarismus aber ganz bestimmt.

Dein ganzes Leben hast du der Gewerkschaftsbewegung nahe gestanden. Heute sind das aber keine Erwachsenen, sondern es ist die Bewegung arbeitender Kinder. Du unterstützt die Kinder und Jugendlichen bei Alltagsproblemen, wenn sie Situationen von Ausbeutung erleben, oder in der Schule nicht zurecht kommen. Du hilfst ihnen, wenn es Konflikte mit den Eltern gibt. Du unterstützt sie aber auch bei der Stärkung ihres Selbstbewusstseins, bei der Analyse ihrer Lebenssituation, ihrer Selbstorganisation und der Vertretung ihrer Interessen.

Zeitungsverkäufer auf der Plaza von Potosí, Foto: Peter Strack

Sicher kann man auch bei Erwachsenen Bewusstseinswandel erreichen. Aber es dauert viel länger als bei Kindern, die noch im Entwicklungsprozess sind. Aber ich arbeite nicht mit irgendwelchen Kindern, sondern mit arbeitenden Kindern, die durch ihre Arbeit schon eine sehr starke Sensibilität für soziale Fragen mitbringen. Mit ihnen soziale Themen zu bearbeiten, ist deshalb überhaupt nicht schwierig und sehr dynamisch. Sie sind sehr mitfühlend mit dem Schicksal anderer. Ich kann viel mit ihnen und von ihnen lernen. Wie sie das Leben sehen und angehen, ohne sich Beschränkungen aufzuerlegen. Die Arbeit prägt sie. Sie sind vom Grundsatz her fröhlich. Sie leiden nicht unter Nebensächlichkeiten wie wir, auch nicht unter dem Wunsch, reich zu werden, sondern sorgen sich und arbeiten für das Nötigste. Und vielen gefällt ihre Arbeit. Aber von den Erwachsenen fordern sie, dass sie ihre Arbeitsbedingungen verbessern. (sehr aufschlussreich hierzu die TV-Reportage von Willi Huismann über arbeitende Kinder in Potosi)

Die Bewegung arbeitender Kinder in Bolivien erlebt derzeit eine Krise. Wie ist die Situation in Potosí?

In Potosí ist die Bewegung weiter am Wachsen. Derzeit haben wir 24 aktive Gruppen mit 730 registrierten Mitgliedern. Als ich 2001 als Freiwillige angefangen habe, waren es gerade einmal vier organisierte Gruppen.

Geld verdienen mit Singen am Busbahnhof, Foto: terre des hommes Arbeitsgruppenreise

Wie viele Kinder arbeiten denn insgesamt in der Stadt Potosí mit seinen ca. 190.000 Bewohnern?

Genaue Zahlen gibt es nicht. Es herrscht eine große Fluktuation. Und mit der Stigmatisierung ihrer Arbeit insbesondere bei den unter 14jährigen ist es schwierig, an Zahlen zu kommen. Viele geben gebenüber anderen nicht zu, erwerbstätig zu sein. Aber wir schätzen, dass es allein in der Stadt Potosí zwischen 8000 und 10.000 unter 18-Jährige gibt, die arbeiten. In Betanzos, einem ländlichen Zentrum unweit von Potosi haben wir 500 arbeitende Kinder registriert. In Puna sind es mehr als 150 und in der Touristenstadt Uyuni mindestens 1000 bei ca. 23.000 Bevölkerung insgesamt. Das sind jedenfalls die, die wir im direkten Kontakt registriert haben. Sie sind im Alter zwischen sechs und 17 Jahren.

Frage: Und sechsjährige können schon erwerbstätig sein?

Nein, aber man muss zumindest erwähnen, dass sie keine schweren Arbeiten ausüben. Meist betreiben sie informellen Handel und dies auf eigene Rechnung.

Die Regierung hat jüngst Zahlen einer eigenen Studie bekannt gegeben, nach der die Zahl arbeitender Kinder in Bolivien im letzten Jahrzehnt auf die Hälfte gesenkt werden konnte.

Man muss nur auf die Straße gehen… , Foto: terre des hommes-Arbeitsgruppenreise

Ich glaube, die sollten besser ihre Methoden überprüfen. In Potosí braucht man keine Studien. Man muss nur auf die Straße gehen, um zu merken, dass die Zahl der Kinderarbeiter zugenommen hat.

Wenn Kinderarbeit eine Folge der Armut ist und der Anteil extrem Armut nach offiziellen Zahlen ebenfalls um die Hälfte reduziert wurde, dann müsste eigentlich auch die Zahl der arbeitender Kinder zurückgegangen sein.

Ich glaube nicht. Wir haben mit arbeitenden Kindern zu tun und da müssen wir von extremer Armut reden. Die Regierung sagt auch, dass die Jugendarbeitslosigkeit abgenommen hat. Aber nach unseren Zahlen hat sie zugenommen. In Potosí gibt es für Jugendliche kaum Beschäftigungsalternativen zur Bergwerkswirtschaft. Die Zahl der Jugendlichen, die im Bergwerk arbeiten, aber nicht registriert sind, hat vielmehr zugenommen. Im Jahr 2009 gab es die letzte Untersuchung. Da war von 120 bis 130 Jugendlichen die Rede. Heute sind es viel mehr. Vor allem Jugendliche, die aus ländlichen Regionen in die Stadt migrieren.

Im vergangenen Jahr hat das bolivianische Parlament das Kinder- und Jugendgesetz 548 geändert. Der Genehmigungsmechanismus für die Arbeit von 10 bis 14-Jährigen unter bestimmten Auflagen wurde gestrichen. Was hat sich seitdem für die Kinder geändert?

Mit oder ohne Gesetz, mit oder ohne die internationalen Konventionebn haben die Kinder in all den Jahren gearbeitet. So sollten wir als Erwachsene zu allererst wahrnehmen, dass die Kinder weiter arbeiten, weil sie darauf angewiesen sind. Bolivien ist ein Land voller Kinderarbeiter. Wer das nicht anerkennt, macht diese Kinder nur noch verwundbarer für Ausbeutung, Misshandlung und Diskriminierung. Wir hatten jüngst das Beispiel einer zehnjährigen, die als Kindermädchen ausgebeutet wurde, der man aber ihr Gehalt verweigert hat. Laut Gesetz ist ihre Arbeit illegal. Sie kann also keine Ansprüche einklagen.

Das ist ein Fall für die städtischen Kinderrechtsbüros

Zweifellos. Aber die Büros können die Arbeitsrechte auch nicht einfordern, weil die Arbeit illegal ist. Das einzige was sie tun würden, wäre, die Mutter zu bestrafen. Die Familie wird sich deshalb hüten, den Fall anzuzeigen. Sie leben in Armut und alle müssen mitarbeiten. Es gibt keine gesetzliche Regelung, die diesem Mädchen ihre Ansprüche erfüllt. Ich will nicht behaupten, dass der geänderte Artikel 129 vorher viel geholfen hätte. Aber es war immerhin ein Instrument, um einzelnen Kindern zu ihrem Recht zu verhelfen. Wir hatten frühere Fälle, in denen das Kinderrechtsbüro in diesem Sinne eingeschritten ist. Das Mädchen hat dann zwar nicht in der selben Familie weiter arbeiten können, aber immerhin das vereinbarte Gehalt ausgezahlt bekommen. Und bei der nächsten Arbeit wusste sie genau, welche Rechte sie für eine Arbeit unter würdigen Bedingungen hatte. Es wurde vereinbart, was sie zu arbeiten hat, was sie dafür bekommt. Heute ist das nicht mehr möglich. Man kann keinen Vertrag unterzeichnen für eine Arbeit, die illegal ist. Heute sind die Kinder wieder unsichtbar für die Behörden und damit verwundbarer.

Es hat in jüngerer Zeit in Potosí eine Veranstaltung der Regierung mit Kindern und Jugendlichen zum Thema der Entkolonialisierung Potosi gegeben, an dem sich die arbeitenden Kinder Gehör verschafft haben. Was wurde da diskutiert?

Die Kinder haben zum Ausdruck gebracht, dass sie mit der Gesetzeslage nicht einverstanden sind. Die Gesetze schliefen den Schlaf der Gerechten. Sie haben den Regierungsvertretern deutlich gesagt, dass die Gesetze eine Sache seien, und ihre Wirklichkeit eine andere. Sie würden misshandelt, manche gar vergewaltigt. Und trotz der offiziellen Politik der Entkolonialisierung fühlten sie sich in der globalisierten Welt über Handy, Musik und Botschaften der Gewalt kolonisierter als früher. Sie erkennen nicht, dass die Regierungspolitik dem wirklich etwas entgegen setzt. Einer von ihnen sagte: Wir verlieren hier nur Zeit, wenn wir über Entkolonialisierung reden und dass wir alle Quechua lernen müssen. Die Regierung solle pragmatischer sein und Lösungen für die tatsächlichen Probleme anbieten. Genauso wichtig wie das Quechua sei der Englisch-Unterricht in den Schulen, um konkurrenzfähig sein zu können. Man könne der Welt nicht entfliehen. Wir brauchen auch die Technik, sagten die Kinder, und lasst uns von Entwicklung reden. Aber von nachhaltiger Entwicklung. Offiziell werde der Schutz der Mutter Erde proklamiert, aber in der Praxis könnten die Unternehmen tun, was sie wollen. So wie aktuell bei der Brandrodung, die die Wälder für die Sojaexporte vernichten. Wer gebietet dem Einhalt? Gesetze und Wirklichkeit klaffen auch hier auseinander. Die Jugendlichen sind diese Inkohärenz und die Wiederholung von Phrasen leid. Viele gehen zu solchen Treffen einfach nicht mehr hin. Es werde das Gleiche wiederholt, was schon vor Jahren gesagt worden sei, aber es gäbe keine Vorschläge und noch weniger konkrete Lösungen für ihre Alltagsprobleme.

Aufgeweckter als früher?                                                           Foto: terre des hommes-Arbeitsgruppenreise

Die Jugend heute ist viel aufgeweckter als früher. Eine Frau sagte mir mal, es habe den Anschein, als würden die Kinder heute schon mit einem Mikrochip im Kopf geboren werden. Aber statt ihre Intelligenz zu fördern, schläfern die Erwachsenen sie mit ihrer Art von Politik und mit ihren bürokratischen Hürden ein. Ich weiß nicht, ob du das hören willst, aber es ist die Wahrheit. Wir sollten die Kinder und Jugendlichen wirklich ernst nehmen. Wir sollten ihre Aktionen fördern. Dagegen versuchen Eltern heute wegen den Fällen von Gewalt, ihre Kinder vor der Welt zu schützen. Aber Schutz darf nicht heißen, die Kinder einzusperren und ihnen damit ihre Flügel abzuschneiden. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem sie ohnehin auf die Straße müssen.

Ein Dankeschön an die ehrenamtlichen Aktiven von terre des hommes, das die Organisation in Potosí und die Arbeit von Luz so wie auch Zorro e.V. bis heute unterstützt, sowie an die Fotografin Katrin Krämer für die kostenlose Zurverfügungstellung der Fotos!

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/latinorama/luz-rivera-fluegel-zum-fliegen/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert