vonPeter Strack 27.06.2013

Latin@rama

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Die fussballerische Spannung zwischen Brasilien und Uruguay ist überwunden. Nach einem hart umkämpften Halbfinal schafft die Seleção Brasiliens überraschend (!, d. S.) den Einzug ins Final des Confed Cup. Brasilien gegen Uruguay ist immer eine harte Sache. Das war es auch schon 1950, als Uruguay Brasilien im WM-Finale besiegte und das ganze Maracanã in ein verzweifeltes Schweigen stürzte.

Ein Kommentar von Beat Wehrle aus São Paulo über die Geschichte von Fussball und Protesten in Brasilien sowie erste Anzeichen für politische Veränderungen.

 

Auch 1950 gab es am Rand der Fussball-WM massive Proteste, auch damals ausgelöst durch den Aufschlag der Tarife des öffentlichen Verkehrs. Die Proteste wurden jedoch gewaltsam unterdrückt, und die Weltöffentlichkeit erfuhr kaum etwas. Jetzt tritt majestätisch der Herr Präsident der FIFA an die Öffentlichkeit und lässt verlauten, dass die Proteste nichts mit Fussball zu tun haben. „Das sind soziale Probleme Brasiliens, die intern gelöst werden müssen“, liess er gestern die Presse informieren.

Natürlich ist Fussball in Brasilien kein Problem. Die Art der Strukturierung des Fussball-Geschäftes durch die FIFA jedoch und die Kaltblütigkeit, mit der sie die Mechanismen ihres lukrativen Geschäftes auch über nationale Gesetzgebung hinweg aufzwängt, sind bestimmt ein wuchtiger Teil der Gründe der Protestwelle, die über Brasilien fegt. In allen Protesten werden die verschiedenen Regierungsinstanzen Brasiliens scharf kritisiert, doch mindestens so stark wird die FIFA hinterfragt.

Brasilien selber hat natürlich während langen Jahren am Aufbau dieses FIFA-Imperiums gearbeitet. Die brasilianischen Hintermänner der FIFA wurden aber alle durch Korruptionsskandale eingeholt. Vorläufig grinst ihr Handlanger aus der Schweiz noch auf dem FIFA-Thron, doch eine vielversprechende Zukunft hat der Weltfussball mit der aktuellen FIFA-Struktur sicher keine.

Gleichzeitig mit dem Sieg Brasiliens über Uruguay ist auch bei den Protesten der Höhepunkt der Spannung überschritten. Noch immer ist die Protestwelle im ganzen Land präsent, doch die Wucht der Proteste nimmt langsam ab. Auf alle Fälle sind die massiven Manifestationen nicht ohne Wirkung geblieben. In beinahe allen Metropolen Brasiliens wurden die Tarife des öffentlichen Verkehrs wieder reduziert.

Auch Präsidentin Dilma Rousseff, die in ihren zweieinhalb Amtsjahren vor allem die Gouvernabilität mit aller Zärtlichkeit pflegte, eine möglichst breite Regierungsallianz zusammenschusterte, aber dafür immer mehr das eigene Profil verlor, beginnt sich zu bewegen. Auch sie scheint zu lernen, dass der Angriff die beste Verteidigung ist. Seit anfangs Woche überrollt sie die Medien mit konkreten Vorschlägen: Gesundheit, Erziehung und öffentliche Mobilität sollen stärker durch die Erdöleinkommen Brasiliens finanziert werden, Korruption soll härter bestraft werden und eine Reform des politischen Systems soll die Demokratie in Brasilien vertiefen.

Sicher hat die Zentralregierung Brasiliens in den letzten zehn Jahren unter Lula und Dilma innovative Sozialpolitik umgesetzt. Die Armut wurde reduziert und ein Sozialhilfesystem wurde auf nationaler Ebene implementiert. Doch strukturelle Reformen wurden in diesen zehn Jahren keine angepackt. Wenn es aber um mehr als nur um Armutsreduktion gehen soll, wenn endlich die perverse Ungleichheit der brasilianischen Gesellschaft verändert werden soll, dann braucht es strukturelle Reformen.

Massive Proteste gab es nicht nur in den Zentren der Staedte    Foto: Beat Wehrle
Massive Proteste gab es nicht nur in den Zentren der Staedte Foto: Beat Wehrle

Die Reform des politischen Systems ist eine unter ihnen, denn immer mehr ist die repräsentative Demokratie Brasiliens durch die wirtschaftliche Macht ausgehöhlt. Korruption ist die logische Folge. Irgendwie scheint Dilma durch die Kraft des Schreies der Strassen Mut zu fassen. Wer weiss, ihr gelingt endlich eine Annäherung an die sozialen Bewegungen Brasiliens, die ja eigentlich der Nährboden und der Ursprung der Regierungen von Lula und Dilma gewesen sind, jedoch kaum je als effektive Regierungspartner ernst genommen wurden. Dilma scheint den Schwung der Strasse in Druck auf Kongress zu verwandeln, der in den letzten drei Tagen mehr beschloss als in einer ganze Legislaturperiode, die normalerweise in einem unermüdlichen, langatmigen Hin und Her verfliegt.

Die Kraft der Proteste der Strasse ist spürbar wirksam. Sie prangert die Arroganz der FIFA an und zwingt die verschiedenen Regierungsinstanzen zum Handeln. Eine klare Linie und eine organische Koordination hat die Protestwelle keine. Das hat etwas sehr Positives an sich, denn verschiedenste Anliegen und Bedürfnisse können manifest werden. Erfreulich ist ebenfalls die zahlreiche Beteiligung der brasilianischen Jugend. Das Risiko liegt jedoch in der so leichtgemachten Instrumentalisierung der spontanen Bewegung für Anliegen, die nichts mit sozialem Wandel und gesellschaftlichen Veränderungen zu tun haben.

Ganz konkrete Anliegen  Foto: Beat Wehrle
Ganz konkrete Anliegen Foto: Beat Wehrle

Die grosse Herausforderung der nächsten Tage wird es sein, durch die Verbindung der langjährig bestehenden, thematisch organisierten sozialen Bewegungen Brasiliens mit der neuen, starken Protestwelle ein klares Gesicht finden zu können, damit die Kraft der überraschend breiten Mobilisierung auch nach dem Confed Cup wirksam bleiben kann.

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