vonGerhard Dilger 13.12.2025

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Vor vier Wochen entschied die volksnahe Kommunistin Jeannette Jara die erste Runde der chilenischen Präsidentenwahl für sich. Doch im Andenland findet ein besonders gefährlicher, weil solider Vormarsch der Ultrarechten statt: Kaum jemand zweifelt an einem Triumph von José Antonio Kast in der morgigen Stichwahl. Der Sohn eines Wehrmachtsoffiziers, der sich im Wahlkampf betont moderat gab, ist ein führender Protagonist der rechtsextremen Internationalen. Zusammen mit den anderen rechten Kandidaten, darunter dem noch radikaleren Johannes Kaiser, kam er auf 50 Prozent der Stimmen. Auch im Parlament, das die Regierung von Gabriel Boric immer wieder ausgebremst hatte, gibt es einen deutlichen Rechtsruck.

Sechs Jahre nach den monatelangen Straßenprotesten gegen das in Chile besonders stark verwurzelte neoliberale System steht die neue Linke vor einem Scherbenhaufen. Dabei schien gerade sie einen unerhörten Erneuerungsprozess zu verkörpern. Mit großem Schwung, doch völlig abgekoppelt von den „einfachen Leuten“, wurde eine geradezu revolutionäre Verfassung ausgearbeitet. Beim Referendum darüber folgte 2022 die erste kalte Dusche: Nur 38 Prozent der Chilen:innen unterstützten sie. Jetzt landete Jara bei 27 Prozent – ein weiterer Einbruch.

Migration und Unsicherheit waren auch in Chile die wahlkampfbestimmenden Themen. Mit medialer Flankierung betrieben Kast & Co. das Geschäft mit der Angst. Eine schwierige Wirtschaftslage kam hinzu. Dagegen konnte die frühere Arbeitsministerin Jara mit ihrer sozialen Agenda über die linke Stammwählerschaft hinaus kaum punkten. Wegen gravierender handwerklicher Fehler mussten die jungen, unerfahrenen Politiker der „Frente Amplo“ (Breite Front) bald mit jenen wohlbekannten Links-Mitte-Kräften paktieren, die seit 1990 den Neoliberalismus verwaltet hatten. Dabei wurden sie völlig vom alten System aufgesaugt und enttäuschten jene Generation, die es 2019 vermeintlich zum Wanken gebracht hatte.

Doch nur so konnte die Regierung des früheren Studentenführers Boric eine Rentenreform, die Verkürzung der Arbeitswoche, eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung für Arme oder eine Besteuerung der Bergbaukonzerne durchsetzen, wenn auch alles bescheidener als geplant. Für die schwierige Wirtschaftslage wurde die Regeirung verantwortlich gemacht. Nun ist Schadensbegrenzung angesagt – dafür möchte Jara sogar ihre KP-Mitgliedschaft ruhen lassen.

Die Gemengelage in Chile geht allerdings über eine schlichte Rechts-Links-Polarisierung hinaus. Das zeigen die 20 Prozent für Franco Parisi, einen schwer einzuordnenden Anti-Politiker. Zwar setzte er auch er auf Law and Order, aber offenbar holte er auch viele eher unpolitische Menschen ab, die früher die Wahlen boykottiert hatten – seit kurzem herrscht Wahlpflicht. Durch seinen Werdegang verkörpert er die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg aus eigener Kraft, ähnlich übrigens wie Jeannette Jara.

Bleiben die Ultrarechten, die sich in den letzten Jahren langsam, aber sicher vorgepirscht haben. José Antonio Kast grub gar das Mussolini-Motto „Gott, Vaterland, Familie“ aus und machte auch keinen Hehl aus seiner Bewunderung für August Pinochet. Vom Habitus her steht er Georgia Meloni näher als dem disruptiven Javier Milei, doch auch er wird wohl die Kulturkampf-Themen, die er zuletzt ausgeblendet hatte, wiederbeleben. Damit drohen in Chile ebenfalls die Errungenschaften der Frauen- und LGBTQ-Bewegung zurückgedreht zu werden.

Der regionale und globale Kontext begünstigen die reaktionären Kräfte mit ihren einfachen Rezepten zusätzlich. Individualismus, Konsumdenken, Drogenhandel und der Druck auf solidarische Netzwerke nehmen auch in Lateinamerika zu, ebenso die Politikverdrossenheit. Gegen die immer reaktionäreren Oligarchien ist die Linke in der Defensive. Und warum sollte sie sich besser gegen die Aushöhlung der Demokratie durch die Übermacht des Finanz- und Tech-Sektors wehren können als ihre Pendants in Europa oder den USA?

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