vonClaudius Prößer 15.09.2008

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Insgesamt 234 Festnahmen, davon 160 in Santiago, 22 durch scharfe Mu­ni­tion, Schrotkugeln und Steinwürfe verletzte Polizisten und neun ver­letz­te Demonstranten, davon einer mit einem schweren Schädeltrauma, vermutlich durch eine Tränengaskartusche – das war nach Angaben des Innenministeriums die Bilanz der diesjährigen Protestnacht des 11. Septembers. Immerhin: Es gab keine Toten zu beklagen wie in ver­gangenen Jahren.

Die Ausschreitungen am „once“ finden hauptsächlich in armen Rand­be­zir­ken, aber auch im Zentrum von Santiago statt, sie haben sich als Ge­walt­ri­tu­al längst vom eigentlichen Anlass gelöst. Während der Protest von Attacken auf die Infrastruktur der „eigenen“ Viertel geprägt ist (nicht un­ähnlich dem, was in Berlin-Kreuzberg über viele Jahre hinweg am 1. Mai geschah), fährt die Staatsmacht im Gegenzug an Repressionswerkzeug auf, was die Arsenale hergeben.

Zu Schlagstöcken, Gummigeschossen, Tränengas und Wasser hat sich an diesem 11. September eine neue „nicht-tödliche Waffe“ gesellt: Ein Long Range Acoustic Device (LRAD), wie es die USA seit Jahren in ihren Kriegen verwenden, in den hiesigen Medien oft fälschlich als „Ultraschall-System“ bezeichnet. Hier ein kleiner Film von seiner Anwendung in der Avenida Grecia, unweit des Nationalstadions.

Im Gegensatz zu Ultraschall sind die Töne des LRAD für das menschliche Ohr deutlich vernehmbar – überdeutlich, möchte man sagen, denn sie werden mit einem Schalldruck von rund 150 Dezibel auf ihre Opfer losgelassen. Bis zu einer Entfernung von mehreren hundert Metern soll das sirenenartige, in einem engen Winkel ausgestrahlte Signal un­er­träg­lich laut sein: Wer ihm ausgesetzt ist, sucht fluchtartig das Wei­te. Nach Angaben des Herstellers, der US-Firma American Tech­no­lo­gy, können Kreuzfahrtschiffe damit hervorragend Angriffe von Piraten abwehren.

Man ahnt es schon: Die neue Schallwaffe ist keineswegs so ungefährlich, wie ihre Erfinder und Anwender behaupten. Der vom Nachrichtenportal terra.cl befragte Militärexperte Guillermo Holzmann von der Universidad de Chile weiß zu berichten, dass die extrem lauten Töne bei un­sach­ge­mä­ßer Anwendung Hirnschäden hervorrufen können – von Ge­hör­schä­den ganz zu schweigen. Dass das polizeiliche Personal entsprechend ge­schult und vorbereitet ist, darf bezweifelt werden.

Hier in Puerto Montt kommt übrigens tatsächlich eine Ultraschallwaffe zur An­wen­dung: Vor einem Eingang zur großen Shoppingmall an der Ufer­promenade, wo Jugendliche gerne unproduktiv herumsitzen, hat der Be­trei­ber irgendwann vor ein paar Monaten ein „Mosquito“ angebracht – so heißt das Produkt jedenfalls in Europa. Angeblich sind nur Menschen un­ter 25 Jahren in der Lage, die hohe Frequenz wahrzunehmen, sie sollen sie als störend empfinden und den entsprechenden Ort meiden. In Wirk­lich­keit hocken die Kids wie eh und je vor dem Eingang herum, ver­mut­lich haben MP3-Player und Reggaeton-Partys ihr Gehör ab­ge­stumpft. Ich mit meinen knapp 40 Jahren höre das Pfeifen hingegen laut und deutlich, aber auf die Idee, in meiner Freizeit vor einer Mall herumzuhängen, würde ich ohnehin nie kommen.

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