Der bolivianische Innenminister Eduardo del Castillo war empört. Der international gesuchte uruguayische Drogenboss Sebastían Marset hatte in einem TV-Interview Bolivien im Vergleich mit seinem Heimatland und Paraguay als den korrupteren Staat bezeichnet und darauf hingewiesen, dass er aus den bolivianischen Behörden heraus vor einer bevorstehenden Verhaftung gewarnt worden sei. Und Castillo, der sich in der Szene „Sonia“ nennen lasse, möge doch selbst erzählen, was er wisse. Einem Drogenhändler könne man keinen Glauben schenken, entgegnete del Castillo. Doch die Daten des World Justice Index, die Ende November auf einer Tagung zur Situation der Menschenrechte in Bolivien vorgestellt wurden, geben in Bezug auf die Korruption dem Drogenhändler recht. Deutlich wurde auf der Tagung, die vom deutschen Botschafter eröffnet wurde, auch der enge Zusammenhang zwischen mangelnder Rechtsstaatlichkeit und ökonomischen Interessen, sei es der Extraktivismus durch Bergbau oder Erdgasförderung, oder eben die Drogenmafia. Im Mittelpunkt der Kritik steht jedoch die Strafjustiz, die zur politischen Verfolgung missbraucht wird. (Die gesamte Veranstaltung kann über diesen Link nachverfolgt werden).
500 Indikatoren seien in der Erstellung des Rechtsstaats-Index bei Expert*innen und einem Querschnitt der Bevölkerung abgefragt worden, berichtete die Kolumbianerin Natalia Rodríguez Cajamarca der für die Studie verantwortlichen NRO World Justice Project. Dass Bolivien unter 142 untersuchten Staaten nur an Stelle 131 noch hinter dem Iran gelandet ist, überrascht gleichwohl. Nun sind Wahrnehmungs-Umfragen immer von Subjektivität geprägt. Und wenn die schlechte Positionierung Boliviens für eine erhöhte Sensibilität und Menschenrechtsbewusstsein der Bevölkerung des Landes sprechen sollte, wäre das zumindest ein gutes Zeichen. Beim Zugang zu Informationen und den Möglichkeiten, sich in die politischen Debatten einzubringen, steht Bolivien immerhin an der hundertsten Stelle. Auch die Erfüllung der Grundrechte (Platz 111) ist besser bewertet, wenn auch nicht bemerkenswert für ein Land mittleren Einkommens. Bestätigt wird diese Einstufung auch durch den Global Hunger Index, der von Welthungerhilfe, Action Aid und Helvetas ebenfalls in diesen Tagen vorgestellt wurde. Bolivien liegt über dem Weltdurchschnitt, in Südamerika jedoch an drittletzter Stelle vor Ecuador und Venezuela. Der Anteil der Menschen, die nicht ausreichend ernährt werden, ist im Vergleich mit der Situation vor zwei Jahrzehnten drastisch gesunken. Allerdings habe es in den letzten fünf Jahren keine Verbesserungen mehr gegeben.
Deutlich kritischer wird es dagegen im Rechtsstaats-Index des World Justice Project bei der Frage, inwieweit Gesetze auch praktisch umgesetzt werden (Platz 125) und bei der Gewaltenteilung (Platz 126). Bei der Korruption wird Bolivien an Platz 137 von 142 Staaten geführt (Bei Transparency International ist es Platz 126 von 180 untersuchten Ländern). Kein Wunder, wenn ein dringend benötigter Facharzt vom Ministeriumsmitarbeiter mitgeteilt bekommt, vor einer möglichen Einstellung müsse er erst 2000 US Dollar zahlen. Die Genossen hätten schließlich auch Bedürfnisse. Die später fälligen Zwangsabgaben der Staatsangestellten an die Regierungspartei sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.
Das scheinen allerdings Peanuts im Vergleich zu den Summen, die für Bergwerkskonzessionen, Manipulation von Landtiteln oder bei der Auftragsvergabe für öffentliche Bauten bezahlt werden. Mehrfach in der jüngeren Vergangenheit wurden Personen, die Korruption angezeigt hatten oder ihr auf der Spur waren, selbst mit Strafverfahren überzogen und sind später gewaltsam zu Tode gekommen. Selbstmord war die übliche Erklärung der Behörden in diesen Fällen, die letztlich nicht aufgeklärt wurden. Das mag vielleicht aber auch dazu beigetragen haben, dass Bolivien im Index des World Justice Project bei der Strafjustiz an vorletzter Stelle der 143 untersuchten Staaten gelandet ist.
Strafprozesse gegen die politische Konkurrenz
Auf die bekannten Strafprozesse wie gegen den früheren Bürgermeister von La Paz, Luis Revilla, oder die Übergangspräsidentin Jeanine Añez wurde an früherer Stelle in Latinorama bereits eingegangen. Gegen zwei Strafrichter, die sich im Falle der ehemaligen Präsidentin nun für nicht-zuständig erklärt hatten, da Añez ein Sondergerichtsverfahren unter Beteiligung des Parlaments zusteht, wurden Disziplinarverfahren eingeleitet. Die Entscheidung selbst wurde umgehend von der höheren Instanz kassiert. Viele Prozesse finden dagegen weitgehend ohne öffentliche Aufmerksamkeit statt. Der ehemalige Justizminister Coimbra sitzt noch im Gefängnis, weil er im Jahr 2020 eine Kommission eingerichtet hatte, bei der Menschenrechtsverletzungen unter der Vorgängerregierung Morales angezeigt werden konnten. Missbrauch des Amtes und Veruntreuung öffentlicher Gelder wird ihm vorgeworfen. Und jüngst wurde der Energieminister der Übergangsregierung aus dem Jahr 2020 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Damals hatten Anhänger von Evo Morales die Gasleitung zur Düngemittelfabrik in Bulo Bulo gesprengt und so die Produktion zum Erliegen gebracht. Der Minister wurde angeklagt, weil er das damals noch defizitäre Staatsunternehmen inmitten der Corona-Pandemie nicht wieder zum Laufen gebracht hatte. Die durch den Stillstand angewachsenen Instandsetzungskosten wurden nun ihm angelastet. In den drei folgenden Jahren wurde die Produktion gleich elf mal unterbrochen, hat die Journalistin Amalia Pando nachgezählt. Keiner der nun verantwortlichen Minister wurde wegen wirtschaftlicher Schädigung des Staates angezeigt.
Korruption: Mittel zur Bereicherung und Instrument zur politischen Kontrolle
Bolivien hat ein strenges Antikorruptionsgesetz. Aber die Wirkung eines Instrumentes hängt immer auch davon ab, wie es eingesetzt wird. Bei den Millionen Dollar Schaden durch Zweckentfremdung, Bestechung und Scheinprojekte im Fonds für Indigene und Kleinbauern-Gemeinden (FONDIOC) wurden ausgerechnet gegen den Mann über 200 Strafverfahren eröffnet, der die Korruption nach seinem Amtsantritt aufgedeckt und angezeigt hatte. Einer der juristischen Tricks: Aramayo, als späterer Direktor des Fonds in der Rechtsnachfolge verantwortlich, konnte keine Belege für die von anderen entgegengenommenen Bestechungssummen vorweisen. Aramayo war nicht der einzige, der damit vor Gericht gezerrt wurde. Angesichts der systematischen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen (siehe BOLIVIA REPORT_2023 ) zogen es viele jedoch vor, sich schuldig zu bekennen, die fehlenden Summen zu erstatten und mit geringen Strafen davon zukommen. Aber weil Marco Antonio Aramayo sich weigerte, die Verantwortung für die Taten anderer zu übernehmen und die politisch Verantwortlichen zu decken, wurde er in sieben Jahren Untersuchungshaft langsam zu Tode gefoltert und so zum Schweigen gebracht (siehe das Interview „Aufrecht bis zum Ende“ auf Latinorama).
Der frühere Sprecher des Bürger*innen-Komitees von Potosí Marco Pumari ist weiter in Haft. Und da die Staatsanwaltschaft auch nach zwei Jahren keine Beweise für eine Beteiligung an dem Verbrennen von Stimmzetteln vorlegen konnte, die 2019 in einem Privathaus entdeckt wurden, wurde jetzt eine neue Anklage konstruiert: Mitgliedschaft in einer illegalen Vereinigung, missbräuchliche Nutzung öffentlicher Einrichtungen und Komplizenschaft bei Terrorismus sind die Vorwürfe, die sich auf den angeblichen Staatsstreich beziehen, der aus Verhandlungen zwischen Vertreter*innen der politischen Parteien einschließlich der MAS oder mit Militärführern bestand, an denen Pumari aber gar nicht beteiligt war. Deshalb wohl die juristische Konstruktion der Komplizenschaft. Dabei stört es die Staatsanwaltschaft auch nicht, dass die UNO-Institutionen den Terrorismus-Begriff im bolivianischen Strafrecht als viel zu vage kritisiert hatten.
Rechtsstaatliche Strukturen sind schneller zerstört als aufgebaut
Soraya Santiago Salame beschrieb auf der Tagung in La Paz den Prozess der Erosion des in der „fortschrittlichen Verfassung“ von 2009 verankerten Prinzips der Gewaltenteilung. Die Regierung habe die Degenerierung einer Justiz vorangetrieben, die schon zuvor viel zu wünschen übrig ließ. Bereits 2010 sei ein Gesetz verabschiedet worden, dass die Richterlaufbahn aufgehoben habe. Die Verträge von acht Jahrgängen gut ausgebildeter Laufbahn-Richter*innen seien befristet und diese damit von der Regierung abhängig geworden. Bis zu den in der neuen Verfassung vorgesehenen Richterwahlen habe Evo Morales dann per Dekret neue obersten Richter ernannt. Und bei den anschließenden Wahlen habe die MAS mit ihrer Zweidrittelmehrheit praktisch alleine entschieden. Wahlkampf der Kandidat*innen war zwar nicht erlaubt, aber unter den Anhänger*innen der MAS kursierten die Listen der von der Parteiführung gewünschten Personen. Mit den meisten Stimmen wurde damals der Aymara Gualberto Cusi an die Spitze des Verfassungsgerichts gewählt. Doch da er unabhängige Entscheidungen traf, wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Amtsmissbrauch eröffnet. Mit der Zweidrittelmehrheit der Regierung im Parlament 2017 wurde er wieder abgesetzt. Die Mitglieder des Wahlgerichtshofes erlebten ähnlichen Druck, bis dessen unabhängige Mitglieder entweder zurückgetreten oder gar ins Exil gegangen waren. So Rosario Baptista, gegen die ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde, weil sie bei der Organisation Amerikanischer Staaten eine Überprüfung des bolivianischen Wahlregisters angeregt hatte. Dies garantiere nach Einschätzung von Baptista keine sauberen Wahlen.
Wo der Generalstaatsanwalt handelt und wo nicht
Ein Markstein war laut Santiago Salame auch die Wahl von Juan Lanchipa zum Generalstaatsanwalt ein Jahr später. Schon der Vorgänger galt als verlängerter Arm der Regierung. Doch gegen Lanchipa seien damals mehrere Verfahren wegen Korruption anhängig gewesen. Genau das macht ihn abhängig. So schert sich Generalstaatsanwalt Lanchipa nun auch nicht um das Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs, das ihn verpflichtet hat, Untersuchungen wegen außergerichtlicher Tötungen durch die Staatsorgane im Hotel Las Américas in Santa Cruz in der Regierungszeit von Evo Morales aufzunehmen.
Die Straflosigkeit ist wohl auch ein Grund dafür, dass die damals angewendeten Methoden bis heute Praxis sind. Under cover oder gar offen werden gewaltsame Auseinandersetzungen organisiert oder provoziert, um später allein Oppositionelle dafür verantwortlich zu machen und zu inhaftieren, etwa Brandanschläge auf Polizeistationen. Ein trauriger Höhepunkt in diesem Jahr war, als vermummte Gewalttäter gemeinsam mit der Polizei beim Konflikt um den Kokabauernmarkt von La Paz gewalttätig gegen Journalisten vorgingen. Oder als Soldaten in Zivil sich mit Sprengstoff unter regierungskritische Demonstranten mischten, um diese später als „Gewalttäter“ festzunehmen. Dabei hatten sie sich nur mit Schutzschildern gegen Steine werfende MAS-Anhänger geschützt, statt vor der Gewalt Reißaus zu nehmen.
Strafverfahren gegen Oppositionelle werden selbst für nebensächliche Ereignisse eingeleitet wie der Abnahme der Whipala, der indigenen Flagge aus dem Hochland, beim Feiertag der Tieflandmetropole Santa Cruz. Angeklagt wurden dabei selbst Personen, die gar nicht anwesend waren. Während illegale Landbesetzer freigelassen wurde, die zur Basis der Regierungspartei gehören und die im Oktober 2021 auf dem Landgut Las Londras Journalist*innen entführt und gefoltert hatten. Sie hatten später sogar auf Polizisten und den Staatsanwalt geschossen, um einer Verhaftung zu entgehen und waren vorher wie nachher bei ähnlichen Aktionen aufgefallen. Auf der Tagung in La Paz wurde von Todesdrohungen gegen den Anwalt der Opfer sowie Journalisten berichtet, die den Fall in Las Londras dokumentiert hatten.
Wäre der Staatsanwalt nicht vom Fall abgezogen und ersetzt worden, und wären die Gerichte in der Folge weniger nachsichtig mit den Tätern gewesen, wer weiß ob Anfang Dezember diesen Jahres die gewaltsamen Landkonflikte in Las Londras wieder aufgeflammt wären: Diesmal zwischen Gruppen von Siedlern und Kleinbauern, die beide der Regierungspartei nahestehen. Dabei auch wieder Täter von Las Londras aus dem Jahr 2021. Selbst auf Krankenwagen wurde geschossen, die Verletzte in Sicherheit bringen wollten. Ein Todesopfer war zu beklagen. Die herbeigerufene Polizei zog wieder ab, ohne einzugreifen.
Menschenrechtsaktivist*innen im Visier der Staatsorgane
Es ist nicht nur Verantwortung der Staatsorgane, die Menschenrechte durchzusetzen, es ist auch Aufgabe des Staates, Menschenrechtsverteidiger*innen zu schützen, betonte Miguel Miranda vom CEDIB (Informationszentrum Bolivien), Mitorganisator der Tagung in La Paz. Doch die dort präsentierten Fälle zeigen das Gegenteil. Wie im Ayllu Antequera bei Oruro, in dem Bergbaukonzerne wie COMSUR (des Ex-Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada), später die Schweizer Glencore-Tochter Illapa, die ab 2021 an ein kanadisches Unternehmen verkauft ist, durch ihren hohen Wasserbedarf zum Vertrocknen der Weideflächen und Versteppung der Äcker geführt haben. Als Gemeindeglieder von Illapa die ihnen rechtlich zustehenden und in einem Vertrag von 2023 vereinbarten Kompensationen und Maßnahmen zur Wiederherstellung des Habitats eingefordert hätten, seien Angehörige entlassen und gegen sie selbst wegen ihren Protestaktionen Prozesse eröffnet worden.
Ein ähnliches Schicksal erlebten Hüter des Nationalparks Madidi, die illegal tätige Goldfirmen (siehe diesen früheren Beitrag auf latinorama) angezeigt hatten. Doch statt einem Richterspruch Folge zu leisten, der wegen Vergiftung von Wasser und Nahrung durch Quecksilber den Stopp der Goldproduktion angeordnet hatte, und anstelle eines Prozesses gegen die Goldfirmen läuft nun ein Strafverfahren gegen die Parkhüter wegen angeblicher Verleumdung. Da hilft es ihnen auch nicht, dass sie im staatlichen Auftrag nur ihrer Pflicht nachgekommen sind.
Es geht auch um Geld: Territorial- und Umweltkonflikte
Die Hälfte der Attacken gegen Menschenrechtsaktivist*innen in Bolivien fänden im Kontext von Territorial- und Umweltkonflikten statt, so Miranda. So sei ein Viertel der Wassereinzugsgebiete Boliviens von Bergwerksaktivitäten betroffen. Etwa ein Drittel der Attacken seien Versuche, strafrechtlich gegen die Menschenrechtler*innen vorzugehen. Hinzu kämen Kampagnen der Regierung mit dem Ziel, die Protestbewegung oder widerständige Gemeinden und Organisationen zu spalten oder die Aktivist*innen zu diskreditieren. Auch Maßnahmen, ihre Finanzquellen zu beschneiden gehören zum Repertoir. Das CEDIB selbst hat so etwas vor Jahren mit der Sperrung seiner Konten durch die Regierung erfahren müssen. Andere werden immer wieder von der Finanzaufsicht kontrolliert. Rückwirkend werden neue Regeln geschaffen, um anschließend Bußgelder erheben zu können. Bei neun von zehn Attacken gegen Menschenrechtler*innen seien staatliche Akteure beteiligt, berichtete Miranda in La Paz.
Seit sieben Jahren liegt bei der interamerikanischen Menschenrechtskommission ein Antrag auf Schutzmechanismen gegen das bolivianische NRO-Gesetz aus dem Jahr 2013 vor. Das Gesetz schränkt die Organisationsfreiheit dadurch ein, dass es Nichtregierungsorganisationen nur Aktionen erlaubt, die im Rahmen der staatlichen Planung liegen. Und politische Bildung gehört laut Interpretation der bolivianischen Autokraten nicht zu den Aufgaben einer privaten Organisation, zumindest wenn es um konfliktive Themen geht. Bis heute warten die beschwerdeführenden Institutionen auf eine Schutzmaßnahme der CIDH. Es kam nicht mehr als eine Eingangsbestätigung. Was eher wie bürokratische Nachlässigkeit klingt, wird unentschuldbar, wenn das Leben direkt bedroht ist, wie beim Bauernführer César Apaza, der als Anführer der Proteste gegen einen illegalen Kokamarkt ins Gefängnis gesteckt und mißhandelt wurde.Dabei war die CIDH in der Vergangenheit durchaus innerhalb weniger Tage mit der Anordnung von Schutzmaßnahmen aktiv geworden, etwa als Protestierende 2019 eine Sitzblockade vor dem Büro des Ombudsmannes in Cochabamba und späteren MAS-Kandidaten für das Bürgermeisteramt organisiert hatten, um von diesem eine unabhängige Position im damaligen Konflikt einzufordern.
Einschränkungen der Pressefreiheit
Oscar Campanini vom CEDIB sieht in der Tatsache, dass in Bolivien keine Menschenrechtler*innen auf der Straße erschossen würden, den Grund dafür, dass die Beschränkungen des zivilgesellschaftlichen Spielraums nicht so präsent auf dem Radar der internationalen Instanzen seien. Ein weiterer Grund dürfte eine umfangreiche Kontrolle der Medien bei gleichzeitig schwacher Präsenz internationaler Presse im Lande sein. Der NRO-Dachverband UNITAS registrierte im Jahr 2022 über 200 Angriffe auf die Pressefreiheit, darunter 75 Fälle von Ausübung physischer Gewalt,19 Drohungen und 12 Strafanzeigen gegen Pressevertreter*innen.
In 26 Fällen physischer Gewalt gegen Journalist*innen in Santa Cruz wurden 19 Anzeigen von der Staatsanwaltschaft aber nicht einmal angenommen. Fünf wurden an die internen Disziplinarmechanismen der Polizei verwiesen, berichtete Raquel Guerrero, Anwältin des bolivianischen Verbandes der Journalist*innen, der dritte Mitorganisator der Veranstaltung in La Paz. Die Verletzung der Pressefreiheit habe in den vergangenen Jahren noch zugenommen, so Guerrero, ohne dass der Staat Gegenmaßnahmen ergriffen habe. Hinzu kommt eine restriktive Informationspolitik, die die regierungsnahen Medien bevorzugt, sowie eine selektive Vergabe von Anzeigengeldern.
Auch verstärkte fiskalische Kontrollen und Bußgelder würden eingesetzt, um regierungskritische Medien wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Nachdem der MAS sich zerstritten hat, wird dieses Problem auch von Evo Morales Anhängern thematisiert. Zuletzt traf es „Los Tiempos“, die wichtigste Zeitung von Cochabamba, der Hochburg von Morales, sowie „El Alteño“ aus El Alto. Zunächst hatte Juan Valdivia, Besitzer des gleichnahmigen Investors und ehemaliger Abgeordneter der MAS, eine Minderheitsbeteiligung des Zeitungsunternehmens aufgekauft. Mit der habe er wirtschaftliche Rettungsmaßnahmen blockiert und die Zeitung in den Ruin getrieben, kritisierte die bisherige Herausgeberin. Schon am Tag nach der Übernahme auch der restlichen Aktien durch Valdivia, erschien bereits die erste von der Arce-Regierung bezahlte Werbebeilage.
Es geht der Regierung anscheinend nicht nur um die Ausübung, sondern auch um die Demonstration der eigenen Macht. Dies ist kein Hoffnungszeichen für eine baldige Verbesserung des Status von Bolivien im Rechtsstaats- und Menschenrechtsranking.
Nachtrag: einen Überblick über die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit und Korruption in Lateinamerika gibt Sandra Weiss in der online-Zeitschrift IPG