vonGerhard Dilger 18.12.2023

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VON STEFAN HAVEL

Javier Milei ist Präsident. Er hat sich in der Stichwahl mit über 55 Prozent gegen den peronistischen Kandidaten Massa durchgesetzt. Die Zeremonie der Amtsübergabe hat am Sonntag, den 10. Dezember 2023, friedlich und fast ohne Zwischenfälle stattgefunden. Zweimal fuhr der neue Amtsinhaber vor unserer Haustür in der Avenida de Mayo vorbei: Einmal auf dem Weg zum Kongress, und eine Stunde später von dort zurück zum Präsidentenpalast, der Casa Rosada.

Beruhigend war auf jeden Fall für die deutsche Bundesregierung, die nicht an den Feierlichkeiten zur Amtsübergabe teilnahm: Der neue argentinische Präsident ließ sich mit Gefährten deutscher Produktion transportieren, auf der Hinfahrt in einer atlantikblauen SUV-Limousine von Volkswagen, auf der Rückfahrt an Bord eines PS-starken schwarzen Mercedes-Cabriolets, von wo aus er die Schaulustigen grüßte, stets in Begleitung seiner drei Jahre jüngeren Schwester Karina Milei, der Strategin seiner Kampagne, von ihm schon mal als „El Jefe“ und als „Mesías“ bezeichnet. In früheren Jahren arbeitete die diplomierte PR-Managerin als Konditorin, Bildhauerin und Reifenhändlerin. Jetzt wird sie wohl die Funktion der First Lady an der Seite ihres unverheirateten Bruders übernehmen.

Sozialer Albtraum?

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Nun wird also harte Realität, was unsere eher linken, liberalen, toleranten und weltoffenen Freundinnen und Freunde verhindern wollten: Milei sollte auf keinen Fall gegen Sergio Massa gewinnen, denn dadurch, so ihre Befürchtungen, werde das Land in einen sozialen Albtraum gestürzt, in dem die ohnehin schon zahlreichen Armen weiter ins Elend abgleiten und das Land durch die unvermeidlichen sozialen Proteste unkontrollierbar werden und vielleicht in blutige Anarchie geraten könnte. Wird es so kommen?

Niemand ist im Moment in der Lage, hier zuverlässige Vorhersagen zu machen. Das Rätselraten und das mehr oder weniger parteiliche Kommentieren und Lamentieren in den Medien verdichtet sich zu einem vielstimmigen Chor, aus dem sich nicht viel Konkretes ableiten lässt. Seit letzter Woche ist klar, dass die teilweise erstaunlichen Subventionen der Vorgängerregierung enden werden. Konkret: Die Preise im öffentlichen Nahverkehr und bei der Energie- und Wasserversorgung werden um mehrere hundert Prozent steigen.

Der offizielle Dollarkurs, bisher künstlich niedrig gehalten, verdoppelt sich und damit wird die Inflationsrate weiter in die Höhe schnellen, sodass sich die Nahrungsmittel sicher drastisch verteuern werden und der Hunger in immer weiteren Bevölkerungsschichten unvermeidlich wird. Es wird keinerlei Investitionen der öffentlichen Hand mehr geben, laufende Projekte (Straßenbau, Infrastrukturmaßnahmen, öffentliche Gebäude usw.) werden eingefroren. Auf der anderen Seite wird es kaum noch Anpassungen der Löhne an die astronomisch steigenden Lebenshaltungskosten geben.

Die Freiheit, zu verhungern?

Milei schrie in der Ansprache nach der Übergabezermonie immer wieder: „¡No hay plata!“ (Es gibt kein Geld)! Kurz darauf brüllte er dann wie häufig während des Wahlkampfs: „¡Viva la libertad, carajo!“ (Es lebe die Freiheit, verdammt noch mal!). Man kommt als Zuhörer ins Grübeln, was er damit meint: Die Freiheit, zu verhungern? Die Freiheit, auf die Straße zu gehen und alles kurz und klein zu schlagen, weil man sowieso nichts zu verlieren hat? Die Freiheit der Unternehmer, sich zu bereichern?

Letzteres könnte durchaus sein, denn Milei nahm in seiner Rede Bezug auf zwei besonders kapitalismusfreundliche und profitorientierte Amtsvorgänger aus dem 19. Jahrhundert (Julio Roca und Domingo Faustino Sarmiento), von denen er Zitate zum Besten gab, in denen Leistung und Härte gegen sich selbst und andere glorifiziert werden.

Ein Zurück ins 19. Jahrhundert, in das Zeitalter des Nationalismus, der kolonialistischen Ausbeutung, des Enrichissez-vous, des Genozids der Urbevölkerung? Möglicherweise schreitet er in diese Richtung.

Rückkehr zur Demokratie

Für mich als Zuhörer war jedenfalls auffällig, dass er bei seiner Rede am 10.12.2023 sich nicht bemüßigt gefühlt hat, auf den 10.12.1983 Bezug zu nehmen, an dem an der selben Stelle Raúl Alfonsín vereidigt wurde, der erste demokratisch gewählte Präsident Argentiniens nach der grausamen, siebenjährigen Militärdiktatur von 1976 bis 1983. Diese Rückkehr zur Demokratie vor 40 Jahren hätte ein gutwilliger, dem Wohl von Volk und Staat dienender Präsident auf jeden Fall erwähnen müssen. Was führt Milei im Schilde?

Dieser Mann ist kein Dummkopf, er hat als Wirtschaftswissenschaftler veröffentlicht und an anerkannten Universitäten im In- und Ausland gelehrt. Er wirkt jedoch unbeherrscht, aggressiv, ideologisch starrsinnig und selbstgefällig. Mich erinnert sein öffentliches Auftreten an das auftrumpfende Gehabe von Jünglingen in den Flegeljahren, die ihre Unsicherheit durch Großmäuligkeit überspielen. Auch sein Hang zur Provokation verweist auf eine unreife Persönlichkeit: Der Amtsstab, den jeder Präsident zusammen mit der Schärpe in den Nationalfarben überreicht bekommt, wird jeweils nach den Wünschen des Amtsinhabers gestaltet.

Milei ließ auf der Spitze des Stabes eine Bronzeplakette anbringen, die seine englischen Mastiffs darstellen, mit denen er seit Jahren eine Wohnung teilt. Sie heißen: Conan, Murray, Milton, Robert und Lucas. Die Namen sind von Bedeutung: Conan trägt seinen Namen von dem prügelnden Hollywood-Helden „Conan der Barbar“ – er war der 2017 gestorbene Ahn der vier anderen Hunde, die Milei in den USA aus den Genen Conans klonen ließ. Diese vier tragen die Namen von Wirtschaftswissenschaftlern, die Milei verehrt: Murray Rothbard, Milton Friedman, Robert Lucas, allesamt Verfechter des Neoliberalismus.

Ministerium für menschliches Kapital

Es spricht Bände, wenn ein Präsident die Porträts von fünf besonders großen und bis zu neunzig Kilo schweren Hunden auf seinen Amtinsignien mit sich herumträgt. Ganz folgerichtig ließ er auch am Sonntag bei seiner Autofahrt durch die jubelnden Massen nur einmal anhalten – um einen Golden Retriever zu liebkosen. Einen Händedruck mit einem Menschen hat er nicht ausgetauscht. In diesem, sagen wir, „menschenfeindlichen“ Licht erscheint auch Mileis Entscheidung, ein „Ministerium für menschliches Kapital“ einzurichten, in dem die bisherigen Ministerien für Arbeit, Soziales, Erziehung und Gesundheit aufgehen werden.

Mir ist mulmig angesichts dessen, was sich da zusammenbraut. Milei wird sehr viel Gegendruck erzeugen durch seine marktradikalen und kaum auf die Rechte und das Wohlergehen der Bürger*innen achtenden Radikalmaßnahmen. Wenn er diesem Gegendruck mit Gewalt begegnen wird, dann kommt es 2024 in Argentinien voraussichtlich zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

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kommentare

  • Der Papst, ein Argentinier von italienischen Eltern hat den Mexikanern erklaert: „Wenn der Argentinier Selbstmord begehen will steigt er hoch auf sein Ego und stuerzt sich von dort hinab !“. Viele arme Maenner von Italien wanderten nach Argentinien und das praegte das Verhalten des Staedter in Argentinien. Der Text das Tango „Garufa“ beschreibt den Mann der argentinischen Grossstadt. Der „Gaucho“ auf dem Land hat mehr das nuechterne Rauhe der spanischen Machos und deren geduldigen indianischen Frauen. Die Argentinierin hat ein mildes, liebliches aber emotionales Wesen: Hoere das in dem Singen der Tangosaengerinen. Lateinamerika offenbart sich in seiner Musik. (So wie Deutschland jetzt sich weltweit offenbart: „Blood and Glitter“ ! ) Alle Lateinamerikaner hassen ihre Regierungen und lieben ihre Nationalmusik.

  • Jeder demokratische Staat bekommt die Regierung, die er verdient. Manche wird er nur nicht wieder demokratisch los. Putin beispielsweise. Wenn Leute wie dieser argentinische Grusel-Clown und Donald Trump eine Mehrheit erreichen, ist das ein Zeichen dafür, daß die Maschinen smarter werden, die Menschen aber verblödet. Im Straßenverkehr gibt es Kontrollen hinsichtlich der Fahrtüchtigkeit. An der Wahlurne nicht. Da kann man ruhig vollgedröhnt seine Stimme abgeben. Bei Briefwahl kann ein Clan-Chef die Stimmen seines Clans „bündeln“. Die Wahlen sind immer noch „frei“, aber nur von Vernunft. Das wird uns doch immer von den unterirdischen Wahlplakaten aller Parteien vorgeführt. Inhalte 0%, Emotionen 100%.

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