Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in Bolivien sowohl unter der letzten Regierung von Evo Morales und mehr noch unter der Übergangsregierung von Jeanine Añez konstatiert der Bericht der unabhängigen Kommission der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, der vergangene Woche in Bolivien öffentlich vorgestellt wurde (hier der komplette Bericht).
Der untersuchte Zeitraum bezieht sich auf die gewaltsamen Konflikte vor und vor allem nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl 2019, die später vom Parlament annulliert wurde und zu der nun auch noch das Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof vorliegt: Es gebe kein Menschenrecht auf unbegrenzte Kandidatur für das Präsidentenamt. Auf ein solches hatte sich nicht nur Nicaraguas Daniel Ortega, sondern auch das bolivianische Verfassungsgericht berufen. Damit waren die begrenzenden Bestimmungen der Verfassung des Andenstaates für verfassungswidrig erklärt worden, um so einer erneuten Kandidatur von Evo Morales den Weg zu öffnen.
Dabei geht es im damals zitierten Paragraphen des Paktes von San José gerade um die Begrenzung von Macht, nicht ihre Fortschreibung, womit auch der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof sein mehrheitlich gefälltes Urteil begründet hat. Eine der beiden Gegenstimmen stammte von dem Peronisten Eugenio Zaffaroni, persönlicher Anwalt von Evo Morales während seines argentinischen Exils.
Die fehlende Unabhängigkeit der bolivianischen Justiz und Menschenrechtsverletzungen durch Militär, Polizei und Justiz sind die Hauptkritikpunkte, die von der unabhängigen Gutachtergruppe in ihrem Dokument zu den Konflikten 2019 ausführlich dargestellt werden – unmenschliche Behandlung, sexualisierte Gewalt und Folter eingeschlossen. Bei Strafanzeigen fehle häufig die individualisierte Feststellung der Schuld. Das Instrument der Untersuchungshaft werde exzessiv angewandt. Es verschwinden Beweismaterialien. Gerichtsmedizinische Gutachten erfüllten nicht die Mindeststandards. Hinweise werden nicht weiter verfolgt und Verfahren eingestellt, wo es den politisch Mächtigen opportun erscheint.
Die Gutachtergruppe kritisiert das nicht nur bei den Regierungen von Morales und Añez, sondern auch in Bezug auf die aktuelle Regierung unter Präsident Arce (siehe auch den Beitrag “Zwischen Amnestie und Amnesie” auf latin@rama).
Die 2021 vom Parlament beschlossene Generalamnestie für Anhänger*innen der Regierungspartei MAS soll zwar nach Aussagen des Präsidenten auf den Prüfstand. Doch in der Praxis spricht wenig dafür, dass der aktuelle Präsident den Konflikt mit Evo Morales und der MAS riskiert, und dass die Empfehlungen der Kommission von der derzeitigen Regierung ernst genommen werden. Auch nicht von der Justiz.
In zentraler Verantwortung steht der Generalstaatsanwalt, der noch von der Morales-Regierung eingesetzt worden war und bis heute im Amt ist. Dies trotz der niederschmetternden Einschätzung seiner Arbeit durch die Expertenkommission des Menschenrechtsgerichtshofs.
Obwohl die Expertenkommission der Meinung ist, dass es keine Verletzung des humanitären Völkerrechts gegeben habe, besteht der Generalstaatsanwalt auf seiner Anklage gegen Jeanine Añez wegen Völkermordes. Und obwohl die Kommission betont, dass sie die umstrittene Frage, ob es 2019 Wahlbetrug oder einen Putsch gegeben habe, nicht behandelt habe, behauptete Präsident Arce, der Bericht habe seine Hypothese vom Putsch bestätigt.
Ohne vollständig zu sein, ist der Bericht und ist die Liste der konkret untersuchten und vorgestellten Fälle schmerzhaft lang. Die Beschreibungen sind bedrückend. Die kombinierten Militär- und Polizeieinsätze der Añez-Regierung gegen die protestierenden Kokabauern in Sacaba bei Cochabamba und der Einsatz gegen die Blockade der Gasversorgung von La Paz in El Alto werden von der Kommission wegen des exzessiven Einsatzes von Gewaltmitteln, der fehlenden Verhandlungsbereitschaft und vor allem wegen der zahlreichen Toten als Massaker eingestuft. Dafür sei die damalige Übergangsregierung verantwortlich.
Evo Morales und Partei- und Regierungsmitglieder der MAS wiederum hätten die Schüsse von Scharfschützen und Übergriffe auf Bergarbeiter und andere Protestler*innen aus Sucre und Potosí in der Nähe von Oruro gemeinsam mit gewalttätigen Zivilisten geplant und organisiert. Auch hier gäbe es staatliche bzw. Regierungsverantwortung. Und das passive Verhalten der Polizei bei Übergriffen von Kokabauern gegenüber den Aktivist*innen der Straßenblockaden in Cochabamba vor der Eskalation könne durchaus als einseitige Parteinahme und staatliches Versäumnis interpretiert werden.
Ohnehin seien die Demonstrationen und Blockaden, die zu gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt haben, nicht unerwartet gekommen. Sie seien das Ergebnis von politischen Diskursen und politischen Entscheidungen, die die Grundregeln des demokratischen Zusammenlebens in Frage gestellt hätten. Politische Gefolgschaft sei rassistisch identifiziert worden, um andere Gruppen auszuschließen. Ethnische Zugehörigkeit sei als Kriterium für die Anerkennung der sozialen Teilhabe verwendet worden.
Die Expertengruppe erkennt zwar die positiven Elemente der gesellschaftlichen Dynamik von Demonstrationen oder Volksversammlungen von Interessenverbänden an. Dies führe aber auch zu Konflikten zwischen diesen Gruppen. Deshalb sei es wichtig, eine demokratische Kultur des Dialogs zu fördern, um diese Energien zu kanalisieren. Um so wichtiger sei die Gewaltenteilung zwischen den Staatsorganen. Deren Sicherstellung erfordere einen Dialog zwischen den politischen Gruppierungen. Forderungen, die nicht nur an radikalisierte und gewaltbereite rechte Gruppierungen aus Santa Cruz oder Cochabamba zu richten sind, sondern auch an die MAS und die Regierung selbst.
Dem Bericht ist anzumerken, dass die Regierung einige Wochen die Gelegenheit hatte, ergänzendes Material zu schicken oder Kritik an eigenen oder Gewalttaten der eigenen Anhängerschaft zu relativieren. Der Audiomitschnitt (ab Minute 44) von einer Kokabauernversammlung, bei der die Entsendung von Scharfschützen nach Sacaba angekündigt wurde, und Dokumente zu Einschüssen an Militärfahrzeugen gehörten offensichtlich nicht zu den ergänzten Beweisstücken.
Die Fabrikation von Molotov-Cocktails im Kultusministerium wird zwar nicht geleugnet, aber im Bericht verweist man vor allem auf fehlende Beweismaterialien für die individuelle Verantwortung zum Beispiel der damaligen Ministerin. Eine Sorgfalt, die der Generalstaatsanwalt heute gegenüber der Ex-Präsidentin Añez auch nach dem Bericht der Kommission immer noch nicht anzuwenden bereit ist. Er wirft ihr Terrorismus und Verschwörung vor, obwohl ihr Name in der viele Seiten langen Anklageschrift an keiner Stelle auftaucht, wo es um die ihr vorgeworfenen Taten geht.
Dass Jeanine Añez wegen ihrer Verantwortung für politische Verfolgung und die Tötung von Blockierer*innen in ihrer Amtszeit eines Tages vor Gericht gestellt werden sollte, daran dürfte es nach dem Kommissionsbericht wenig Zweifel geben. Doch anders als die MAS und der Generalstaatsanwalt es jetzt darstellen, gilt die Aufforderung der Kommission, Menschenrechtsvergehen zu bestrafen, nicht nur in Bezug auf Mitglieder der derzeitigen politischen Opposition. Ein den Gesetzen entsprechendes parlamentarisches Verfahren gegen Añez wird sich nur durch eine unabhängigere Justiz auf den Weg bringen lassen, die dann auch für den Ex-Präsidenten Morales gilt.
Der ließ verlautbaren, dass kein Verfahren gegen ihn zu einer Verurteilung führen könne. Von den 29 Prozessen, die im Jahr 2020 gegen ihn eröffnet worden seien, seien alle eingestellt worden. Dies ist vielleicht auch ein Grund, warum der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof, der aktiv wird, wenn die nationale Justiz versagt, nach vielen Jahren jüngst eine Klage gegen ihn angenommen hat. Wegen der Erschießung von drei Oppositionellen bei den Protesten im Zusammenhang der Verfassungsgebenden Versammlung im Jahr 2007.