vonClaudius Prößer 11.03.2010

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Ein paar Schlussfolgerungen, 12 Tage nach dem Erdbeben in Chile.

1. Auch 8,8 Grad Richter können eine Michelle Bachelet nicht erschüttern. Bei der letzten Adimark-Umfrage nach dem Beben kommt die heute scheidende Präsidentin auf sagenhafte 84 Prozent Zustimmung zu ihrer Regierungsführung. Das war nach den Ereignissen post terremoto nicht unbedingt zu erwarten. Offensichtlich honorieren die Chilenen, dass Bachelet von der Naturkatstrophe und ihren Auswirkungen sichtlich bewegt war – und nach bestem Wissen und Gewissen versucht hat, die Lage in den Griff zu bekommen. Auch wenn das nicht so recht funktioniert hat. Der Politikwissenschaftler Patricio Navia meint deshalb: In ein paar Wochen ist der Schutt weggeräumt, erst dann wird man sehen, ob auch die ehemalige Präsidentin strukturelle Schäden erlitten hat.

2. Chile war auf ein Erdbeben nicht vorbereitet – jedenfalls nicht auf so eines. Obwohl Geologen längst mit einem größeren Beben in der betroffenen Zone rechneten, war beim besten Willen keine cultura sísmica vorhanden, wie sie die Leiterin der Katastrophen-Behörde Onemi, Carmen Fernández, bereits im Jahr 2007 nach einem Beben in der Aysén-Region postulierte. Zu einer solchen Erdbeben-Kultur hätte gehört, dass niemand in Küstennähe eventuelle Warnungen durch Behörden abwartet, wenn es gerade heftigst gebebt hat – sondern umgehend Höhenmeter zwischen sich und das Meer bringt. Auch die vielen, die auf einer flachen Insel bei Constitución ertranken, wo sie in Zelten kampiert hatten, könnten noch leben – wenn man das aus der Topographie des Ortes resultierende Risiko vorher erkannt hätte.

Natürlich rechnet niemand gerne mit dem Schlimmsten. Deswegen besaß und besitzt auch niemand in den kleineren Städten – weder Bürgermeister noch Feuerwehr noch Polizei – ein Kommunikationsmittel, das funktioniert, wenn alle anderen ausfallen. Über das Dutzend Iridium-Telefone in der kleinen Zeltstadt, die chilenische und internationale Medien nach dem Beben in Concepción aufschlugen, wäre man in vielen Orten der umliegenden Provinzen glücklich gewesen. Die waren tagelang weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Dass Carmen Fernández ihren Job gut gemacht hat, fanden in den vergangenen Tagen entsprechend wenige Menschen. Gestern ist sie zurückgetreten, wohl auch um einer Entlassung durch den neuen Präsidenten zuvorzukommen.

3. Die Frage, wieso – kaum dass das Stromnetz und die staatliche Kontrolle zusammengebrochen waren – viele Menschen sich sogleich daran machten, Supermärkte, aber auch kleine Läden und zerstörte Häuser bis zum nackten Fußboden zu plündern, diese Frage wird das Land noch länger beschäftigen. Dass die Chilenen unsolidarisch sind, ist eine falsche Schlussfolgerung: Viel Geld und viele Sachspenden sind in den vergangen Tagen gesammelt und an Bedürftige verteilt worden – mit oder ohne verkitschte Promi-Events wie die „Chile-Ayuda-a-Chile“-Teletón. Aber dieser anomische Zustand, bei dem plötzlich jeder nur noch zugriff – wie lässt der sich erklären? José Luis Ugarte, Arbeitsrechtler an der Universidad Diego Portales, hat dazu einen viel beachteten Kommentar verfasst. Auszüge:

(…) In Gesellschaften mit einem hohen Grad an Ungleichheit mangelt es an gesellschaftlicher Kohäsion und Loyalität. Sie werden ersetzt durch Zwang und Angst – die „harte Hand“, von der so viele Chilenen gerne reden. Aufgrund des Gefühls von Ungerechtigkeit und gesellschaftlichem Ausschluss, dass unter den Armen weit verbreitet ist (…) wird unsere Gesellschaft vom selben Klebstoff zusammengehalten wie die Neubauten, die jetzt in unseren Städten einstürzen.
Es sind so viele Chilenen, die den Mindestlohn beziehen, die weder nennenswerte Arbeitsrechte haben noch Gewerkschaften, die sie vertreten, weder eine anständige Gesundheitsversorgung noch ein ordentliches öffentliches Bildungswesen. Von ihnen allen im Ausnahmefall Loyalität zu einem Modell zu erwarten, das sie ausschließt – und nicht bloß Angst vor dem Gefängnis – ist ein naiver Glaube, den das Beben genauso zu Fall gebracht hat wie die Kuppel der Divina Providencia. (…) Wer hätte das gedacht: Das Erdbeben macht deutlich, dass der chilenische Kapitalismus auf tönernen Füßen steht.

Und in der Tat: Nach vorläufigen Erkenntnissen der Polizei handelte es sich bei den Plünderern (von denen jetzt viele in der Hoffnung auf einen Strafnachlass das Erbeutete freiwillig aushändigen) nur zu einem geringen Teil um Menschen mit Vorstrafen. Arbeiter, Angestellte, bis hinein in die untere Mittelschicht reicht das soziale Spektrum. Manche von ihnen waren in den Tagen nach den Beben so durch den Wind, dass sie Wäschetrockner und Plasma-Bildschirme vor laufenden Fernsehkameras aus den Lagern trugen. Das rächt sich jetzt.

4. Erdbeben-Filme auf Youtube halten nie, was sie versprechen. Entweder die Kamera wackelt selbst zu sehr. Oder das Licht fällt aus.

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