vonChristian Russau 16.03.2013

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Nach dem am 8. März von Gerhard Cromme für Ende des Monats angekündigten Rücktritt vom Aufsichtsratsvorsitz bei ThyssenKrupp werden die Probleme des deutschen Stahlkochers in Rio de Janeiro nicht geringer.

Anwohnerprotest in Rio: "Unsere Lunge ist nicht aus Stahl". Photo: Anwohnervereinigung. CC by 3.0

Cromme hatte seinen Rücktritt damit begründet, einen „personellen Neuanfang“ zu ermöglichen. Der Dachverband der kritischen Aktionärinnen und Aktionäre begrüßte gemeinsam mit Organisationen aus Brasilien und Brasilien-Solidaritätsgruppen in Deutschland den Rücktritt von ThyssenKrupp-Aufsichtsrats-Chef Gerhard Cromme. Die Organisationen und Gruppen verlangten aber einen überzeugenden personellen Neuanfang und Entschädigung für die Fischer an der Bucht von Sepetiba und medizinische Versorgung für die Anwohner des Stahlwerks. „Wir haben Herrn Cromme bereits im Januar 2012 aufgefordert, die Verantwortung für das Stahlwerks-Desaster in Brasilien zu übernehmen und vom Aufsichtsratsvorsitz zurückzutreten“, sagte Markus Dufner, Geschäftsführer des Dachverbands der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre. „Mit der Freude über den Rücktritt ist aber auch die Befürchtung verbunden, dass sich an der Geschäftspolitik von ThyssenKrupp nur wenig ändern wird.“

Denn Crommes Rücktritt reiht sich ein in die jüngste Geschichte der Rücktritte bei ThyssenKrupp. Waren Anfang Dezember 2012 doch erst drei Vorstandsmitglieder zurückgetreten, im Jahr zuvor Ekkehard Schulz und Karl-Ulrich Köhler bereits im Jahre 2009. Gebetsmühlenhafte Begründung war dabei stets „personeller Neuanfang“ oder „strategische Neuordnung“. Vor allem die Rücktritte von Schulz und Köhler standen im direkten Zusammenhang mit den Vorgängen um das Stahlwerk in Rio de Janeiro, das das „größte Desaster dieser deutschen Traditionsfirma“ ist.

Und in Rio, beim umstrittenen Stahlwerk ThyssenKrupp Companhia Siderúrgica do Atlântico (TKCSA) im Stadtteil Santa Cruz, 70 Kilometer westlich des Stadtzentrums gelegen, halten die Probleme an. Das Werk hat nach wie vor die definitive Betriebsgenehmigung nicht erhalten und operiert auf Basis eines bilateralen Vertrags zwischen Umweltbehörden und der Firma, der 134 Bestimmung auflistet, die die TKCSA erfüllen muss – sonst droht die Schliessung seitens der Umweltbehörden. Die von der Staatsanwaltschaft bereits 2010 und 2011 eingeleiteten Strafprozesse gegen die Firma (und Firmenverantwortliche, denen bei Verurteilung bis zu 19 Jahre Haft drohen) wegen Umweltverschmutzung laufen ebenso weiter wie die Zivilsammelklagen der Fischer für Entschädigungen für ihre jahrelangen Einkommenseinbußen beim Fischfang. Die Anwohner berichten weiter von anhaltenden Gesundheitsproblemen und die Ombudsstellen der Defensoria Pública in Rio de Janeiro ermitteln weiter in Sachen Gesundheitsgefährdung der Anwohner durch das Stahlwerk.

Wie verzweifelt die Lage von ThyssenKrupp ist, zeigt sich an dem schleppenden Verkaufsprozess für das Werk TKCSA. Denn der von ThyssenKrupp geplante Verkauf des bis zu sieben Milliarden teuren Stahlwerks (operative Verluste nicht mit eingerechnet) zieht sich weiter in die Länge. Während die brasilianische Wirtschaftszeitung Valor Econômico gestern berichtete, ThyssenKrupp habe für das Werk in Rio nur ein Angebot (vom italienisch-argentinischen Stahlproduzenten Ternium) erhalten, so läuft heute die Meldung über die brasilianischen Ticker, dass die brasilianische CSN mit ihrem Angebot von 3,8 Milliarden US-Dollar für das Werk in Rio de Janeiro und das in Alabama im Rennen bliebe und eine Entscheidung bis Ende März erwartet werde.

Doch diese Entscheidung kann ThyssenKrupp gar nicht allein treffen: der mit knapp 28 Prozent am Stahlwerk TKCSA beteiligte brasilianische Konzern Vale hat ebenso wie die staatliche Bank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung BNDES ein gewichtiges Wörtchen mitzureden: hat die Bank dem Werk doch einen Kredit in Höhe von umgerechnet rund einer Milliarde Euro gewährt und könnte beim Verkauf die vorzeitige Rückzahlung des Kredits fordern. CSN und die BNDES verhandeln über einen weiteren Kredit, diesmal an CSN, damit diese das Stahlwerk übernehmen könne. Dagegen laufen wiederum die sozialen Bewegungen in Rio Sturm, die die Verwendung öffentlicher Gelder für ein Werk ablehnen, das die Umwelt verschmutzt, die Gesundheit der lokalen Anwohner bedroht, die bis zu 8.000 Kleinfischer daran hindert, ihrem Lebensunterhalt nachzugehen, und das die Kohlendioxid-Emissionen des gesamten Stadtgebiets von Rio de Janeiro (Haushalte, Industrie und Verkehr) bei Vollast um bis zu 72 Prozent erhöhen werde.

Die in Rio gegen das Stahlwerk protestierenden Gruppen haben zum Verkauf der TKCSA eine deutliche Position: „ThyssenKrupp will das Stahlwerk TKCSA schnellstmöglich verkaufen und sich so aus der Verantwortung stehlen“, kritisierte Sandra Quintela vom Instituto Políticas Alternativas para o Cone Sul (PACS) aus Rio de Janeiro Anfang der Woche. Quintela wendet sich gegen den Verkauf, solange die vom Stahlwerk ausgehenden Schäden nicht repariert und Entschädigungen geleistet wurden. „Wir brauchen dringend eine umfassende Untersuchung aller Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden, die ThyssenKrupp CSA in der Region angerichtet hat“, stellte Sandra Quintela klar. Dazu müsse aber als Erstes der derzeit gültige Vertrag zwischen Umweltbehörden und ThyssenKrupp CSA (TAC-Abkommen) suspendiert werden und die Erteilung der definitiven Betriebsgenehmigung weiterhin verweigert werden, forderte sie.

Auch die in Deutschland aktiven Gruppen, die seit Jahren auf die Umweltverschmutzungen durch das Stahlwerk in Rio hinweisen und die Mißachtung der lokalen Anwohner und Fischer beklagen, sehen den deutschen Stahlkonzern in der Verantwortung: „ThyssenKrupp ist verantwortlich für die an der Bucht von Sepetiba in Rio de Janeiro entstandenen Schäden“, erklärte Marcos da Costa Melo vom Netzwerk der Brasiliengruppen, Kooperation Brasilien (KoBra), mit Sitz in Freiburg. „Die 8.000 Fischerfamilien müssen für ihre jahrelang durch das Stahlwerk erlittenen massiven Einbußen beim Fischfang entschädigt werden“, forderte da Costa Melo. Die lokalen Kleinfischer von der Bucht von Sepetiba waren die ersten, die vom Stahlwerkbau betroffen waren und ihren Protest artikuliert und organisiert haben. Seit 2007 haben sie bis zu 80 Prozent Einbußen beim Fischfang. Und ThyssenKrupp ignoriert deren Forderungen seit Jahren, ebenso wie die Proteste der Anwohner als Panikmache abgetan werden. Die Fischer und Anwohner unterschätzt zu haben, dies war der wohl schwerwiegendste Fehler, den diejenigen in den Konzernzentralen begangen haben, die nun nach und nach ihren Rücktritt erklären. Weich gefedert.

Trügerische Idylle an der Bucht von Sepetiba
Trügerische Idylle an der Bucht von Sepetiba. Photo: Christian Russau. CC by 3.0

Doch was bleibt den Anwohnern von Santa Cruz und den Fischern der Bucht von Sepetiba?

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