Wenn der bolivianische Präsident Luis Arce Catacora auf die mit 4,8% im städtischen Bereich vergleichsweise niedrige Arbeitslosenziffer in Bolivien als Indikator seiner erfolgreichen Wirtschaftspolitik verweist, dann lässt er unberücksichtigt, dass diese Zahl sich nur auf einen Bruchteil der Erwerbstätigen bezieht. An die 85% der Beschäftigen gehen keiner sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach und sind auch nicht arbeitslos gemeldet.
So wie der venezolanische Migrant Osnep Mora Zenteno, dessen informelle Tätigkeit bei der Verkehrsregelung an der San Antonio-Brücke von La Paz vor allem im Berufsverkehr so manchen Unfall verhindert haben mag, und dessen laute Trillerpfeiffe bis in die benachbarten Viertel seine hilfreiche Präsenz signalisiert. Andere bemalen Zebrastreifen neu, verkaufen Süßigkeiten … Obwohl die bolivianische Regierung auf der internationalen Bühne eine universelle Staatsbürgerschaft proklamiert, sind ärmere Migrant*innen wie die Venezolaner*innen, die nach Bolivien kommen, besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt. Trotzdem und trotz der Höhe und in der Regel kalten Temperaturen sagt Osnep Mora, dass er sich inzwischen in La Paz wie zu Hause fühlt. Für Latinorama und die Menschen in Deutschland, von denen er annimmt, dass sie für Migrant*innen offene Türen haben, hat er seine Arbeit unterbrochen, um von seinen Erfahrungen zu berichten.
Von Osnep Augusto Junior Mora Zenteno
Ich heiße Osnep Augusto Junior Mora Zenteno, bin 35 Jahre alt und Venezolaner. Im Jahr 2018 bin ich aus Venezuela ausgewandert und auf dem Landweg über Kolumbien, Ecuador und Peru zum Jahresanfang 2019 in Bolivien angekommen. Ich habe einen Platz gesucht, wo nicht bereits so viele Venezolaner sind. Denn es gibt auch welche, die sich schlecht aufführen und nicht die gleiche Erziehung zu Hause hatten. Und wegen dem schlechten Auftreten einzelner werden wir alle als Übeltäter angesehen. Bolivien war aber auch das schönste Land von all denen, die ich besucht habe.
Von der heißen Karibikküste nach La Paz
Hier fühle ich mich wie zu Hause. Ich bin in Caracas geboren und in Miranda an der Küste aufgewachsen. Das ist in der Tat ziemlich heiß. Deswegen macht mir die Hitzewelle, von der alle derzeit in Bolivien reden, auch nichts aus. Mir scheint es eher frisch.
Ich teile mir die Arbeit an der Kreuzung mit einem Landsmann von mir, den ich schon länger kenne. Er ist für mich wie ein Familienangehöriger. Ich nenne ihn Papa. So herzlich sind wir Venezolaner. Wir können einen anderen, auch wenn wir ihn noch nicht kennen Papa, Bruder, Freund nennen. In dieser Hinsicht sind die Menschen in Bolivien etwas kühler. Als ich mal eine Ehefrau eines Freundes „meine Königin“ genannt habe, habe ich Ärger bekommen.
Meine Familie
Mitte 2018 habe ich mich alleine auf den Weg gemacht. Ich wusste ja nicht, was auf mich zukommen würde. Ich bin alleinerziehender Vater und habe meine Tochter bei meinen Eltern zurückgelassen. Doch nach drei Monaten wurde mein Vater krank und als ich in La Paz angekommen war, bekam ich einen Anruf, dass mein Vater gestorben war. Ich hatte kein Geld, um zurückfliegen zu können. Und meine Mutter sagte mir: „Warum auch? Du hast eine Tochter und bist mit dem Ziel fortgegangen, deiner Familie finanziell zu helfen“. Der Augenblick des Wiedersehens werde sicher kommen. Ich schaute mich also in La Paz um und ging nur noch einmal nach Peru, um meine Sachen zu holen, die ich dort gelassen hatte. Vor zwei Jahren bin ich dann nach Venezuela zurück, um meine Tochter nachzuholen. Es war etwas schwierig und dauerte dann fast ein Jahr, bis ich mit ihr wieder in La Paz war, weil das Geld für die Reise fehlte.
Wie ich zu der Arbeit an der Kreuzung kam
Ich arbeite nicht auf der Straße, weil mir das Spaß machen würde. Erst habe ich es im Gastronomiebereich versucht. Ich bin da zwar auch Autodidakt, aber meine Bekannten sagen, dass ich köstlich koche. Es gibt aber viel Konkurrenz in dem Bereich in Bolivien und ich kannte auch nicht so viele Leute, um von zu Hause aus Essen zu verkaufen. Und für die Eröffnung eines Stands oder Lokals braucht man Startkapital und hat gleich am Anfang hohe laufende Kosten. Da wäre ich schnell pleite gegangen. Der venezolanische Freund, der hier an der Kreuzung schon vorher gearbeitet hat, lud mich ein, das mit ihm zusammen zu machen. Er würde mir das zeigen und morgens arbeiten, ich könnte nachmittags und abends arbeiten. Und Gott sei Dank kann ich damit derzeit meine Familie ernähren und die Schulgebühren für meine Tochter bezahlen.
Viele meiner Landsleute haben auf der Straße gebettelt. Aber die Leute in Bolivien sind zumeist sehr fleißig und arbeiten viel. Anfangs haben sie geholfen wegen der schwierigen Situation in Venezuela. Aber dann haben sie gemerkt, dass viele das Betteln zu ihrem Beruf gemacht hatten. Bei mir dagegen sehen sie, dass ich den Menschen helfe, gut über die Kreuzung zu kommen. Vor allem, damit die Fahrer keine Fehler machen. Und das erkennen sie an und geben dir eine Münze oder manchmal auch Lebensmittel. Normal verdiene ich hier zwischen 70 und 100 Bolivianos am Tag (umgerechnet zwischen 9 und 13 Euro). Wenn es mal ganz gut läuft 120 oder 130 Bolivianos. Das ist am Monatsende in etwa so viel wie der gesetzliche Mindestlohn. Einer sagte mir heute, er habe selbst nicht viel Geld, aber alle müssten die Chance haben voranzukommen. Und er hat mir Getreideflocken besorgt. Mit der Zeit habe ich viele Leute kennengelernt und wenn sie vorbeikommen freue ich mich.
Die Polizei lässt mich arbeiten
Die Polizisten helfen mir manchmal auch, geben mir ein Geldstück oder bedanken sich. Denn sie selbst haben ja kaum Zeit, alle ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Fahrkultur hier in Bolivien ist nicht besonders ausgeprägt. Die Verkehrsregeln werden häufig nicht beachtet. Gerade hier, wo zwar zwei Ampeln angebracht sind, aber die Straßen in Dreiecksform aufeinander zulaufen. Da kommen die Leute leicht durcheinander, wenn sie überhaupt die Ampel sehen. Vor einer Woche hätte es hier fast geknallt. Ich war kurz davor, dazwischen zu gehen. Aber ich muss ja auch mich selbst schützen. Schließlich habe ich eine Tochter und ich bin nicht von hier. Wer würde mir helfen?
Migration aus wirtschaftlichen und politischen Gründen
Ich will irgendwann mein eigenes Restaurant betreiben. Obwohl ich in Venezuela Verwaltungswissenschaften studiert habe. Meine Spezialität ist Finanz- und Materialbeschaffung. Das gibt es in Bolivien nicht. In Venezuela habe ich in diesem Beruf gearbeitet. Fünf Jahre hatte ich studiert, um das Diplom zu machen. Dabei habe ich genauso viel verdient wie ein umgelernter Arbeiter, weil der Präsident Wert auf Gleichbehandlung gelegt hat. Aber wenn ich einen Fehler gemacht hätte, wäre ich Gefahr gelaufen, ins Gefängnis zu kommen. Das Risiko wollte ich für einen so geringen Lohn nicht eingehen. Letztlich habe ich Venezuela sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus politischen Gründen verlassen. Aber der wichtigste Grund war, dass ich meinem Vater helfen wollte, seine Operation zu bezahlen. Aber wegen des schlechten Zustands des Gesundheitswesens in Venezuela ist mein Vater dann doch gestorben.
Meinen Beruf kann ich in Bolivien nicht ausüben
Ehrlich gesagt reicht mir die eine Auswanderung. Obwohl ich mir auch Sorgen mache, dass in Bolivien etwas Ähnliches geschieht wie in Venezuela. Ich würde schon gerne irgendwohin migrieren, wo ich bessere Bedingungen als in Bolivien vorfinde. Aber leider sind alle südamerikanischen Staaten von den Großmächten abhängig. Viele Ausländer in Bolivien haben einen Beruf erlernt. Aber die Menschen fürchten, dass sie ihnen die Arbeit wegnehmen. Doch welche Arbeit soll ich mit meinem Beruf einem Ungelernten abnehmen? Und es ist sehr teuer, in Bolivien einen ausländischen Berufsabschluss anerkennen zu lassen. Das kann Tausende US-Dollar kosten. Aber ein Migrant kommt nun mal mit einem Rucksack voller Träume, aber ohne viel Geld.
Manchmal taucht hier ein Obdachloser auf, der unten am Kanal wohnt, und versucht unsere Arbeit auf der Kreuzung zu machen. Das ist auch in Ordnung. Er soll ja auch eine Chance haben, auf ehrliche Weise Geld zu verdienen. Doch manchmal ist er dabei betrunken und eher eine Gefahr als eine Hilfe. Und wenn das auf uns Venezolaner zurückfällt, kann es sein, dass die Leute sich gegen uns mobilisieren oder gar lynchen wollen.
Hohe Verwaltungsgebühren und schlechte Behandlung
Die bolivianischen Ämter sind überhaupt nicht freundlich gegenüber venezolanischen Migranten. Und die Gebühren, um einen legalen Aufenthaltsstatus zu bekommen, sind im Vergleich zu anderen Staaten wie Ecuador sehr hoch. Die Freundschaft zwischen Evo und Chavez oder später Maduro sind Fassade. Allein für ein Zweijahresvisum muss man knapp 300 US-Dollar bezahlen. Dazu kommen die Gesundheitsuntersuchungen, die Bescheinigung von INTERPOL und Kriminalpolizei, zusammen vielleicht 500 US-Dollar. Wenn ich die bolivianische Staatsangehörigkeit beantragen würde, würde es mindestens das Doppelte kosten. Wenn du keinen legalen Aufenthaltstitel hast, bringen sie dich an die Grenze und deportieren dich. Aber sonst bringt dir der Aufenthaltsstatuts überhaupt nichts.
Nicht einmal kostenlose Schulbildung und Gesundheitsversorgung
Du bekommst nicht einmal kostenlose Gesundheitsversorgung wie die Bolivianerinnen und Bolivianer. Wenn meine Tochter krank wird, muss ich sie jedes mal zum Privatarzt bringen. Und weil ich zwar alleinerziehend bin, aber nicht als Erziehungsberechtigter registriert bin, kann sie auch nicht in eine öffentliche Schule. Die Anwaltskosten dafür in Venezuela würden weitere 2000 US-Dollar betragen. Eigentlich ist das Recht auf Schulbesuch universell, aber die Behörden bauen viele Hürden auf. Deshalb bezahle ich 50 US-Dollar im Monat an Gebühren für die Privatschule meiner Tochter. Ich bin zwar finanziell im Rückstand, hoffe aber, dass die Schulden nicht zu groß werden, damit sie nicht ausgeschlossen wird. Zum Glück ist es eine gute Schule.
Was die Menschen in Deutschland wissen sollten
Wir Venezolaner sind sehr unterschiedlich einer vom anderen. Wenn die Deutschen die Chance bekommen, einen kennenzulernen, dann sollten sie die nutzen. Wir sind gute Menschen, herzlich, fleißig und familienverbunden: und wir würden gern auch einmal Länder besuchen, die wir nur von Fotos oder Filmen kennen wie Deutschland, Russland, Kanada… vor allem Länder, die den Menschen, die ein neues Leben beginnen wollen, eine Chance geben.