Wenn es nach der Zahl der Beobachter*innen ginge, dann sollte die bolivianische Bevölkerung für den kommenden 17. August faire und freie Wahlen erwarten können. Die Erfahrungen aus Venezuela sowie Zweifel an der Unabhängigkeit der Wahlbehörde und Gerichte lassen manche dennoch befürchten, dass der Wille der Wählerinnen und Wähler am Ende trotzdem nicht berücksichtigt wird.
Die Europäische Union hat bereits im Juli elf Spezialist*innen und 32 Langzeitbeobachter*innen entsandt. Hinzu sollen noch 50 Kurzzeiteinsätzler und sieben Abgeordnete des Europaparlaments stoßen. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten, die 2019 bei den später von Präsident Morales annullierten Wahlen massive Manipulationen diagnostiziert hatte, wurde erneut eingeladen. Sie will 87 Personen schicken. In Bolivien selbst haben sich verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen zur Wahlkontrolle gebildet.
Bei der Stiftung „Jubileo“ werden mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung 600 dafür geschulte Jugendliche in 64 der 343 Stadt- und Landkreise nach dem Rechten sehen. Und in „Observa Bolivia“ haben sich mit Finanzierung der Europäischen Union 40 Nicht-Regierungsorganisationen zur Wahlbeobachtung zusammengeschlossen. Auf der Website gibt es Information über die Programme der Parteien und KI-Instrumente zu deren Auswertung nach gewünschten Stichpunkten. Ein Chatbot beantwortet spezifische Fragen.

Wird es saubere Wahlen geben?
Am Wahltag selbst werden etwa 2000 ehrenamtliche Beobachter*innen von Observa Bolivia landesweit aktiv werden.
Das größte Netzwerk ist jedoch „Cuidemos el Voto“. Dem gehören auch das Parteienbündnis LIBRE von Präsidentschaftskandidat Jorge Tuto Quiroga und die Fact-Checking-Plattform „Bolivia Verifica“ an. Das Bündnis hat sich vorgenommen, mit Freiwilligen in 80 Prozent der über 33.000 Wahlräume präsent zu sein. 20.000 Ehrenamtliche seien bereits gewonnen, teilte Ende Juli die Sprecherin der Allianz, Jhanisse Vaca, in einem Interview mit John Arandia bei Radio Fides mit. Die Fürsprecherin für gewaltfreie Aktion und Umweltaktivistin hatte schon bei den Protesten Ende 2019 eine wichtige Rolle gespielt.
Man wolle aber die Zahl von 30.000 Beobachter*innen erreichen, so Vaca. Ein wesentlicher Teil der Finanzierung komme von dem bolivianisch-US-amerikanischen Milliardär Marcelo Claure. Ein wichtiges Element dabei ist, die Protokolle zu fotografieren und unabhängig von der Wahlbehörde auszuzählen. Nach anfänglichem Zögern habe die Wahlbehörde inzwischen halbwegs zugesagt, die Protokolle, die in das elektronische System eingespeist werden, auch zeitnah zu veröffentlichen. Sicher ist das noch nicht. Es würde jedoch anders als 2019 und 2020 einen Vergleich bzw. die Kontrolle möglich machen.
Mit dabei ist auch Edgar Villegas. Der Informatikingenieur hatte 2019 nach der Unterbrechung der Übertragung der Wahldaten Abweichungen zwischen den Wahlprotokollen und den Daten aufgedeckt, die elektronisch weiterverarbeitet und gezählt wurden. Später wurde bekannt, dass mexikanische Spezialisten sich externen Zugang zur EDV der Wahlbehörde verschafft hatten. Doch noch im Jahr 2024 erhob die Staatsanwaltschaft, nicht gegen die Verbindungsleute in der Regierung, sondern gegen Villegas wegen seiner Datenanalysen Anklage wegen „Anstiftung zu Straftaten (siehe diesen früheren Beitrag).
Und im Mai diesen Jahres versuchten Regierung und Justiz ihn mit dem mysteriösen angeblichen Putschversuch von 2024 in Verbindung zu bringen. Dabei hatte der Informatiker anders als Präsident Arce rein gar nichts mit den Beteiligten zu tun. Beides kann nur als Einschüchterung in Bezug auf die bevorstehenden Wahlen gedeutet werden, offensichtlich ein vergeblicher Versuch.
Das angekratzte Image von Wahlbehörde und Gerichten

Wie gering das Vertrauen der Bevölkerung in den Wahlgerichtshof ist, zeigte sich Ende Juli. Da tauchte im Internet ein Rücktrittsschreiben des Interimspräsidenten der Behörde auf. Nachdem einzelne Mitglieder des Präsidiums rechtswidrig von Präsident Arce ausgetauscht worden oder ins Exil gegangen waren, schien nun auch der letzte derjenigen das Gremium zu verlassen, dem in der Öffentlichkeit Unabhängigkeit zugetraut wird. Entsprechend groß war das Entsetzen über das Schriftstück, dessen Inhalt später von der Behörde aber dementiert wurde. Es sei nie offiziell eingereicht worden, hieß es. Der 80-Jährige habe sich nur für ein paar Tage krank gemeldet. Inzwischen ist er wieder ins Büro zurückgekehrt und versicherte, die Vorbereitungen zur Wahl liefen nach Plan.
Dazu hat auch der Oberste Gerichtshof beigetragen. Im Vorfeld hatte der mehrere Anfechtungen von Präsidentschaftskandidaturen zurückgewiesen, ganz im Gegensatz zu den Richterwahlen im Vorjahr. Damals hatten untergeordnete regionale Gerichte die gesetzlich vorgesehene Erneuerung des Verfassungsgerichts teilweise verhindert, um die Dominanz der Regierungspartei in dem Gremium zu sichern.
Anders beim Obersten Gerichtshof: Der wird nun von einem Juristen aus San Ignacio de Velasco im nordöstlichen Tiefland geleitet. Rómer Saucedo hatte als jugendlicher Aktivist aufgrund politischer Verfolgung selbst ein Jahr im Gefängnis verbringen müssen. So verwundert nicht, dass der Oberste Gerichtshof nun den politisch motivierten und von Verfahrensfehlern und Rechtsbeugung geprägten Prozess gegen den Ex-Präfekten der Provinz Pando, Leopoldo Fernández, für nichtig erklärt hat. Er war wegen des Massakers von Porvenir im Jahr 2008 zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden.
Ein Versuch der Regierung im Vorfeld der Wahlen, die Kontrolle über den Obersten Gerichtshof zurückzugewinnen, ist vorläufig gescheitert. Stattdessen läuft jetzt ein Verfahren gegen den wegen des Skandals zurückgetretenen ehemaligen Justizminister César Siles sowie mehrere Justizvertreter*innen. Sie sollen an einem Komplott zur Absetzung von Fanny Coaquira beteiligt gewesen sein. Aufhänger war ein angeblich gefälschtes Dokument, das Coaquira bei ihrer Bewerbung für den Obersten Gerichtshof vorgelegt haben soll.
Die Anzeige war von Antonio de la Fuente Amelunge eingereicht worden. Der ist bekannt aus dem Prozess gegen die Interimspräsidentin Jeanine Áñez, den Aktivisten Marco Pumari aus Potosí und den Gouverneur von Santa Cruz, Fernando Camacho. Dort fungierte er als Kronzeuge für den behaupteten Putsch, obwohl er nach eigenen Angaben die Vorgänge nur aus dem Fernsehen gekannt hat.
De la Fuente ist abgetaucht. Er behauptet, dass seine Aussagen im Putschprozess keine Anklage gerechtfertigt hätten. Die Staatsanwaltschaft habe sie aber verfälscht. Auch bei Jeanine Áñez zeichnet sich ab, dass die laufenden Verfahren vor gewöhnlichen Gerichten irgendwann als irregulär eingeordnet werden. Bei ihr als ehemaliger Senatorin und Präsidentin wäre das Parlament für eine Verurteilung zuständig, und dessen Zusammensetzung dürfte laut den derzeitigen Umfragen nach den Wahlen deutlich günstiger für sie ausfallen.

Auf Kriegsfuß mit der Verfassung
Vielleicht ist dies auch ein Grund, warum der derzeitige Vizepräsident David Choquehuanca, der sich im letzten Jahr als Parlamentspräsident vor allem durch die Obstruktion der Arbeit der Abgeordneten ausgezeichnet hat, alle Verfassungsorgane in Frage stellt. In seiner Ansprache zum 200-jährigen Jubiläum der Gründung und Unabhängigkeit Boliviens am 6. August beschwerte er sich nicht nur über angeblich gefälschte Umfragen, sondern die Institutionen selbst. Es gäbe nach den Wahlen zwei Möglichkeiten: Entweder auf der Grundlage der „vier kolonialen und patriarchalen republikanischen Gewalten“ weiter zu arbeiten, oder eine plurinationale Regierung zu bilden, die von den vier Staatsorganen befreit sei. Laut Boliviens Verfassung ist auch die Wahlbehörde eine eigenständige staatliche Gewalt.
Trotz Verbesserungen mangelnde Chancengleichheit
Umso erfreulicher, dass sich die letzten Wochen des Wahlkampfs doch einigermaßen in institutionellen Bahnen bewegt haben. Anders als bei früheren Wahlen gibt es viele öffentliche Foren und Diskussionsveranstaltungen. Auf denen wird zwar viel polemisiert, aber immer wieder kommen auch programmatische Ideen zur Sprache. Anders auch als früher hält sich die Regierung Arce mit Wahlpropaganda auf Staatskosten für ihren Kandidaten Eduardo de Castillo zurück. Und das Personal der staatlichen Institutionen wird nicht mehr massenweise zu Wahlkampfveranstaltungen abkommandiert.
Arces Rede zum Nationalfeiertag am 6. August war auch keine Hilfe für den Kandidaten seiner Partei, der mit dem Slogan „Neues Team, neue Ideen“ auftritt. Man habe alles richtig gemacht und müsse den eingeschlagenen Weg weitergehen, sagte Arce.
Doch immer noch gibt es nicht Chancengleichheit im Wahlkampf, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Dies vor allem in Bezug auf die Finanzierung der Wahlkämpfe. Die bei den Umfragen führende Liste von Samuel Doria Medinas UNIDAD hatte ähnlich wie Jorge Tuto Quirogas LIBRE schon lange vor dem offiziellen Starttermin mit dem Plakatwahlkampf begonnen, und sie hat derzeit ein deutliches Übergewicht bei den Werbespots im Fernsehen. Ebenso verfügt der Multimillionär wohl auch über das meiste Geld für Straßenumzüge und kleine Wahlkampfgeschenke, seien es Schürzen mit dem Parteiemblem oder Nahrungsmittel.
Umgekehrt ist der Unternehmer aber auch derjenige, der laut Fakten-Check-Portalen am stärksten von Schmutzkampagnen durch seine Widersacher betroffen ist. Besonders heftig wurde dies, nachdem der erwähnte Unternehmer Marcelo Claure öffentlich seine Präferenz für Doria Medina als nächstem Präsidenten erklärte.

Zahlreiche Organisationen bemühen sich um eine Versachlichung des Wahlkampfs, wenden sich zum Beispiel gegen die verbreitete Diskriminierung weiblicher Kandidatinnen oder geben Anleitung, wie man sich vor Fake News schützen kann. Auf einem Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung zu den „Wahlen zwischen Information und Desinformation“ setzte sich die argentinische Sozialwissenschaftlerin Natalia Aruguete mit der ersten Folie ihrer Präsentation aber gleich in die kommunikativen Nesseln: Der „Putsch” gegen Evo Morales im Jahr 2019 sollte als Beispiel für die Entstehung von Meinungsblasen in den sozialen Medien dienen.
Juan Carlos Nuñez von der Stiftung Jubileo fasste den aufkommenden Unmut im Publikum in Worte. Er sei selbst Zeuge der Verhandlungen in der katholischen Universität gewesen, bei denen es unter Beteiligung auch der MAS um die Übergabe der Regierung an Jeanine Àñez gegangen sei. Auch verwies er auf argentinische Journalisten, die damals mit gestellten Szenen auf internationaler Ebene Morales Putschdiskurs zu untermauern versucht hätten.
Projektmanager José Luis Exeni von der Ebert-Stiftung – bis 2018 selbst noch Mitglied des bolivianischen Wahlgerichtshofes – versuchte, die Wogen zu glätten und zum Thema zurückzukommen: Das alles sei eine Frage der persönlichen Sichtweise. Aber ging es in der Veranstaltung nicht gerade darum, Fakten von Meinungen unterscheiden zu können? Hätte Aruguete für die Titelfolie „Putsch vs. Wahlbetrug“ gewählt, dann wäre das Meinungsspektrum abgedeckt gewesen, meinte ein anderer Teilnehmer. So verstehe er die Präsentation angesichts des Veranstaltungsthemas als Provokation.

Geld allein reicht nicht
Ohnehin lässt sich der Wille des Wahlvolks nicht so einfach manipulieren. Wer ein Wahlgeschenk annimmt, kann seine Stimme später auch einem anderen Kandidaten geben. Und die zig Millionen, mit denen sich der 38-jährige Vizepräsidentschaftskandidat Juan Pablo Velasco in das Team von Jorge Tuto Quirogas LIBRE eingekauft hat, können die fehlende Überzeugungskraft des IT-Unternehmers nicht unbedingt kompensieren. Seine Forderung, die Arbeit im Staat „sexy“ zu machen, scheint bei Jugendlichen weniger gut anzukommen, als die an Markus Söder erinnernden Tik-Tok-Beiträge des wenig charismatischen Doria Medina.
300.000 US-Dollar sollen allein die Beratungstätigkeiten des katalanischen PR-Spezialisten Antonio Gutiérrez Rubí kosten, der zuvor schon für die Wahlkampagnen von Kolumbiens StaatschefGustavo Petro, Mexikos Präsidentin Claudia Sheinbaum oder die Peronisten in Argentinien aktiv geworden war.
Doch statt Stimmen zu gewinnen, fällt der von ihm beratene MAS-Dissident Andrónico Rodríguez in den Umfragen gerade zurück. Evo Morales attackiert seinen ehemaligen politischen Schützling weiterhin. Dagegen hält sich Rodrigo Paz Pereira aus Streitereien und Schmutzkampagnen eher heraus. Trotz bescheidenem Wahlkampfbudget legt er in den Umfragen zu.
Bei den letzten drei an diesem Wochenende veröffentlichten Umfragen liegt Paz Pereira von den Christdemokraten mit zwischen 9,1 und 5,3 Prozent an dritter oder vierter Stelle. Zweimal noch vor dem Rechtspopulisten Manfred Reyes Villa, dessen Werte zwischen 9,7 und 7,7 Prozent liegen. Vorne liegen nahe beieinander weiterhin Samuel Doria Medina (zischen 23,6 und 21,2 Prozent) und Jorge Tuto Quiroga mit zwischen 24,4 und 20 Prozent. Die größten Unterschiede gibt es zwischen den Umfragen jedoch bei denen, die ungültig stimmen wollen. Mit 5,7 Prozent ist der Anteil bei der Tageszeitung El Deber am niedrigsten, beim TV-Sender UNITEL mit 14,6 Prozent am höchsten und ähnlich hoch wie der derer, die einen leeren Stimmzettel abgeben wollen. Allen drei Umfragen gemeinsam ist jedoch der Rückgang der Anteile derer, die für einen der Kandidaten aus dem Spektrum der regierenden MAS stimmen wollen. Am meisten noch für Andrónico Rodriguez zwischen 4,7 Prozent bei dem TV-Sender Red Uno und 8,5 Prozent in der Umfrage von El Deber. Folgt man Befragungen bei früheren Wahlen wäre zu erwarten, dass diese Werte jedoch noch deutlich übertroffen werden.
Was planen Regierung und Morales Anhängerschaft?
Nicht nur die Anhänger*innen von Evo Morales beklagen sich jedoch dieser Tage, dass kein Kandidat auf der Liste den eigenen Vorstellungen entspricht und bestenfalls das kleinere Übel zur Wahl stehe. Aus dem Exil in den USA meldete sich der ehemalige Innenminister des 2003 abgedankten Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada, Carlos Sanchez Berzain, mit der These zu Wort, die wirkliche Opposition sei zu der Wahl gar nicht zugelassen worden. Alle Kandidaten seien funktional für die „castro-chavistische“ Scheindemokratie, die in Bolivien herrsche.
Gegen fünf von ihnen ist immer noch eine Anzeige anhängig, die vom Wahlgerichtshof entschieden werden muss. Darunter Jorge Tuto Quiroga, aber auch die beiden Kandidaten aus dem MAS-Spektrum Eduardo del Castillo und Andrónico Rodriguez. Die endgültige Liste der Kandidat*innen soll erst am Vortag der Wahlen veröffentlicht werden. Die beste Voraussetzung, um mit einer Annulierung Chaos zu stiften.

Die Frage steht im Raum, ob die Oppositionsparteien ihnen unliebsame Ergebnisse akzeptieren würden, aber vor allem, ob die „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) und die dahinter stehenden wirtschaftlichen Interessengruppen wirklich bereit sind, die Macht abzugeben, sollten ihre Kandidaten die Wahl verlieren.
2019 hatte die MAS den Bericht der Wahlbeobachtungskommission der Organisation Amerikanischer Staaten, dessen Veröffentlichung dann zusammen mit den massiven Protesten zu Evo Morales Rücktrittserklärung führte, als imperiale Machenschaft diskreditiert und ihre Anhänger*innen zu gewaltsamen Protesten mobilisiert. Die ersten Toten damals waren Oppositionelle aus Santa Cruz.
Lucio Quispe vom Präsident Arce nahestehenden Teil der Kleinbauernorganisation CSCUTCB drohte nun, sie würden nicht zulassen, dass die Rechte die Regierung übernehme. Bei Morales Anhängerschaft, die angekündigt hat, es werde keine Wahlen ohne Evo geben, ist ebenfalls offen, wie sie reagiert.