vonGerhard Dilger 19.03.2023

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Von Stephan Havel

In der argentinischen Pampa zwischen Nueva Roma (nördlich von Bahía Blanca) und Italó in der Provinz Córdoba sind sie stellenweise noch vage zu erkennen: Die Reste eines 400 Kilometer langen Erdwalls, entlang dessen sich ein ursprünglich zwei Meter tiefer und vier Meter breiter Graben in den Savannenboden der Provinz Buenos Aires einsenkte.

Johann Moritz Rugendas, auch Mauricio Rugendas (Deutschland, 1802 – 1858) : El Malón / Die Entführung von Trinidad Salcedo (1845). Quelle: Wikimedia.

Ángel della Valle (Argentinien, 1852 – 1903): La vuelta del malón (1892). Quelle: Wikimedia.

Dieser Kreolen-Limes hieß „Zanja de Alsina“ (Alsina-Graben) und sollte verhindern, was auf den Gemälden von Rugendas und della Valle pamphletistisch dargestellt wird: das Eindringen berittener „Horden von Wilden“ in das christliche Gebiet, wo man sich vergeblich gegen die lüsternen, blutrünstigen und gottlosen Heiden wehrt. Adolfo Alsina war von 1868 bis zu seinem Tod 1877 Mitglied der Zentralregierung und brachte das Projekt ansichts mehrerer Überfälle durch verschiedene Indianerstämme (u.a. Tehuelches und Mapuches) auf Farmen und Rinderherden auf den Weg. Allerdings verrät schon der Titel der Denkschrift, die er dem

Parlament vorlegte, worum es eigentlich ging – die Grenze des nationalen Territoriums erneut weiter nach Westen zu verschieben, um die Ureinwohner zurückzudrängen in Richtung der Andenkordillere: „La nueva línea de fronteras“ (Der neue Grenzverlauf)*. Die Frontstellung von europäisch-moderner angeblicher Hochkultur und vermeintlich primitiver und mörderischer Tiermenschen kann krasser nicht ausgedrückt werden als durch diesen Graben, der von 109 jeweils untereinander durch eine hochmoderne Telegraphenleitung verbundene Garnisonen bewacht wurde. (Bilder und Hintergrundinformationen bietet diese Dokumentation).

Patagonien und ein großer Teil der Pampas waren in jener Zeit noch kein Bestandteil des argentinischen Staates. Karten aus dem 19. Jahrhundert zeigen sie als separates Gebiet. Allerdings wuchs innerhalb des seit 1810 von Spanien unabhängig erklärten nördlichen Staatsterritoriums mehr und mehr der Wunsch, die ungeheuren Flächen an Weideland, die im Süden brachlagen und von den „Wilden“ so gar nicht gewinnbringend genutzt wurden, unter Kontrolle zu bekommen und an aus- und inländische Investoren zu vergeben. Vor allem Engländer waren hieran interessiert, die sich bei der Entwicklung der argentinischen Eisenbahnlinien sowie der Landwirtschaft, insbesondere bei Viehzucht, Wolleherstellung sowie Schlachtung, Verarbeitung, Kühlung und Export von Fleisch stark engagierten (bis zu 40 Prozent des in Argentinien investierten Kapitals stammte über Jahrzehnte hinweg aus Großbritannien).

Im Jahr 1845 schrieb ein ins chilenische Exil geflohener Politiker und Journalist eine Kampfschrift gegen einen blutrünstigen Diktator namens Juan Manuel de Rosas. Dieser Essay von Domingo Faustino Sarmiento (er war später auch Präsident von 1868 bis 1874) wurde in Argentinien und ganz Hispanoamerika als Grundlagenbeitrag zur Selbstfindung der jungen, in Bürgerkriegswirren versinkenden Nationen gelesen. Er heißt „Facundo oder Zivilisation und Barbarei in der argentinischen Pampa“ und macht schon im Titel klar, dass der Graben von Alsina zuerst in den Köpfen und auf dem Papier entstanden ist. Eine Kostprobe:

Im Süden und im Norden lauern die Wilden, die auf mondhelle Nächte warten, um wie Hyänenrudel über die wehrlosen Siedlungen und das Vieh herzufallen, das auf den Weiden grast. In den einsamen Wagenkarawanen, die die Pampa schwerfällig durchqueren und hin und wieder Halt machen zu kurzer Rast, spähen die um ein bescheidenes Feuer lagernden Bewacher angestrengt nach Süden, um beim leisesten Wispern des Windes in den trockenen Grashalmen die Blicke ins tiefe Finster der Nacht zu bohren auf der Suche nach den Schatten der wilden Horde, die sie von einem Moment zum anderen aus dem Nichts überraschen kann.

In dieser hetzerischen Beschreibung der „roten Gefahr“ wird klar: Diese „Wilden“ sind nicht vereinbar mit dem rechtschaffenen Fleiß und der friedfertigen Arglosigkeit der weißen Siedler. Man muss sie bekämpfen. Sarmiento bereitet im Brustton der Überzeugung, im Recht zu sein, dem Genozid an den Indianervölkern rhetorisch den Boden. Er weiß auch warum:

Müssen wir denn freiwillig der europäischen Einwanderung die Tür weisen, die mit energischem Klopfen Einlass erbittet, um unsere Wüsteneien zu besiedeln und uns […] in ein Volk zu verwandeln so zahlreich wie Sand am Meer? Müssen wir wirklich die neiderfüllten Vorhersagen derer, die in Europa die Bedürfnisse der Menschheit studieren, als eitle und vergebliche Träume von Macht und Ruhm abtun, mit denen man uns seit Kindheitstagen in den Schlaf gesungen hat? Gibt es denn außerhalb Europas überhaupt eine Alternative zu Amerika, wo eine ganze Welt, völlig leer und unerschlossen, auf christliche Zivilisierung harrt? Gibt es in Amerika viele Völker, die so berufen wären wie das argentinische Volk, die europäische Bevölkerung zu empfangen, die dort drüben überquillt wie Flüssigkeit aus einem zu vollen Glas?

Die Argumentation ist verblüffend einfach: Es gibt Volk ohne Raum in Europa und es gibt einen Raum ohne Volk in Argentinien. Dass es da andere Völker gibt, die diesen Raum völlig zurecht als ihre angestammte Heimat seit etlichen Jahrtausenden bewohnen, wird von dem hochgebildeten und weithin als Humanisten anerkannten Sarmiento einfach ignoriert. Denn es handelt sich ja nicht um Menschen ernst zu nehmender Kulturen, sondern um Bestien.

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kommentare

  • Ich würde das Problem zeitgemäß einschätzen, und zwar wirtschaftlich. In der Vision der REALEN Ureinwohner der Pampa ist ein Tier (Nahrungsmittel) kein Eigentum von niemandem, weder von Spaniern, Engländern etc., die diese Tiere ins Land gebracht haben, wo sie sich rasant vermehrt haben, noch von den Tehuelches.
    Und in den Augen der Tehuelches hat das Land keine Eigentümer, obwohl die Macht über Territorien zu interne Kriegen führte.
    Das Problem enstand, als die Auraucaner, d.h. Mapuches, die von Südchile im 18. Jh. die „Tierra del Arauco“ verliessen, weil auf der anderen Seite der Kordillere tausende Kühe grasten und was man unter der „Araucanización de la Pampa“, https://de.wikipedia.org/wiki/Araukanisierung kennt.
    Erstens haben sie die friedlichen Tehuelches verdrängt (siehe Rodolfo Casamiquela), zweitens weil die Mapuches bis zu 200.000 Kühe pro Jahr über die Anden trieben und in Valparaíso, entweder verkauften oder 2 zu 1 gegen ein Pferd tauschten.
    Das rechtfertigt natürlich NICHT die Ausrottung oder Verdrängung der Mapuches, aber man kann das Dilemma anders sehen und formulieren:
    Die Kuh, die auf der wilden Pampa nicht eingezäunt steht und grast, ist sie Ihre oder meine?
    Die Kolonialmächte haben eine andere Vision: der Besitz eines Lands; man kann es erobern, kaufen, verkaufen, verpachten, erben, verpfänden, etc.
    Für die Tehuelches nicht, das weite Land gehört niemanden, zwar nur momentan: demjenigen, der dort guanacos jagt.

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