In dem 2020 in Bogotá erschienenen Sammelband „Jenseits der Konjunktur – Zwischen territorialem Frieden und Frieden im Rahmen der Gesetze“ analysiert Fernán González die über Jahrzehnte sich wandelnde Dynamik des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien. Auch wenn ein langfristiges Ziel die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit sei, müsse jeder Versuch, zu einem dauerhaften Frieden zu kommen, die jeweiligen spezifischen Machtverhältnisse vor Ort berücksichtigen, argumentiert der Wissenschaftler vom jesuitischen Forschungszentrum CINEP . Dies gelte unabhängig vom legalen Status der Akteure. Was bei den polarisierten sozialen und politischen Verhältnissen noch selbstverständlich klingt, wird heikel wenn es um illegale bewaffnete Gruppen oder auch Menschenrechtsverletzungen und die Frage der Straflosigkeit geht. Vor allem angesichts zahlreicher gescheiterter Verhandlungsprozesse in der Vergangenheit.
Was ein gewisser Pragmatismus verbunden mit sozialem Engagement, Selbstorganisation und einem dickem Fell bewirken kann, zeigt sich im Picacho, einem Randviertel im sechsten Stadtbezirk im Nordwesten der kolumbianischen Wirtschaftsmetropole Medellín.
Adrián Stivens Delgado Cuartas arbeitet trotz seiner jungen 28 Jahre bereits seit elf Jahren in dem Verein „Corporación Picacho con futuro“. Der programmatische Name bedeutet auf deutsch übersetzt „Picacho mit Zukunft“. Picacho bezieht sich auf eine Bergspitze, die sich über dem Meer kleiner mehrstöckiger Ziegelhäuser und verschlungener Straßen an den Berghängen erhebt. Schneller kommt man heute mit der Seilbahn, die an das S-Bahnsystem von Medellín angeschlossen ist, in das Picacho.
Das Viertel habe sich im letzten Jahrzehnt komplett verändert, bekräftigt Delgado Cuartas.
Aber nicht so sehr wegen der Regierungspolitik, sondern wegen der Arbeit von Organisationen wie „Picacho con Futuro“, dessen Direktor er ist. Die hätten sich um die konkreten Notwendigkeiten gekümmert.
Städtische Gelder für Nachbarschaftsprojekte
Wichtig dabei sei die zunehmend aktive Beteiligung der Bevölkerung an den Planungsprozessen gewesen. Gemeinsam habe man Vorstellungen darüber entwickelt, wie die Menschen sich ihre Viertel wünschen, um dann zu überlegen, wie sie das erreichen können. Den Nachbarinnen und Nachbarn zu zeigen, welche Beteiligungsgremien es gibt und sie dafür vorzubereiten, sei ihre Aufgabe als Verein, so Delgado Cuartas. Etwa bei der Erstellung des „Partizipativen Haushalts“ der Stadtverwaltung.
Dass zum Beispiel so viele Jugendliche aus dem Viertel heute an der Universität studieren, habe mit Fördermaßnahmen des Vereins zu tun, die aus dem partizipativen Haushalt finanziert worden seien. Auch Wohnungsrenovierungen, Sportplätze oder Begegnungs- und Kulturstätten seien aus städtischen Mitteln subventioniert worden. So sei der Zugang zu den öffentlichen Diensten verbessert worden. Viel Geld sei auch in die Umweltbildung geflossen. Deshalb würden heute viel mehr Menschen Abfall trennen und wiederverwerten und man sähe nicht mehr so viel Müll auf der Straße.
Fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten
Ein Problem, so Delgado Cuartas, seien allerdings die fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten im formellen Sektor. Die meisten lebten als ambulante Straßenverkäufer*innen oder in Gelegenheitsjobs und sind deshalb nicht kranken- und sozialversichert. Der Anteil derer, die unter würdigen Bedingungen arbeiten könnten, habe in den letzten Jahren sogar noch abgenommen. Eine jüngste Erhebung habe ergeben, dass die Situation am Arbeitsmarkt das größte Problem in den Augen der Bevölkerung sei, dann komme die Umwelt. Erst danach rangieren Probleme des Zusammenlebens. Und das, obwohl Picacho einst stark unter der Gewaltproblematik, Kriminalität, Drogen und Bandenkriegen gelitten hat. Konflikte gebe es immer noch, räumt Delgado ein, aber inzwischen eher unter Nachbar*innen.
Banden teilen sich die Viertel und Geschäfte auf
Die Gründe, warum die Sicherheitslage sich in der Comuna 6, dem Bezirk, zu dem der Picacho gehört, so verbessert hat, sind allerdings teilweise problematisch. Angefangen hatte es vor Jahrzehnten mit Jugendlichen aus dem Viertel, die sich bewaffnet und in kriminellen Banden zusammengeschlossen hätten. Danach hätten die städtischen Milizen (der Guerilla) die Kontrolle übernommen. Die wiederum sind durch die Gewalt der Paramilitärs unter Präsident Uribe aufgerieben, vertrieben oder gar getötet worden. Geblieben sind Banden, die aus den paramilitärischen Strukturen heraus entstanden sind.
Doch statt sich wie früher gegenseitig zu bekämpfen, gebe es heute Vereinbarungen, wer wo den Drogenhandel kontrolliere, wer bei welchen Geschäften die Schutzgelder erpresse. Diese Vereinbarungen seien der Grund, warum man heute in der ganzen Zone wieder sicher über die Straße gehen könne. Auch die unsichtbaren Grenzen seien verschwunden, bei deren Überschreiten früher Jugendliche erschossen werden konnten. Wenn man im Viertel nicht bekannt sei, könne es sein, dass man gefragt werden, wer man sei und was man hier zu suchen habe. Aber dank der Vereinbarungen unter den Banden gäbe es hier im Bezirk 6 ein Grundvertrauen. Anders als in den Vierteln Castilla oder Manrique des fünften Bezirks, und auch anders als selbst in der Comuna 13, obwohl diese sich inzwischen mit ihren bunten Wandgemälden und Straßenkünstler*innen sogar zu einer Touristenattraktion entwickelt hat.
Die Nachbarschaft organisiert Alternativen
Wichtig sei, dass die Gemeindeorganisationen in all den Jahren im sechsten Bezirk unabhängig von der Sicherheitslage immer Präsenz gezeigt hätten. Picacho con Futuro ist inzwischen 35 Jahre alt.
Und egal wer jeweils die militärische Kontrolle des Viertels hatte, habe „Picacho con Futuro“ das Gespräch mit ihnen gesucht. ‚Ihr habt andere Interessen als wir und das ist nicht euer Viertel. Hier leben Menschen, die nichts mit euren Geschäften zu tun haben wollen. Respektiert die Strukturen hier!‘. Etwa die Junta de Acción Comunal (der gesetzlich etablierte Nachbarschaftsrat), die Madres Comunitarias (Selbstverwaltete Kindergärten), die Gruppe Mujeres con Futuro, die einen Gemeindegemüsegarten bestellen, das Medienkollektiv Panorámica, eine Jugendtanzgruppe oder die Stiftung Pan, die Kindern einen Raum mit Spielen anbietet, eine sogenannte Ludothek.
Gleichzeitig habe auch „Picacho con Futuro“ selbst Jugendlichen alternative Angebote zu den bewaffneten Gruppen gemacht, bekräftigt Delgado Cuartas. Im Gespräch erwähnt er nicht, dass dies in den Randvierteln von Medellín allenthaben ein schwieriges Unterfangen war und immer wieder zu Todesopfern unter den Sprecher*innen der sozialen Organisationen geführt hat. Aber es klingt durch, wenn er betont: „Wir haben widerstanden“.
Ausgebremst durch politischen Klientelismus
Die Stadtverwaltung habe die Arbeit von Picacho con Futuro aber nie wirklich geschätzt. Sie kämen nur ab und an, um zu kontrollieren. Mit manchen Bürgermeistern war die Zusammenarbeit enger, mit der jetzigen gebe es jedoch große politische Differenzen, weil „Picacho con Futuro“ sehr genau darauf schaue, ob die vereinbarten Entwicklungspläne auch eingehalten würden, sprich ob die Gelder auch im Viertel ankommen.
Weil man ihnen die politische Unterstützung verweigert habe, gebe es jetzt gerade auch keine Finanzierung von der Stadtverwaltung. Letztes Jahr sollten sie sogar aus dem Gebäude ausziehen, das auf städtischen Gelände steht. Aber das konnte dann doch abgewendet werden.
Die parteipolitische Neutralität von „Picacho con Futuro“ galt auch bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Unabhängig davon hatte Delgado persönlich schon die Hoffnung, dass der inzwischen im Amt befindliche Gustavo Petro sich der Notwendigkeiten der sozial Benachteiligten bewusst sei. Manches spreche derzeit dafür, aber es bleibe erst einmal nichts anderes übrig, als zu vertrauen, dass Petro das auch umsetze, was er versprochen habe. Aber beim derzeitigen Bürgermeister von Medellín hätten sie diese Hoffnung auch gehabt, seien aber enttäuscht worden.
Soziale und Kulturprojekte tragen zum Frieden bei
Picacho con Futuro ist Mitglied des Netzwerks Cultura Viva Comunitaria, das sich mit dem Kulturministerium zusammengesetzt hat. Mit der Ministerin, der Theaterregisseurin Patricia Ariza, gäbe es eine Nähe. Es gäbe heute aber eine große Abhängigkeit der sozialen Organisationen von Geldern aus öffentlichen Ausschreibungen. Bei denen ginge es vor allem um die Umsetzung von Regierungsprojekten, bei denen die Basisorganisationen am Ende mehr eigene Ressourcen und vor allem ihr Know How hineinstecken würden, als sie dann ausgezahlt bekommen. Doch viele müssten für ihre Zentren Miete zahlen oder benötigten Gelder, um eigene Räumlichkeiten in Stand zu halten. Die staatlichen Stellen sollten vielmehr ihre bestehenden Aktivitäten vor Ort finanzieren, statt die Vereine zu einfachen Umsetzungsorganisationen für Regierungsprogramme zu machen, meint Delgado. Denn all diese Prozesse, wie sie in Picacho con Futuro umgesetzt würden, trügen auch zu einer friedlicheren Gesellschaft bei. (Siehe auch den Beitrag „Frieden – ein schwammiger Begriff“)
Chancen eröffnen statt Lücken füllen
Sonst bleiben nur private Geber, doch die hätten meist einen sehr karitativen und keinen emanzipatorischen Ansatz. Sie hätten nicht unbedingt ein Interesse an Arbeiter*innen, die ihre Rechte einfordern. Er leugne nicht den finanziellen Beitrag der Privatwirtschaft, aber der stehe in keinem Verhältnis zu den Gewinnen, die sie in Medellín erzielen würden und zu dem wirtschaftlichen Reichtum des Landes. Eine oder anderthalb Stunden müssten die wenigen formell Beschäftigen von Picacho aus zu ihren Arbeitsplätzen in der Industrie, auf den Baustellen oder in fremden Haushalten fahren. Er fahre nur noch Motorrad, um nicht im Stau stecken zu bleiben.
Die Jugendlichen von heute bräuchten Hoffnung, und nicht nur Hoffnung darauf, ein Arbeiter oder eine Arbeiterin mehr in einer Fabrik zu sein, sondern auch studieren zu können. Das ist angesichts der wenigen öffentlichen Universitäten und der hohen Gebühren der Privatuniversitäten nicht leicht. Viele könnten nicht einmal das Fahrgeld dorthin bezahlen. „Ich kann nur hoffen, dass Gustavo Petro mit dem Klientelismus und der Korruption aufräumt, damit die für die Bildung nötigen Gelder frei werden“, sagt Delgado, der selbst als Jugendlicher an den Angeboten von „Picacho con Futuro“ teilgenommen hat und erst vor vier Jahren mit dem Universitätsstudium beginnen konnte. In der staatlichen Universität hatte er keinen Platz bekommen. Deshalb finanziert er sich ein Studium an einer Privatuniversität mit seinem Gehalt bei Picacho con Futuro.