Dass Bolivien gerade einmal 11.312.620 Bewohner*innen hat, war nur eine der Überraschungen nach Veröffentlichung der vorläufigen Zahlen des diesjährigen Zensus durch das Nationale Statistikinstitut. Es wären eine Million weniger als noch im Jahr 2020 projiziert. Eltern würden sich heute mit zwei Kindern begnügen statt wie früher vier, fünf oder sechs Sprösslinge in die Welt zu setzen, begründete der Direktor des Nationalen Statistik-Instituts. Auch sei die Sterblichkeit durch die Corona-Pandemie höher ausgefallen. Ebenso spiele die Migration ins Ausland eine Rolle. Nicht nur die Behörden und die Bevölkerung von Santa Cruz reagierten ungläubig.
Laut Statistik-Institut lebten in der gesamten Region nur gut drei Millionen Menschen. Das sei wenig glaubhaft, meinte der Journalist Carlos Valverde. Die eigenen Daten des nationalen Statistikinstituts lägen höher. Nämlich wenn man die Todesfälle von der Gesamtzahl der Geburten seit der letzten Volkszählung im Jahr 2012 abziehen würde. Die massive Zuwanderung aus den Hochlandregionen in all den Jahren sei dabei noch gar nicht berücksichtigt.
Demographische Trendwende oder organisatorische Tricksereien?
Auch Eva Copa, die Bürgermeisterin der schnell wachsenden Stadt El Alto protestierte. War El Alto in der vorangegangenen Periode im Zeitraum von 11 Jahren noch um über 200.000 Menschen gestiegen, sollen es zwischen 2012 und 2024 nur noch 36.500 mehr Bewohner*innen oder gut vier Prozent mehr gewesen sein. Copa macht sich Sorgen, wie der gestiegene Bedarf an Infrastruktur in ihrer Stadt so abgedeckt werden kann.
Der Anteil der Departamentshauptstädte und El Alto an der Gesamtbevölkerung sei laut Zahlen der Regierungsstatistiker im gleichen Zeitraum von 47,5% auf 45,4% gesunken. Nur bei den Mittelstädten verzeichnen sie höhere Zuwachsraten. Das könnte eine gute Nachricht sein, wenn die Zahlen stimmen. Nun leben viele Menschen gleichermaßen sowohl in der Provinz als auch in den großen Städten. Und etwa eine halbe Million soll für den Zensus in ihren ländlichen Heimatort gegangen sein. Viele, weil ihnen sonst Sanktionen der Herkunftsgemeinde gedroht hätten. Anders als vielleicht in Zeiten von Maria und Josef sind solche Reisen in die Heimat nur für den Tag der Volkszählung für Planungszwecke nicht das Beste. Trotzdem hatte die Regierung diese Völkerwanderung in La Paz auch dadurch unterstützt, dass sie den öffentlichen Angestellten am Vortag frei gegeben hatte. Die Zeit sollte reichen, um vor der verhängten Ausgangssperre noch das Heimatdorf zu erreichen.
Der Konflikt um die Abgeordnetenmandate
Dahinter steckt ein politisches Kalkül. Die Bevölkerungsverteilung ist nicht nur für die Zuweisung öffentlicher Gelder relevant, sondern auch für den Zuschnitt der Wahlkreise. Mehr Bewohner*innen in den Landgemeinden, die zumeist der Regierungspartei MAS nahestehen, bedeutet auch mehr Parlamentssitze. Und wenn die gleichen Personen, die sich auf dem Dorf haben zählen lassen, gleichwohl in der Stadt wählen gehen, in der die Opposition stärker ist, begünstigt das die Bewegung zum Sozialismus in doppelter Weise. Das ist wichtig, weil die Hälfte der Parlamentssitze über Direktmandate vergeben werden. Für die gibt es bei Abweichungen von den prozentualen Gesamtzahlen anders als in Deutschland keine Überhangsmandate.
Ohnehin gilt in Bolivien das Prinzip „Eine Person – eine Stimme“ nur eingeschränkt. Bereits bislang zählt das Votum in der Stadt weniger, als auf dem Land, argumentiert zumindest Manuel Morales vom Nationalen Rat zur Verteidigung der Demokratie CONADE. Ein Beispiel ist Chuquisaca: In der Departamentshauptstadt Sucre leben laut Zensus 49% der Bevölkerung, die zwei Direktabgeordnete wählen. Die restlichen 51% entsenden drei Abgeordnete, wenn es – aus den erwähnten Gründen – überhaupt so viele sind. Die bolivienweit geschätzte halbe Million Menschen, die sich auf dem Land, statt an ihrem Hauptwohnsitz in der Stadt haben zählen lassen, machen weit über vier Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Bei einem knappen Wahlausgang kann das entscheidend sein.
Santa Cruz ist am stärksten betroffen
Hatten die Organisationen von Santa Cruz ihre Stadt 2021 wochenlang gegen eine Verschiebung der Volkszählung protestiert (Latinorama berichtete), so rufen sie jetzt wegen der veröffentlichten Zahlen erneut zu Protesten auf. Die Zahlen seien manipuliert worden, um dem Tiefland nicht nur Steuergelder sondern auch eine der Bevölkerung entsprechende politische Teilhabe vorzuenthalten. Denn Santa Cruz stellt inzwischen zwar knapp ein Drittel der bolivianischen Gesamtbevölkerung, aber weniger als ein Viertel der Abgeordneten im nationalen Parlament. Und unter den Abgeordneten von Santa Cruz sind die Mitglieder der MAS anders als landesweit in der Minderheit.
Der Regierung Arce war klar, dass die Veröffentlichung der Volkszählungsdaten Konflikte verursachen würde. Und da man es schon zu früheren Gelegenheiten mit Zahlen nicht so genau genommen hatte, wenn es politisch oportun schien, rechnete wohl niemand mit einer stillschweigenden Kenntnisnahme der Zahlen. Auch die übereiligen Glückwünsche für Präsident Maduro nach der Veröffentlichung der gefakten Wahlergebnisse in Venezuela haben das Vertrauen in Präsident Arce nicht erhöht.
Volksabstimmung statt Regierungsentscheidungen?
Deshalb kündigte der Präsident an, die künftige Verteilung der Abgeordnetensitze per Volksentscheid klären zu lassen, so wie andere heikle Fragen, die er nicht selbst entscheiden wollte. Etwa die Abschaffung der Treibstoffsubventionen, die das Haushaltsdefizit immer weiter vergrößern. Aber auch die Frage, ob sein parteiinterner Konkurrent Evo Morales noch einmal für die Präsidentschaft kandidieren solle. Nachdem der Wahlgerichtshof die Fragen erst einmal abgelehnt hatte, wies dann überraschenderweise auch das Verfassungsgericht die überarbeiteten Fragen mit dem formalen Argument zurück, der Wahlgerichtshof sei dafür zuständig.
So werden einstweilen die Kräfte wieder auf der Straße gemessen. Evo Morales kündigt einen Marsch und eventuelle Blockaden an, falls seine Kandidatur nicht zugelassen werde. Und die Arce-Fraktion in der MAS setzt dem Wahlgerichtshof ein Ultimatum, einen auf einem Parallelkongress gewählten neuen Arce-treuen Parteivorsitzenden an- und Morales die Parteiführung der MAS abzuerkennen. Die bis dato regierungstreue Zentralgewerkschaft will „für die Demokratie“ und gegen den Anstieg der Konsumentenpreise mobilisieren. Der Transportsektor beklagt, dass entgegen allen Versprechen immer wieder Benzin und Diesel fehlen und sie dann nicht arbeiten können. Händler*innen und Händler demonstrieren wegen fehlender oder zu teurer Devisen, mit denen sie ihre Ware importieren müssen. Auch die Exportwirtschaft ist in Alarmbereitschaft, nachdem Luis Arce in einem TV-Interview davon gesprochen hatte, nötigenfalls deren Deviseneinnahmen über den Staat zu kanalisieren, was den Mangel auf dem Markt noch verstärken würde. Die kürzlich getroffenen Vereinbarungen der Privatwirtschaft mit der Regierung unter anderem zu Exporterleichterungen könnten unzureichend sein, räumt Unternehmensverbandssprecher Giovanni Ortuño ein. Aber wenn man in der Tatenlosigkeit und destruktiver Kritik verharre und nur mit dem Finger auf die Verantwortlichen (Politiker) zeige, könnte die Krise aus dem Ruder laufen.
Indigene zwischen Klientelismus und der Lösung brennender Probleme
Der Dachverband der Aymara-Gemeinden der Titikaka-Region, bislang eine feste Machtbasis des Vizepräsidenten David Choquehuanca, kündigt Straßenblockaden an, weil die Regierung ihre Forderungen nicht erfüllt hat. Der gewählte Sprecher der nach der traditionellen Kleidung „Ponchos Rojos“ benannten Organisation, David Mamani, habe Ministerposten gefordert, die er nicht bekommen habe, sagt der Minister für öffentliche Bauten Edgar Montaño. Das sei nicht wahr, entgegnete Mamani, man habe nur Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit unter Aymara Fachleuten verlangt, sei aber nicht der Büttel der Regierung.
Die versucht derweil, die sogenannten Ponchos Rojos zu spalten. Die Vergabe von Stellen im Staatsapparat gegen politisches Wohlverhalten ist ein Mittel dabei. Beim Versuch der Aymara Gemeinden ihr von einer kleinen Gruppe regierungstreuer Mitglieder besetztes Büro in La Paz zurückzugewinnen, kam es zu Gewalt zwischen Polizei und Demonstrierenden und zahlreichen Verletzten.
Allein die indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinden, die unter verheerenden Wald- und Savannenbränden leiden, protestierten nicht dagegen, dass die Regierung sich wieder einmal weigerte, zeitnah den Notstand auszurufen, damit mit internationaler Hilfe die klammen Staatskassen entlastet werden und die Maßnahmen verstärkt werden können (siehe diesen früheren Beitrag auf latinorama aus Roboré. Heute brennen die Wälder dort erneut). Die betroffenen Dörfer sind mit Löscharbeiten unter prekären Bedingungen beschäftigt. In Santa Cruz wird wegen der schlechten Luftqualität überlegt, zum Schutz der Gesundheit wieder auf virtuellen Schulunterricht zurückzugreifen.
Bolivien erlebt lange vor den für August 2026 geplanten Wahlen unruhige Zeiten.