Gestern besuchte ich die nette Dame beim Umzugsunternehmen, das gegenwärtig meine Blockflötenkollektion und anderes Hab und Gut von Cochabamba nach Berlin transportiert, um die letzte offene Rechnung zu begleichen. Beim Abschied sagte sie mir: „Herr Kiersch, ich gebe ihnen noch meine Handynummer, falls Sie noch Fragen haben“. „Nicht nötig, die habe ich doch“, antwortete ich. „Nein, ich habe ab nächste Woche eine neue Nummer – die Firma wechselt von ENTEL zu einem anderen Anbieter.“ Und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: „Wir sind schließlich keine masistas“.
Plünderung des ENTEL-Gebäudes letzten Mittwoch in Santa Cruz: Foto: El Deber
Die Büros der Telefongesellschaft ENTEL – die Evo Morales im Mai diesen Jahres per Dekret verstaatlicht hatte – waren in den letzten Tagen wiederholt das Ziel von Attacken gewalttätiger Gruppen gewesen. In Santa Cruz plünderte der Mob die ENTEL-Zentrale, setzte das Gebäude in Brand und zerstörte mehrere Server, worauf Telefonleitungen und Internetanschlüsse in der Stadt ausfielen. Auch die Gebäude der Steuerbehörde und des Instituts für Agrarreform (INRA) sowie die Studios des staatlichen Fernsehsenders fielen dem brandschatzenden Mob zum Opfer. Auch in Tarija und Beni kam es zu gewaltsamen Besetzungen und Plünderungen von Behörden und der Blockierung von wichtigen Fernstraßen.
Die Operationen der zumeist jugendlichen Kampftrupps wie der Union Juvenil Cruceñista finden ausdrücklich Zustimmung der regionalen Autoritäten: Der Sprecher der Präfektur in Santa Cruz erklärte nach den Exzessen am Mittwoch, diese spontanen Demonstrationen seien ein Ausdruck dafür, dass die Bevökerung müde ist, dass die Regierung die Forderung nach Autonomie ignoriere und ein illegales Referendum über die neue Verfassung plane. Der Präfekt von Tarija, Mario Cossío, inspizierte nach Feldherrenart die Straßenblockaden, die seit 18 Tagen den Verkehr nach Argentinien unterbinden. Die Gasexporte nach Brasilien und Argentinien, Haupteinnahmequelle Boliviens, mussten wegen der Proteste zeitweise gedrosselt werden.
Kernpunkt der Proteste ist neben dem Konflikt um die neue Verfassung die Verteilung der Erlöse aus den Steuern auf Erdöl- und Erdgasförderung (Impuesto Directo al Hidrocarburo, IDH). Die Regierung in La Paz hatte den die Anteile der Regionen Anfang des Jahres an dem Steueraufkommen um 30 % gekürzt, um ein neues staatliches Rentenprogramm, die „Renta Dignidad“, zu finanzieren. Bislang hat Evo Morales jeglichen Kompromiss abgelehnt, den Departamentos auch nur einen Teil dieser Einnahmen zurückzuerstatten – auch wenn es die stattlichen Staatsreserven durchaus erlaubten.
In den letzten drei Jahren unter Evo Morales ist es in Bolivien trotz großer politischer Konflikte zwischen Hochland und Tiefland sowie zwischen Regierung und Opposition vergleichsweise ruhig gewesen. Trotz der Kompromisslosigkeit von Evo und seinen politischen Opponenten bei der Umsetzung ihrer jeweiligen politischen Agenda kam es kaum zu nennenswerten Gewaltausbrüchen – mit Ausnahme des 11. Januar 2007, als bei Straßenschlachten in Cochabamba zwischen Anhängern der MAS und des Präfekten Manfred Reyes drei Menschen ums Leben kamen. Die gegenwärtigen Exzesse, die mit den gestrigen Konfrontationen in Porvenir (Pando) einen traurigen Höhepunkt erreichten, haben jedoch eine neue Qualität, da sie das Land destabilisieren. Es ist schwer vorstellbar, wie diese Krise angesichts der starren Haltung der MAS einerseits und der Präfekten der östlichen Departaments andererseits ohne einen Mediator gelöst werden kann.
Aha, denke ich erstaunt, als ich auf die Straße trete: Wenn Leute aus Antipathie vor Evo Morales die Telefongesellschaft wechseln, kann man auf die gleiche Weise auch Solidarität mit seiner Politik zeigen? An der nächsten Ecke kaufe ich einer Cholita einen Stapel ENTEL-Telefonkarten ab. Keine Ahnung, mit wem ich in meinen letzten drei Tagen in Bolivien noch so lang telefonieren soll. Hatte eigentlich vor, mein letztes Wochenende in Cochabamba mit Freunden bei Chicha, Chorizos und Chicharrón zu verbringen. Aber egal. Die Cholita strahlt mich an, und ich denke, egal, ob Evo es merkt oder nicht: schon wegen ihres Lächelns hat sich die Investition gelohnt.
In der Tat – natürlich müssen auch die 16 Bergarbeiter aus Huanuni erwähnt werden, die im Oktober 2006 bei Protesten gegen die Wiederverstaatlichung der Zinnminen ums Leben kamen.
Ohne Frage, jeder Tote während politischer Unruhen ist einer zuviel – mein Text sollte das auf keinen Fall relativieren.