Mehr als zweihundert Kunstschaffende aus rund dreißig Ländern sind daran beteiligt, was bereits erahnen lässt, wie weit verzweigt und international Mail-Art-Netzwerke seit den 1960er Jahren gewachsen sind1.
In einer Zeit, in der digitale Kommunikation Massensendungen und schnellen Austausch per E-Mail prägt, rückt die Schau ein Medium ins Zentrum, das heute fast anachronistisch wirkt: die Postkarte. Als Erinnerungsstück, als Träger persönlicher Botschaften und als Experimentierfeld der Avantgarde spielte sie über Jahrzehnte hinweg eine wichtige Rolle. Die frühen Avantgarden entwickelten dabei Formen des künstlerischen Postverkehrs, die später in der Mail Art wieder aufgenommen wurden2.
Zur Ausstellung Cartes Postales et Mail-Art in Paris
Die Ausstellung präsentiert ein breites Spektrum von Künstlerpostkarten und zeigt die Vielfalt ästhetischer Positionen und historischer Kontexte. Ergänzt wird sie durch einen offenen Aufruf: Während eines festgelegten Zeitraums konnten Kunstschaffende Postkarten einsenden, ohne Vorauswahl und ohne Jury. Dieser offene Ansatz knüpft an das Selbstverständnis der Mail Art an, wie es bereits von frühen Akteuren wie Ray Johnson etabliert wurde 3.
Mail Art bot besonders in Phasen politischer Repression eine freie, oft subversive Ausdrucksform jenseits staatlicher Kontrolle. Umschläge und Postkarten wurden zu künstlerischen Trägern, die poetisch, widerständig oder beides zugleich sein konnten. Das von Robert Filliou entwickelte Konzept des Eternal Network 4 bildet hierfür einen zentralen theoretischen Rahmen: Kunst als globaler Austausch, als soziale Praxis und als offene Kommunikationsstruktur.
Vor diesem Hintergrund stellt Maïten Bouisset die Frage: „Ist Mail Art eine Kunst für Insider oder eine Kunst, die anstiftet?“ Mail Art ist zugleich eine Praxis, die Teilhabe einfordert, und eine Bewegung, die ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Netzwerke und ihre eigene Form von Wissen hervorbringt. Wie die Postkarte selbst macht auch Mail Art zeitgenössische Kunst nahbar. Sie verbindet künstlerisches Arbeiten mit einer Erfahrung, die universell ist: dem Senden oder Empfangen einer Postkarte. Dieser alltägliche Zugang öffnet ein Fenster zur Kunst, persönlich, gemeinschaftlich und spontan. Der Ansatz spiegelt zugleich das Selbstverständnis von Immanence wider, das kulturelle Zugänglichkeit ausdrücklich als gesellschaftliche Aufgabe versteht 5.
Die Ausstellung präsentiert zentrale Persönlichkeiten der Mail Art wie Ray Johnson, Klaus Groh, Ruth Wolf-Rehfeldt, Robert Filliou, Ken Friedman und Mohammed alias Plinio Mesciulam, aber auch wichtige Künstlerinnen und Künstler der zeitgenössischen Kunst wie Hanne Darboven, Christo und Joseph Beuys. Vertreter der zweiten Generation wie Lutz Wohlrab und György Galántai sowie heute aktive Positionen wie Susanne und Lars Schumacher, Hans Braumüller, Jürgen O. Olbrich, Gerald Jatzek und Gerald Naar zeigen, wie lebendig und vielgestaltig diese Kunstform geblieben ist.

Teilnehmerliste
Martine Aballéa, Peter Abajkovics, Anne Abou, Frédéric Acquaviva, Démosthène Agrafiotis, Fernando Aguiar, Jean-Michel Alberola, Christian Alle, Elisabeth Amblard, Giovanni Anceschi, AooA, Karel Appel, Argillia, Arman, Atelier Populaire, Enrico Baj, Sabela Baña, Melanie Bäreis, Vittore Baroni, Paul Bazin, Francesca Bella, Valérie Belin, John Bennett, Ottmar Bergmann, Pedro Bericat, Joseph Beuys, Daphné Bitchatch, Caroline Bittermann, Julien Blaine, Sarah Bodman, Christian Boltanski, Mario Borillo, Jean-François Bory, Daniel C. Boyer, BP (Renaud Layrac, Frédéric Pohl, Richard Bellon), Hans Braumüller, George Brecht, Theo Breuer, Marcel Broodthaers, Camille Bryen, Dmitry Bulatov, Alfonso Caccavale, Agnès Caffier, Bernard Calet, Angela Caporaso, Isabelle Caraés, Bettina Carl, Christiane Carré, Orianne Castel, Guglielmo Achille Cavellini, Cozette de Charmoy, Roberta Chiarella, Bruno Chiarlone, Paella Chimicos, Henri Chopin, Mario Cobas, Bob Cobbin, Joel Cohen, Michel Collet, William Copley, Michel Corfou, Periklis Costopoulos, Réjean F. Côté (Circulaire 132), Jean-Claude Courval, DADANAUTIK, Daniel Daligand, Hanne Darboven, Jean Degottex, Ma Desheng, Erik Dietmann, DOC(K)S (revue), Paul Dorn, Ferruccio Dragoni, Jerry Dreva, Sved Uwe Dressler, François Dufrêne, Jean-Jacques Dumont, Leif Elggrenn, Öyvind Fahlström, Bartolomé Ferrando, Bernadette Février, Luc Fierens, Robert Filliou, Ken Friedman, Thorsten Fuhrmann, Marco Furia, György Galántai, Christophe Galatry, Jakob Gautel, Antonia Gennimata, Paul-Armand Gette, Gilbert & George, Liliane Giraudon, John Giorno, Michel Giroud, Ferdinand Glenk, Yves Gobart, Susan Gold, Guillaume Goutal, Klaus Groh, Géraldine Guilbaud, Brion Gysin, Richard Hamilton, Sten Hanson, Raoul Hausmann, Bernard Heidsieck, John Held Jr., Karl Horst Hödicke, Risto Holopainen, Joël Hubaut, Joseph W. Huber, Alice Hutchins, Olivier-Franck Huyghe, Dorothy Iannone, Katrin Jaquet, Gerald Jatzek, Jef Aérosol, Birger Jesch, Holly Johnson, Ray Johnson, Asger Jorn, Ana Jotta, Detlef Kappis, Jason Karaïndros, Alison Keenan, Ellsworth Kelly, Katia Kelm, Alison Knowles, Arthur Køpcke, Jannis Kounellis, Serafine Christine Kratze, Inès P. Kubler, Hans Jürgen Küster, Susanna Lakner, François Lagarde, Matthieu Laurette, Jean-Jacques Lebel, Stéphane Lecomte, William Lee, Jean Le Gac, Jean-Claude Lefevre, Ben Leenen, Michael Leigh, Bob Lens, Siggi Liersch, Eloise Lifton, Andre Lisangi, Virginie Loreau, Gaëlle Lucas, Henri Maccheroni, Jackson Mac Low, George Maciunas, Brice Marden, Richard Martel, Olive Martin, M. Chat, Katerina Mandarik, Chris Marker, Annette Messager, MH//ANTIPODE, Monica Michelotti, Wanda Mihuleac, Stephan J. Mitterwierser, Susanne Mitterwieser, Alex Mlynarcik, Mohammed (aka Plinio Mesciulam), Sabine Mohr, Malcom Morley, Côme Mosta-Heirt, Martine Mougin, Tania Mouraud, Massimo Mori, Valérie Mréjen, Gabriele Müller, Christa Näher, Gerald Naar, Keiichi Nakamura, Seigne Ndiaye, Seth Nicemail, Boris Nieslony, Andrew Maximilian Niss, Guttorm Nordö, Zorica Obradovic, Jürgen O. Olbrich, Pauline Oliveros, Mathilde Ollivier, Yoko Ono, Jeremie Otternbach, Asma Ounine, Marco Pachetti, Clemente Padin, Nam June Paik, Bogdan Pavlovic, Claude Pélieu, Rémy Pénard, Ben Patterson, Pierre Petit, Ségolène Perrot, Horvath Piroska, Bruno Pierozzi, Pete Pistol, PLG, Hugo Pontes, Morgane Porcheron, Plonk & Replonk, Rittiner & Gomez, Gabriel Pomerand, Hugo Pontes, Jérôme Rappanello, Serge-Henri Rodin, Yvonne Roeb, Robic Roesz, Dieter Rot(h), Francis van Rossem, Edward Ruscha, Robert Ryman, Carmela Sarcina, Abderrazak Sarenco, Antonio Sassu (Gruppo Sinestetico), Roberto Scala, Michel Seuphor, Takahachi Shohachiro, Lars Schumacher, Susanne Schumacher, Schmuck (Martha Hellion et Felipe Ehrenberg), Renate Schweizer, Daniela Scurtulescu, Sorin Scurtulescu, Esther Ségal, Tanabe Shin, Adrian Sorin Sinescu, Judith Skolnick, Christine Smilovici, Snappy, Alain Snyers, Spike Spence, Daniel Spoerri, Klaus Staeck, Giovanni e Renata StraDA DA, Cannelle Tanc, Paul-André Tanc, Irina Tall, Ulrich Tarlatt, Romain Théobald, Miroslav Tichy, Tofu, Tonelli, Roland Topor, Endre Tót, Horst Tress, Richard Tuttle, Ben Vautier, Michel Della Vedova, Valentine Verhaeghe, Martine Viale, Christophe Viard, Jacques de la Villeglé, Frédéric Vincent, Yoshi Wada, Eric Watier, Robert Watts, Rainer Wieczorek, Ruth Wolf-Rehfeldt, Henri van Zanten, Bettina Weiss, Tom Westermann, Lutz Wohlrab, Gil Wolman, Reid Wood, Tamara Wyndham, Dana Wyse, Max Wyse, La Monte Young und viele andere…

Über Immanence in Paris
Immanence engagiert sich für die Demokratisierung des Zugangs zur Kultur, indem es die Vielfalt des aktuellen künstlerischen Schaffens allen Menschen zugänglich macht. Kulturelle Teilhabe wirkt sozialen Ungleichheiten, Diskriminierungen, Willkür und Abschottung entgegen. Immanence wird unterstützt von der Stadt Paris, dem französischen Ministerium für Kultur und Kommunikation sowie der DRAC Île-de-France, der regionalen Kulturbehörde des Kulturministeriums.
Einige Postkarten der Austellung
















Fußnoten
- Mail Art entwickelte sich in den 1960er Jahren zu einem internationalen Netzwerk, das physische Distanz durch künstlerischen Austausch überbrückte.
- Dada, Fluxus und Lettrismus nutzten die Postkarte als künstlerisches Medium und bereiteten damit Strukturen vor, auf die Mail Art später zurückgriff.
- Das Prinzip des offenen Austauschs wurde von frühen Protagonisten wie Ray Johnson etabliert und blieb bis heute zentral.
- Robert Filliou prägte mit dem Begriff des Eternal Network (1968) ein Modell globaler Kunstkommunikation jenseits institutioneller Grenzen.
- Immanence versteht seine Arbeit explizit als Beitrag zur kulturellen Zugänglichkeit und spiegelt damit die soziale Offenheit der Mail Art.
Weiterführende Quellen zur Mail Art
- International Union of Mail-Artists (IUOMA) https://iuoma-network.ning.com Internationales, aktives Netzwerk von Mail-Art-Künstler:innen, mit Projektarchiven und historischen Diskussionen.
- Ray Johnson Estate https://www.rayjohnsonestate.com Offizielles Archiv des Mail-Art-Pioniers Ray Johnson.
- Artpool Art Research Center – Eternal Network https://artpool.hu/Network/ Umfassende historische Quelle zu Robert Filliou, dem „Eternal Network“ und internationalen Mail-Art-Strukturen.
- Tate – Fluxus (Art Term) https://www.tate.org.uk/art/art-terms/f/fluxus Grundlegender Überblick zu Fluxus als internationalem Netzwerk, das experimentelle Formen des Austauschs entwickelte und wichtige Impulse für die Mail Art lieferte.
- John Held Jr. papers relating to mail art, 1947–2018 (Archives of American Art) https://www.aaa.si.edu/collections/john-held-papers-relating-to-mail-art-6273 Der vollständig erschlossene Mail-Art-Nachlass des Künstlers, Archivars und Chronisten John Held Jr., mit digitalisierten Dokumenten aus mehreren Jahrzehnten.