vonMarie 06.12.2022

Warum sind Sie nackt?

Marie R. bloggt über ihren Alltag in deutschen Krankenhäusern.

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Der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen: Auch in diesem Jahr waren meine Feeds in den sozialen Medien überflutet mit Posts und Informationen zu diesem wichtigen Thema, das aufrüttelt und berührt – zumindest kurzfristig.

Aber wie sieht die Realität aus, wenn die Statistiken veröffentlicht sind?
Wo sind die Betroffenen sicher? Wo werden sie gehört?
Die Kommentarspalten auf Facebook sind voll von Personen, die jedwedes Argument aus der Luft greifen um die tragische Realität zu verharmlosen.
Hinter diesen Kommentaren stecken (meistens) echte Menschen mit Jobs. Menschen, die sich im sozialen Gebilde unserer Gesellschaft bewegen und so maßgeblich zu dem herrschenden Klima beitragen.

Nun hatte ich einen dieser Tage, an dem mir klar wurde, dass der 25.11. hinter uns lag und wir unser Bestürzen und unsere „social-signaling“-Posts wieder bis zum nächsten Jahr eingemottet haben. Weihnachten steht vor der Tür. Das Krankenhaus ist überfüllt und wir streiten auf Station darüber, wer wann an Weihnachten und Silvester arbeitet.

Eine Frau wird per Rettungsdienst eingeliefert, sie hat Reinigungsmittel getrunken. Ihre Arme sind übersät mit blauen Flecken, grün und lila Fingerabdrücke. Ihr Gesicht ist durch ein blaues Auge gezeichnet. Sie kommt aus einer Erstaufnahmeeinrichtung und die Mitarbeiter*innen vor Ort haben den Rettungsdienst alarmiert. Die Kommunikation gestaltet sich sehr schwierig, da die Patientin nur wenig Deutsch und kein Englisch spricht.

Niemand hält es für notwendig, eine*n Dolmetscher*in einzubestellen. Niemand kann ausreichend übersetzen. Ihr Zustand ist zum Glück stabil. Etwa eine Stunde nach Aufnahme stürmt ein Mann in den Behandlungsbereich, ein Kleinkind an jeder Hand – der Ehemann ist angekommen und der Empfang hat ihn durch gelassen. Er spricht mit ihr in harschem Ton. Ich verstehe nichts, aber unterbreche das Gespräch schnell. Der Flur einer großen Notaufnahme ist kein Ort für kleine Kinder. Er muss draußen warten. 

Über mehrere Stunden werden Tests gemacht, hauptsächlich wird gewartet. Deutsche Notaufnahmen sind chronisch überlastet und gefährlich unterbesetzt. Eine*n Dolmetscher*in erhält die Patientin noch immer nicht. Unser Arzt spricht mit dem Ehemann, der übersetzt. 
Sie hätte, so der Ehemann, kleine Flaschen Sagrotan mit den Trinkpäckchen der Kinder verwechselt. Eine Verwechslung also, mehr nicht …

Nun kann ich verstehen, dass es schwierig sein mag, in einem neuen Land die (noch) unbekannten Produkte zu identifizieren – aber, dass eine Frau mit kleinen Kindern Sagrotan Hygienespüler mit Apfelsaft verwechselt, erscheint mir doch eher unwahrscheinlich.

Mein Kollege, der für den internistischen Bereich und damit auch für besagte Patientin zuständig ist, informiert mich, dass die Dame nach Hause gehen könne. Während ich einen blutüberstörmten Herren versorge – er ist böse gestürzt, typisch bei dem Wetter – stellt sich mein Kollege an das Fußteil der Liege.
Wir müssen nur noch schnell was für die Akte klären“, sagt er und dreht sich zu der Frau um. Jede Silbe betonend fragt er sie laut: „WOLLTEN SIE SICH UMBRINGEN? UMBRINGEN JA? NEIN? UMMMMBRINGEN?“,
begleitet von einer schneidenden Handbewegung mit dem Daumen von Ohr zu Ohr.

Diese Frage stellt er auf dem Flur einer vollen Notaufnahme, mit mindestens 50 Menschen in Hörweite. Offensichtlich verneint sie. Ich bin absolut sprachlos für einen Moment. Was passiert hier gerade?! Meine Fragen nach dem weissen Ring, der Nummer des Frauenhauses oder einer Broschüre in ihrer Sprache werden verneint – „Sowas haben wir nicht!“.

Schon steht der Ehemann im Flur, drückt ihr die Kinder in die Hände und die ganze Familie macht sich auf den Heimweg. 

Jede Stunde erfahren durchschnittlich 13 Frauen Gewalt in der Partnerschaft. Beinahe jeden Tag versucht ein Partner (oder Ex-Partner) eine Frau zu töten. Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch ihren derzeitigen oder vorherigen Partner.“ Das hat Bundesfrauenministerin Lisa Paus vor knapp zwei Wochen berichtet. Die Stadt, in der ich mich gerade befinde, hat zwar ein Frauenhaus – die Nummer weiß aber keine*r von uns.

Im chirurgischen Bereich wird eine Patientin versorgt: „Zustand nach häuslicher Gewalt“. Sie ist aufgeregt, redet schnell und zusammenhanglos vor sich hin und ist sichtlich erschüttert. Ihre Verletzungen sind (zum Glück) vergleichsweise gering: Prellungen, Abschürfungen, ein paar blaue Flecken. Ihr Bericht der Ereignisse, zwischen den Zeilen, erzählt von langfristiger Misshandlung. Ein toxisches Umfeld.

Ihr Mann habe sie dahingehend informiert, dass er nun fest mit ihrer Tochter – seiner Stieftochter – zusammen sei. Als sie sich darüber aufregte, verprügelte er sie. Die Tochter ist 17 Jahre alt und wütend auf ihre Mutter, schrie diese an. Die Patientin solle zukünftig auf dem Sofa schlafen oder ausziehen. Fluchend, schimpfend und Sachen durch die Behandlungskabine schmeißend erzählt sie, wie das Jugendamt sie habe hängen lassen. Der Ex-Mann sei auch gewalttätig gewesen und will die Tochter nicht nehmen. Das System habe sie komplett im Stich gelassen. Die Polizei wolle sie nicht einschalten – aus Angst, ihre Tochter würde sie dann verachten. Meine Kollegin, die sich um die Frau kümmerte, ist sichtlich genervt: BOAH, ist die Olle asozial. Ich kann es nicht mehr hören!“.

Von außen gesehen fällt die Patientin in die Kategorie „schlechter gestellter Personen“, die seit Jahrzehnten im „Trash-TV“ von Sat1 und RTL zur Belustigung der Massen ausgenutzt werden. Sie erhält Sozialhilfe, ihre Kleidung hat schon bessere Tage gesehen, sie ist körperlich unfit und besitzt nicht die typisch deutsche, stoische Haltung. Nein, diese Patientin teilt ihre Bedürfnisse und Ängste mit – und das lautstark.

Kaum 2 Stunden nachdem sie aufgenommen wurde, kann sie wieder gehen. Ich bitte sie den „weissen Ring“ anzurufen und bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Ich suche im Netz nach Anlaufstellen, da es keine Broschüren o.Ä. vor Ort gibt. Die Patientin packt ihre Sachen, lächelt mich müde an, zuckt die Schultern – „Vielleicht, mal sehen.“ – und verlässt uns hinaus in die kalte, vorweihnachtliche Nacht.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir alle in die Hölle kommen für diesen Dienst …

„Das Erkennen von Verletzungen im Zuge von Fremdeinwirkung sowie die genaue Dokumentation der Blessuren gehört geschult“, sagten Expert*innen der Allgemeinen Unfallversicherung bei einer Pressekonferenz. „Opferschutz beginnt oft im Krankenhaus“, sagte etwa die Medizinerin Irene Tambornino.
Leider habe ich, bei all meinen Einsätzen von München bis Rügen, noch kaum vernünftige Ansätze gesehen. Es gibt kaum präventive Programme oder Möglichkeiten für die Betroffenen, alleine mit jemandem zu sprechen.

Am 23. November hat Bundesfrauenministerin Lisa Paus verkündet: „(…) deshalb brauchen wir ein flächendeckendes, niedrigschwelliges Unterstützungsangebot – in der Stadt genauso wie auf dem Land. Ich kämpfe dafür, die Lücken im Netz der Frauenhäuser und Beratungsstellen zu schließen. Wir werden eine einheitliche Rechtsgrundlage schaffen, um die Hilfseinrichtungen verlässlich finanziell absichern zu können. Damit Frauen in Zukunft überall in Deutschland einen sicheren Zufluchtsort und kompetente Beratung und Hilfe finden.“

Wir waren diese Anlaufstelle nicht – zumindest nicht an diesem Tag. Meine Kolleg*innen und ich haben alle Burnout. Wir haben kaum Zeit für Patient*innen und nicht mehr die emotionalen Kapazitäten. Die Notaufnahme sieht 500-1000 Patient*innen pro Woche. Im Frühdienst sind meistens fünf examinierte Pflegekräfte für 15 Fachbereiche, plus Schockräume, zuständig – im Nachtdienst sind es drei Fachkräfte. Zudem ist die „Pflege“, also das Umsorgen der Patient*innen, nicht das Hauptziel, sondern das Versorgen – also das Abarbeiten von Fällen, der Arbeitsalltag in Notaufnahmen. Die meisten Kolleg*innen sehen an einem Tag mehr traumatische Dinge als andere Pflegekräfte in ihrer ganzen Karriere. Es gibt keine Mediation, kaum Aufarbeitung, kaum Pausen und noch weniger Dankbarkeit. Die Notaufnahme erhält keine Zuschläge, keinen Coronabonus, keinen Infektionszuschuss, keinen Gefahrenzuschuss – und für viele der Kolleg*innen fühlt es sich an, als würden sie nicht wertgeschätzt. Der Mehraufwand oder das Ändern von Abläufen ist praktisch unmöglich, wenn das benötigte Personal so erschöpft und abgestumpft ist, dass es nicht mal mehr bemerkt, wenn es 8 Stunden nicht auf Toilette konnte oder durstig ist.

Kernaussagen zur Partnerschaftsgewalt 2021:

  • 143.016 Fälle von Gewalt in Partnerschaften (2020: 146.655 Fälle)
  • 143.604 Opfer (2020: 148.031 Fälle), davon 80,3 Prozent weiblich (2020: 115.342 Fälle), 19,7 Prozent männlich (2020: 28.262 Fälle)

Art der Delikte:

  • 59,6 Prozent vorsätzliche einfache Körperverletzung
  • 24,2 Prozent Bedrohung, Stalking, Nötigung
  • 12,2 Prozent gefährliche Körperverletzung
  • 2,5 Prozent Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexuelle Übergriffe
  • 0,3 Prozent Mord und Totschlag
  • 1,3 Prozent andere Delikte

Anmerkung: Die Polizeiliche Kriminalstatistik registriert die Straftaten nicht nach der Tatzeit, sondern zum Zeitpunkt der Abgabe an die Staatsanwaltschaft.

 

Anlaufstellen für Betroffene:

 

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