Meinen ersten ungeschönten Einblick in die chaotische Situation der Pädiatrie, hatte ich während eines Einsatzes in einer zentralen Notaufnahme.
Mitten in der Nacht geht der IVENA-Alarm los.
Schockraum-Alarm,
Kind unter 3 Jahren, Verbrennung/Verbrühung,
Ankunft in 22 Minuten.
Normalerweise gehen Kindernotfälle sofort auf die Kinderintensivstation. Die Kindernotaufnahme ist dafür nicht ausgestattet. Leider wird eine schwere Verbrennung als chirurgischer Notfall gewertet und läuft daher über den normalen Schockraum. Die zuständige Pädiaterin kommt zu uns: blass, nervös. Sie war bisher noch nicht auf der Kinderintensivstation eingesetzt, sie ist unsicher, was jetzt passiert.
Ein Arzt und drei Pflegekräfte für die komplette Kinderintensivstation
Wir rufen auf der Intensivstation an, aber in dieser Nacht sind nur ein Arzt und drei Pflegekräfte für die komplette Kinderintensivstation zuständig: zwei für den Bereich Neugeborene und eine für den Bereich Pädiatrie. Keine*r der Kolleg*innen kann den Arbeitsplatz verlassen. Wir müssen zu ihnen kommen. Den Kinderchirurgen rufen wir letztendlich zu Hause an „Benny, du musst kommen. Sofort!“.
Zum Glück für alle Beteiligten war in dieser Nacht Pfleger M. da, in dieser Nacht Schichtleitung in der Notaufnahme. An anderen Tagen fährt er im Rettungsdienst beim Kindernotarzt-Team mit. Er übernimmt die Leitung, bereitet alles vor und beschließt, ich solle ihn unterstützen – aufgrund meiner Fortbildung in Kindernotfällen. Unser*e kleine*r Patient*in ist schwerer verletzt als gedacht, auf dem besten Weg in einen lebensbedrohlichen Schock. Verbrühungen durch ein heißes Getränk, die von der Familie mit einem Gemisch aus Öl und Ei bereits sporadisch versorgt wurden – Google sei Dank für Hausmittel.(Bitte machen Sie dies NIE nach, furchtbare Idee)
Die diensthabende Ärztin bleibt während unser Erstversorgung an der Tür stehen. Der Notarzt, Pfleger M. und ich erledigen das Nötigste. Der Weg zur Kinderintensiv war noch nie so lang, wie in dieser Nacht. Auf dem Rückweg finde ich die Ärztin im Treppenhaus, sie weint. Es ist ihre erste Woche in der Notaufnahme, sie hatte noch nie einen Notfall und das war ihr erster Schockraum.
Eine Katastrophe, die sich längst abgezeichnet hat
Es ist schwer, einen Studienplatz in der Pädiatrie zu bekommen. Das ist ihr Traumberuf und sie ist frisch ins Berufsleben eingestiegen. Man hatte sie in dieser Nacht allein gelassen, da Notfälle dieser Art in diesem Haus doch eher selten sind. Die Klinik hat darauf spekuliert, dass nichts passiert – und ohne Pfleger M. wären wir in dieser Nacht verloren gewesen.
In diesem Jahr trifft uns nicht nur erneut eine Corona-Welle: Nach dem Wegfall der meisten Schutz- und Isolationsmaßnahmen, sind auch Influenza, Para-Influenza und RSV wieder in den Kliniken präsent. Eine Katastrophe, die wir im Gesundheitsbereich längst haben kommen sehen. Die Politik scheint trotzdem komplett überrascht.
„Es ist eine Frage der Zeit, bis wieder ein System kollabiert, wir erschreckt draufschauen und uns fragen: ‚Wie konnte das passieren?‘“ – Daniel Grien, Bundesgeschäftsführer des Kinderschutzbundes.
Momentan erreichen uns täglich Horrorgeschichten und Hilferufe aus deutschen Kinderklinken: Aufnahmestopp, schwer kranke Kinder werden nach Hause geschickt, elektive Operationen abgesagt, Kinder liegen auf dem Flur, etc. Die Politik, die von dem Problem wiederholt komplett überrascht wurde (obwohl bereits seit den 00er Jahren Betten abgebaut werden, Personal fehlt und bereits vor der Pandemie Kliniken im Winter an die Grenzen stießen) hat sich nun mit verschiedenen Lösungsansätzen an die Medien … ich meine an die betroffenen Kliniken gewandt.
Ich selbst bin gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin, habe also keine Spezialisierung für die Versorgung von Kindern. Irgendwann im Laufe meiner Karriere habe ich allerdings eine Fortbildung für Kindernotfälle absolviert. So entwickelte es sich, dass ich in der Hauptstadt eines großen Bundeslandes auf unterschiedlichen Kinderintensiv- und Überwachungsstationen eingesetzt wurde.
„Wir werden Personal aus den regulären Erwachsenenstationen in die Kinderstationen verlegen“, verspricht Gesundheitsminister Lauterbach.
Das ist im ersten Moment vielleicht ein guter Gedanke – bis einem bewusst wird, dass in Deutschland bis zu 80.000 Pflegekräfte fehlen und auch auf den Normalstationen das Personal knapp ist. Es wird sich zeigen, ob sich besagtes (Pflege-)Personal finden lässt.
Ein ganz anderes Problem ist, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Diesen Umstand hatte ich, selbst kinderlos, nicht wirklich bedacht, bis ich ziemlich ahnungslos auf der chirurgischen Überwachungsstation eines Kinderklinikums stand. Das Personal, das mich einarbeiten sollte, war höchst verzückt: Ich habe schon rudimentäre Ahnung von Pädiatrie, kann fließend Deutsch sprechen und bin gegen Masern geimpft. Frisch aus der Notaufnahme kommend, war ich komplett aus meinem Element gerissen. In der Notaufnahme entwickelt man schnell eine gewisse emotionale Kälte, eine selbsterhaltende Distanz zu den Patient*innen. Man lässt die Schicksale, die Menschen, nicht an sich heran.
Meiner Erfahrung nach ist dies generell der Fall in der Erwachsenenpflege. Der „Cool-Out-Effekt“ ist ein bekanntes, aber nicht vielbeachtetes Problem unter Pflegekräften. Zu enge Beziehungen zu Patient*innen werden vermieden, da die Patient*innen ansonsten sehr fordernd und distanzlos werden können. Oder man fühlt sich schuldig, dass man den Patient*innen nicht gerecht werden kann. Auch sind Sterbefälle ein einigermaßen regelmäßiges Ereignis.
Kinder brauchen eine emotionale Verbindung
Nähe und Distanz sind ein großes, prüfungsrelevantes Thema in der Ausbildung. Wir bekommen eingetrichtert, eine professionelle, emotional distanzierte Persona anzunehmen –- auch um uns selbst zu schützen. Das ist mit Kindern so nicht möglich. Kinder brauchen eine emotionale Verbindung, Kinder möchten gekuschelt und getröstet werden. Kinder haben andere Standardwerte. Werte, die bei einem Baby noch normal sind, sind bei einem 6 Monate älteren Kind bereits bedenklich. Dann muss noch der Entwicklungszustand beachtet werden: Reifgeboren? Frühchen? Zu leicht? Erkrankungen?
Ich habe Schichten gearbeitet, in denen ich halbstündlich Menschen verloren habe. Ich habe mehrere Schockräume gleichzeitig betreuen müssen, da nicht ausreichend Personal da war. Ich hatte den berühmt-berüchtigten Dienst mit 14 Schlaganfall-Patienten am ersten Arbeitstag der Neurolog*in. Ich wurde zwei mal mit einem Messer im Dienst angegriffen. Ich habe Morddrohungen erhalten. Ich habe mehr Menschen reanimiert, als ich zählen kann.
Trotz alledem hatte ich noch nie in meinem Leben solche Angst, wie auf der Kinderstation. Erwachsene bekommen eine Ampulle, eine Tablette oder eine Flasche von einem Medikament.
Leider gibt es Medikamente nicht speziell für Kinder, die Dosis wird einfach herunter gerechnet. Für mich hat das bedeutet, dass ich 5-45 Medikamente pro Kind von der Erwachsenendosis auf die für Kinder angemessene Dosis runter rechnen und vorbereiten musste: Tablette in Kochsalzlösung auflösen, Dosierung berechnen und die richtige Menge entnehmen, dann in eine Infusionslösung geben. Immer wieder hat mich die Angst geplagt, mich in der Dosis verrechnet zu haben. Wenn ein Erwachsener einen halben Tropfen mehr von einem Schmerzmittel bekommt oder eine Tablette nicht perfekt in der Mitte geteilt ist, dann ist das erstmal kein Problem. Bei einem Baby, das ein Medikament aus einer Ampulle erhält, die vier erwachsene Patient*innen versorgen kann, ist schon ein Zehntel eines Milliliters zu viel – eine potentielle Überdosis!
Selbstzerstörungsknopf auf dem Kopf
Im hektischen, chaotischen Klinikalltag war die sorgfältig antrainierte Genauigkeit der Kinderkrankenpflegerin absolut notwendig und ich musste mit Schande feststellen, wie schlampig – vielleicht auch verwöhnt – wir Erwachsenenpfleger doch sind. Die Frustration, den eigenen Beruf nicht vernünftig machen zu können, hat am Anfang an mir genagt. Immer wieder musste ich die erfahrenen Pfleger*innen fragen, ob z. B. das von mir beobachtete Atemmuster normal ist – oder doch schon bedenklich.
Dann waren da die Frühchen, teilweise gerade etwas über einem Kilo. Ich habe Angst, bzw. großen Respekt vor Babies! Sie sind so zerbrechlich, haben einen Selbstzerstörungsknopf auf dem Kopf und vergessen regelmäßig zu atmen. Meine Kollege*innen waren sich sicher, dass ich diese Angst überwinden muss und so hatte ich regelmäßig das „Kinderzimmer“ mit den Früh- und Neugeboren zu versorgen. Ich habe paranoid jedes Kind überwacht, war praktisch ständig in den Zimmern und habe alle Medikamente und alle anstehenden Handlungen zu Beginn meiner Schicht farblich codiert niedergeschrieben.
Ich nehme meinen kleinen Patienten aus dem Wärmebettchen, die Flasche liegt bereit und erkläre meinem heutigen „Problemkind“, dass wir dieses Mal bestimmt 20 ml Muttermilch getrunken bekommen. Seine Mutter hat, verständlicherweise, Angst vor der Ernährungssonde und wenn er endlich ausreichend trinkt, kann sie ihn bei ihrem nächsten Besuch selber füttern. Bevor ich die Flasche auch nur anlegen kann, bekommt er Schluckauf, wird blau und hört auf zu atmen. Der Monitor gibt schrillen Alarm, ich nehme den kleinen, schlaffen Körper hoch und reibe ihn, stupse ihn fest gegen die Nase – ein scharfes einatmen und mein heutiger Sparringspartner spuckt mir in die Haare.
Aus dem Flur ertönt ein „Alles gut?“, die Kinderkrankenpfleger*innen kennen die regelmäßigen Bradykardien (verlangsamter Herzschlag) bei Frühchen und sind nicht im geringsten besorgt. Ich habe wahrscheinlich einen Puls von 180. Wenigstens trinkt mein kleiner Spucki super und kann später – unter Aufsicht – von seiner Mutter versorgt werden.
Kinderkrankenpfleger*innen sind Rockstars, sie haben endlose Geduld mit uneinsichtigen Eltern, frustrierten Kleinkindern und sogar mit mir. Sie besitzen eine unglaubliche Würde und Liebe in ihrer Arbeit. Egal, wie chaotisch es wurde oder wie frustrierend, sie waren trotzdem sanft und organisiert mit all unseren kleinen Patient*innen. Mir blutet das Herz, wenn ich daran denke, wie abgrundtief verzweifelt sie momentan sein müssen. Wohlwissend, dass man nicht einfach mal eine Pflegekraft von einer Normalstation entführen kann und diese sich dann nahtlos in den Arbeitsalltag einfügt.
Ich wünschte nur, man hätte wenigstens die Größe einzugestehen, dass man diese unglaublichen Fachkräfte hat hängen lassen.
Super starker Beitrag. Danke dafür.