Eine „Influencerin“ geht am Wochenende in die Notaufnahme, wegen eines Abszesses – kein akuter Notfall an sich aber objektiv eine unangenehme Situation. Nach zwei Stunden verlässt sie die Notaufnahme wieder.
Später wird sie ein bitteres Video in den sozialen Medien hochladen und sich beschweren – über die Wartezeit, darüber mit einem Rezept für eine Creme heim geschickt worden zu sein. Darüber, dass die Notaufnahme nicht den richtigen Facharzt für ihr Problem vor Ort hatte. Darüber, dass niemand ihren Notfall ernst genommen hat.
In den Kommentaren sammelt sich schnell das Personal aus dem Gesundheitswesen – mit Infos, guten Ratschlägen und Kritik.
Die Reaktion folgt prompt: ein neues Video mit der einfachen Nachricht – warum nicht am Wochenende mehr Ärzte einstellen, wenn man weiß, dass es zu Engpässen kommt? Schließlich würden sich viele Ärzte über Arbeit freuen!
Manchen Menschen ist wohl einfach nicht zu helfen.
Bin ich frustriert? Und wie. Ich bin aber auch betroffen und wütend. Denn ich kenne diese Art Patient*in. In meiner Karriere hatte ich sie, in Abständen, immer mal wieder. Mal alle zwei Wochen jemand, über den man nur erstaunt den Kopf schütteln kann. Zeiträume, in denen sich der Frust verdauen lässt; daraus eine lustige Anekdote im Pausenraum werden kann.
Seit der Pandemie und dem Boom der sozialen Medien ist dem nicht mehr so. Gespräche mit Kolleg*innen im ganzen Land zeigen ein einheitliches Bild: Patient*innen wollen alles und zwar umgehend – SOFORT!
Wackelige Versorgung
Ich möchte hier keineswegs verzweifelte Menschen durch den Kakao ziehen, die in die Notaufnahme kommen, weil sie nicht 6 Monate auf den Termin beim Neurologen warten können oder ihr Hausarzt von der Pandemie so ausgebrannt ist, dass er ihre Gebrechen nicht mehr ernst nimmt. Ich bin froh über jede*n, der mit fragwürdigen Symptomen in die Notaufnahme kommt und wieder nach Hause gehen kann. Entweder, weil sich das Problem ambulant lösen lässt, einfach ein Medikament schlecht eingestellt war oder eine Ambulanz bzw. ein Facharzt übernehmen kann.
Ich kann sogar nachvollziehen, wenn Patient*innen immer wieder kommen, auf der Suche nach einer organischen Ursache für ihre psychischen Leiden. Manchmal muss ich für mein Verständnis tief durchatmen, reflektieren wo mein Frust herkommt und anerkennen, welchen Leidensdruck diese Patient*innen haben. In unserer Gesellschaft werden diese Erkrankungen immer noch sehr negativ gewertet oder nicht ernst genommen. Ein junger Mann mit Panikattacken? Niemals! Es muss ein Herzinfarkt sein.
Ist es manchmal frustrierend, wenn extrem viel zu tun ist und der Name eine*r Patient*in auftaucht, welche*r mit den gleichen Symptomen zum zehnten Mal in kürzester Zeit da ist? Selbstverständlich, wir sind nur Menschen.
Lieber Herzinfarkt als Burnout
Die wenige Zeit, die wir als Personal in der Notaufnahme für jede* Patient*in haben, müssen wir dann oft für eine weitere Blutabnahme, ein EKG, ein Röntgen oder ein CT investieren – obwohl all das bei den vorherigen Aufenthalten bereits gemacht wurde, die Röntgendosis langsam bedenklich wird und immer alles „blande“, also ohne Auffälligkeiten, war.
Ärzt*innen in der Notaufnahme sind häufig noch jung und frisch(er) im Berufsleben – die Hemmschwelle eine*r Patient*in zu erklären, dass diese in der Notaufnahme falsch ist, ist hoch. Die Angst, sich zu irren und etwas zu übersehen, ebenfalls. Diese Fälle sind kniffelig und machen mich traurig.
Wer hofft schon auf einen Herzinfarkt, weil der Arbeitgeber, die Familie, das Umfeld dies eher akzeptieren würden als Burnout, Depressionen oder eine Angststörung? Das ist leider tragische Realität.
Bitte einmal alles zum Mitnehmen
All diese Dinge sind akzeptabel – trauriger Alltag zwar, aber insgesamt erträglich.
Nein, worüber wir – das Personal – uns wirklich aufregen, sind Patient*in, die mit einer „der Kunde ist König – aus dem Weg, Lumpengesindel!“-Mentalität bei uns auftauchen. Mehr als einmal bekam ich schon zu hören: „Ich will nicht hier bleiben! Ich will nur ein Ganzkörper-MRT haben. Sofort“, „Wieso soll ich warten? Ich bin PRIVAT!”.
Patient*innen oder Angehörige, die sich vor mir aufbauen, tief schockiert, dass 30 Minuten nach einer Röntgenaufnahme noch kein Chirurg im Zimmer steht und all die Antworten parat hat. Die laut werden, die mich beleidigen, die handgreiflich werden (oder es versuchen) weil sie warten müssen, nochmal in den Wartebereich geschickt werden oder die notwendige Fachabteilung nicht in der Notaufnahme vertreten ist.
Magische Pille für Nicht-Notfälle
Dann sind da noch diejenigen, die irgendwie nicht verstanden haben, wofür die NotAUFNAHME da ist … oder warum ihr Problem ganz hinten ansteht und jeder dringendere Fall vorher dran kommt. Patient*innen, die für eine zweite Einschätzung eines eingewachsenen Zehennagels in die Notaufnahme kommen. Patient*innen, die leichte Kopfschmerzen haben – jung und ohne Vorerkrankungen, keine Schmerztabletten genommen oder kein Wasser getrunken haben.
Dasselbe ist auch auf junge und fitte Patient*innen, die mit vor einigen Stunden aufgetretenem, leichtem Fieber (oder Halsschmerzen oder Durchfall) in die Notaufnahme kommen, anzuwenden – keine Medikamente genommen, nicht beim Hausarzt oder in der Apotheke gewesen; Wartezeit wird trotzdem nicht akzeptiert. All diese Nicht-Notfälle wollen bitte umgehend gesehen werden, eine magische Pille sowie umfangreiche, teure Therapie durch einen Facharzt erhalten und dann wieder nach Hause gehen.
Ich muss jedes Mal tief durchatmen und meine brennende Wut herunterschlucken, wenn ein*e Patient*in, die warten musste – weil er oder sie gerne eingerenkt werden möchte, einmalig „Durchfall“ hatte oder nach dem Schwimmbadbesuch die Nase brennt – von mir verlangt, über neu eingelieferte Notfälle („Vordrängler“) informiert zu werden.
„Die Hausarztpraxis schließt um 12h mittags! Da penne ich noch!“
Ja, liebe Leser*innen, das passiert. Menschen verlangen, dass ich bei der Reanimation innehalte, in den Wartebereich gehe und verkünde, dass es eventuell etwas länger dauert, weil wir gerade Tante Emma wiederbeleben. Menschen verlangen, dass die Ärztin sich rechtfertigt, wenn sie von einem Notfall zurück kommt und sie deswegen warten mussten.
Menschen verlangen auch, dass wir die Aussage „Die Hausarztpraxis schließt um 12h mittags! Da penne ich noch!“ als legitimen Grund anerkennen, um sich mit Schnupfen in der Notaufnahme vorzustellen.
Noch schlimmer? Die Patient*innen die denken, sie kämen schneller an die Reihe, wenn sie per Rettungswagen ankommen. In der Vergangenheit hatte ich Patient*innen, die die Notaufnahme verlassen haben, um dann um die Ecke oder von Zuhause aus einen RTW zu rufen – die dringenden Gründe:
- eine Abschürfung am Knie
- Demenzabklärung für die Mutter
- Verstopfung seit zwei Tagen
- Krätze, die bereits behandelt wurde
- Rückenschmerzen seit 6 Wochen ohne vorheriges Trauma
- Fußschmerzen nachdem man mit Flip Flops im Urlaub war
- Nasenbluten (Blutung steht seit 2 Stunden)
- Verkatert
- Pickel am Bauch
- Fäden ziehen
- Schwindel beim zu schnellen Aufstehen (seit 10 Jahren)
Jeder Einsatz kostet etwa 800 Euro für die Krankenkasse. Die Fahrer*innen des RTW müssen die Patient*innen einem Arzt oder einer Ärztin zuführen, wenn diese es wünschen. Da es aber stressig und potentiell gefährlich sein kann, jedes Mal einen Notarzt oder eine Notärztin hinzu zurufen, werden diese Patient*innen in die Notaufnahme gefahren.
Kein Drive-through
Das frustriert, das trägt zum Burnout bei und leider stumpft all dies auch ab. Die Notaufnahme ist zur notfallmäßigen Versorgung und Aufnahme da. Sie ist kein Drive-through, bei dem die Person am Schalter noch freundlich fragt, ob es dazu noch eine Portion Pommes sein darf. Es wird nicht nach 20 Minuten, gut verpackt, eine Antwort oder Lösung für das individuelle Problem serviert.
Wer in die Notaufnahme geht, sollte mit 3 Stunden oder mehr Wartezeit rechnen – und nicht vergessen, dass wir jeden Tag da sind. Das Personal in der Notaufnahme sieht an einem einzigen Arbeitstag oft mehr schlimme Sachen als andere in ihrem ganzen Leben. Wir versuchen, es uns nicht anmerken zu lassen, versuchen nett und professionell zu sein. Wir verstehen, dass die Notaufnahme ein angsteinflößender Ort sein kann. Aber wir sind nicht der Feind, wir können nichts für die langen Wartezeiten.