Seit dem 17 Oktober erschüttern soziale Proteste der chilenischen Zivilbevölkerung die ganze Nation. Die zentrale Forderung: eine neue Verfassung. Eine Verfassung, die für mehr soziale Gleichheit und Gerechtigkeit stehen soll. Eine Verfassung, die festlegt, dass weder Arbeitsverhältnisse, noch Rentenversicherungen, noch Bildung, noch die Gesundheit der Menschen als private Güter festlegt werden können. Eine Verfassung, die nicht 1980 von dem Mann erlassen wurde, der mithilfe der CIA 1973 den Präsidentenpalast La Moneda bombardieren lies, um in den darauffolgenden 17 Jahren eine Diktatur zu schaffen, während der mehr als 40.000 Personen Opfer von Folter, Haftstrafen und Mord wurden: eine Verfassung, die nicht den Namen Pinochet trägt.
Die vergangenen Wochen waren, und die jetzigen Tage sind immer noch, gekennzeichnet von Gewalt: Polizeigewalt gegenüber Protestierenden, Polizeigewalt gegen die chilenische Bevölkerung. Mittlerweile sollen 230 Menschen ein Auge verloren bzw. eine irreversible okulare Verletzung durch Waffengewalt der Polizei erlitten haben. Diese Verletzungen sind keine „Kollateralschäden“- sondern das Ergebnis gezielter Schüsse der chilenischen Polizei. Seit etwa einem Monat halten die Proteste ununterbrochen an.
Das Recht auf eine freie Meinungsäußerung ist kein alltägliches und ist auch in dem als demokratisch angesehenen chilenischen System offensichtlich nicht durchgehend gewährt. Die massive und gewaltsame Unterdrückung der Bevölkerung durch die Polizei unter dem Kommando der Piñera- Regierung während der letzten Wochen ist ein klarer Beweis für das Scheitern dieser „Teilzeit-Demokratie“. Es zeigt die Verzweiflung einer Regierung, die versucht, soziale Proteste mit diktatorischen Mitteln zu unterdrücken.
Dieser Artikel ist den Personen gewidmet, die sich versammeln und protestieren, um für die sozialen Rechte einzustehen, die ihnen längst hätten ermöglicht werden sollen.
Solidarität unter Demonstrant*innen während der Proteste
Bikarbonat gegen Tränengas. Tränengas ist eine chemische Substanz, die darauf zielt, die Atemwege, die Augen, die Haut und sensible Nervenenden zu reizen. Der ätzende und toxische Reizstoff verteilt sich in Sekundenschnelle in der Luft und hemmt die Funktion des Nasen- und Rachenbereichs sowie der Augen fundamental. Folgen: zeitliche Erblindung, Tränenfluss, Übelkeit, Brechreiz, Kopfschmerzen, Krämpfe, teilweise auch Bewusstlosigkeit. Hautbrennen, Hautrötung oder Verätzungen mit möglicher Blasenbildung. Nies- und Hustenreiz, Atemnot. Tränengas bleibt teilweise an Kleidern, Haut, Haar und Bart hängen, sodass es auch nachträglich noch wirkt. (Die Verwendung solcher Giftgase ist in Kriegs- und Konfliktsituationen nach dem Völkerrecht im übrigen verboten, wird aber bei Demonstrationen von der Polizei weltweit gerne benutzt)
Reaktionen: Wasser mit Bikarbonat mischen und es mit Tränengas in Berührung gekommenen Personen ins Gesicht sprühen oder es ihnen in die Hände schütten, damit sie sich die betroffenen Stellen säubern können. Bikarbonatmischungen sind Pufferlösungen und verringern die durch die mit Tränengas in Berührung gekommene erhöhte Säurekonzentration auf der Haut signifikant, sodass die Schmerzen und Reizungen etwas gemindert werden.
Wasserversorgung durch Lokalinhaber*innen und Demonstrant*innen. Während der Proteste versorgen Lokalinhaber*innen und Zivile Demonstrant*innen mit Wasser. Die Temperaturen steigen tagsüber u.a. über 30 Grad.
Medizinstudierende und Ärztekollektive als Nothelfer*innen. Student*innen des Fachbereichs Medizin laufen in Kleingruppen in weißen Kitteln durch die Menschenmassen und helfen Personen, die verletzt wurden. Neben diesen Student*innen, organisieren sich seit Beginn der Proteste am 18 Oktober 2019 etwa 100 medizinische Fachkräfte, die im Rahmen des Zusammenschlusses von Salud a la calle Verletzte versorgen (teilweise müssen Verletzte in Einkaufswägen aus den in Tränengas eingehüllten Zonen geholt werden). Zur Kennzeichnung tragen die Helfer*innen einen weißen Helm und einen weißen Schild, auf denen jeweils ein Kreuz aufgemalt ist. Tagsüber arbeiten die freiwilligen Nothelfer*innen in den Kliniken, um daraufhin an den Protesten teilzunehmen und Verletzte zu versorgen. Mittlerweile ist die Zahl der von ihnen versorgten Personen bereits über 500 Personen gestiegen.
(Video) Reportage mit aussagekräftigen Videomaterial über die herausragende Arbeit des Ärztekollektivs Salud a la calle. https://www.youtube.com/watch?v=oGpJJOgoFXU
(Video) Solidarität der Protestierenden untereinander. https://www.facebook.com/brian.enriquecm/videos/10220206030282171/?__tn__=%2CdCH-R-R&eid=ARCpErKL_njZkeH8roxFR_AbeMlD8ZcW7WNsq5vToBus-4JIRkoG5Ij-6ZqQ6yUouVoLCcHK_tdyd98Z&hc_ref=ARQbrrhCVYSEr1KdwXSZlGZyaN67UGy78Mp9cv2PIXgPIdqM954LipwN763axCwDceY&fref=nf
Protestaktion von Architekturstudent*innen auf der Plaza Italia
Der zentrale Platz Plaza Italia Santiagos, dem im Verlauf der Proteste von Demonstrant*innen der Name Plaza de la Dignidad (Platz der Würde) gegeben wurde und der der Ausganspunkt der zivilgesellschaftlichen Mobilisierungen in der Hauptstadt ist, wurde Schauplatz einer friedlichen und innovativen Protestaktion von Architekturstudent*innen verschiedener Universitäten.
Hinter der Protestaktion steht die Idee, die kostspieligen und doch prekären Wohnzustände in Chile darzustellen und zu kritisieren, da diese auf die Privatisierung des Wohnungsmarktes durch Immobilienhändler*innen zurückzuführen ist: mit Kreide und Farben zeichneten die Student*innen Pläne für Wohnungen der Größe von teilweise lediglich 17m2, die trotz ihres minimalen Raums einen Marktwert von 50 bis 60 Millionen chilenische Pesos haben- das sind zwischen knapp 58.000 und 69.500 Euro. Diese Nanoviviendas („Miniwohnungen“), die die Planungsstruktur für reduzierten Wohnraum in Hong Kong als Vorbild hatten, sind seit etwa 2016, vor allem in zentraleren Bereichen wie der Comúna de Santiago, Estación Central und San Miguel vorzufinden.
Artikel und Bilderreihe zur friedlichen Protestaktion. El Desconcierto https://www.eldesconcierto.cl/2019/10/30/fotos-estudiantes-de-arquitectura-protestan-dibujando-con-tiza-costosos-departamentos-de-17m%c2%b2-en-plaza-italia/
(Video-)bericht über die Protestaktion. CNN Chile https://www.cnnchile.com/pais/intervencion-plaza-italia-departamentos-sociales_20191031/
Gestern (Dienstag, der 19.11.2019), reichten Oppositionsparteien Klage gegen den chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera ein: wegen verfassungswidrigen Verhaltens. Die Oppositionen kritisieren vor allem die Entscheidung Piñeras, nach einem Tag der Proteste den Ausnahmezustand auszurufen, sowie seine mangelnde Stellungnahme hinsichtlich der begangenen Verletzungen der Menschenrechte durch Polizist*innen und Militär gegen Protestierende und die Zivilbevölkerung.
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Weiteres Video- und Bildmaterial
(Video) Friedlicher Protest durch Tanz und Gesang im Norden Chiles, San Pedro de Atacama.
https://www.facebook.com/glenda.s.mamani/videos/10220709564711335/UzpfSTEzNjgxNzQ5NjM6MTAyMjEyMTkyODc0NTYyNTY/?__tn__=%2CdlC-R-R&eid=ARBSgkKw2tEToHeARy244qCyznSx4DtZEx4RXjDGaBBh7G6lQSlJRXIcpcK-clG4lEPR_cLMCpwAdIPx&hc_ref=ARSqt3xdt1c8OdBsxSqTqQaX2Yk1nUIEV-VdQcWHh8etmwviTkmb-gjR9kdL9qnyZLo
(Video) Protest durch Musik und Gesang gegen die private Rentenversicherung AFP in einer U-Bahnhaltestelle. https://www.facebook.com/karina.carcasson.barrios/videos/10219667519855064/UzpfSTEzNjgxNzQ5NjM6MTAyMjEzMDUyODU0MDYxNTE/?__tn__=%2CdlC-R-R&eid=ARBfKPvv14BMnzZ0BceCIPxICq0iFlTXcv31PCXXqh-2PWBa50WbPh8UdUw1SlqvmYH1h1YVQhL5fFNH&hc_ref=ARQNLAq93O3beXo1G3BCXEXQlo7LcsChRH-tVyrIfAbUzO8nnRdthGNm651xQfWcIBA
Öffentlicher Account auf Instagram, Bilder der Proteste und Protestaktionen. Frentefotografico
https://www.instagram.com/frentefotografico/?hl=de
Öffentlicher Account auf Instagram, Protestaktion in Berlin zur Unterstützung der Proteste in Chile. Chileiscalling https://www.instagram.com/chileiscalling/?hl=de
* (Lied) Calle 13, Latinoamérica https://www.youtube.com/watch?v=DkFJE8ZdeG8