10. Wild Billy Childish
Billy Childish ist eine Legende des britischen Undergrounds. Unzählige Alben, Bands und Songs hat er unter den verschiedensten Namen (Thee Headcoats, Buff Medways, etc) in den letzten annähernd 30 Jahren veröffentlicht und immer noch marschiert er erhobenen Hauptes weiter. Kommerzieller Erfolg ist ihm dabei nicht wichtig und selbst wenn sich für eine kurze Zeit der Geschmack der Welt zufällig für die Art Musik interessiert, die Billy Chidish seit Jahrzehnten nun in erschreckender Regelmäßigkeit produziert, verhilft ihm das zu keinem Durchbruch. Im Gegensatz zu allen Garagen-Punk-Bands, die die ersten Jahre des neuen Jahrtausends beherrschten, bleibt Childish der kompromisslose Vater der Szene, der kein Jota von seinen Überzeugungen weicht.
Mit einer Erstweltkriegspickelhaube bekleidet spielt er sich durch seine Karriere und man kommt nicht umhin zu bemerken, dass The White Stripes, The Hives und Art Brut die Hälfte ihrer Songs von ihm geklaut haben. Die unterhaltsamste Geschichtsstunde der Welt. (Berlin, Festsaal Kreuzberg)
CI
Man sollte bei Be Your Own PET Gigs keinesfalls zu spät kommen, denn bei einer Band, deren durchschnittlicher Song im besten Fall eineinhalb Minuten dauert und die mit unmenschlicher Energie sich durch ihr Set rumpelt, schreit, kreischt, wälzt, kann man kaum mehr als eine halbe Stunde Spielzeit erwarten. Aber, ganz ehrlich, wenn diese halbe Stunde eine derartige Offenbarung an wildem Punk ist, wer bräuchte, ja, wer könnte das länger ertragen? Be Your Own PET bringen die Wildheit und Unverkrampftheit der Jugend so unverfälscht auf die Bühne, dass man Jemina Pearl als kleine Schwester adoptieren möchte. (Berlin, Magnet)
CI
Die Nagelprobe besteht eine Band oft, wenn sie mit unveröffentlichten Stücken das Publikum ebenso begeistern kann wie mit altbekanntem. Kante hatten das Glück/Pech, dass ein Sturm beim Bayreuther Uni-Open-Air eine Verlegung ihres Auftrittes in die naturwissenschaftliche Aula notwendig machte. Ohne Bühne, umringt vom Publikum präsentierten sie dort zum ersten Mal das, was später als das umwerfende „Die Tiere sind unruhig“ für Begeisterung sorgte. Auf der im Herbst folgenden Tour zum Album bestätigten sie den großartigen Eindruck mit treibenden Sounds, die viele oberflächlich an die Queens of the Stone Age erinnerte und
herrlichen Texten.
Highlight: Sänger Peter Thiessen ergänzt das eigentlich instrumentale „Tourisme“ durch eine Hommage an Morrissey mit den Zeilen „Come Armageddon, come Armageddon“. (Uni-Open-Air Bayreuth / Erlangen, E-Werk / melt! Festival)
MH
Schrieben ähnlich wie Deichkind das Wort „Show“ in ganz großen Lettern während ihres Auftrittes beim melt!-Festival in der City of Steel. Ein kaum beschreibbares Bühnenbild, welches im Wesentlichen aus zwei großen Blöcken bestand, die im Verlaufe des Konzertes ständig Form und Position wechselten. Dazu sorgten um die 10 Tänzer und Look-Alikes für ständige Bewegung und Verwirrung auf der Bühne und mitten drin eben Neil Tennant und Chris Lowe mit ihrer unüberschaubaren Zahl an Hits aus 20 Jahren Pop-Geschichte. Highlights: zu viele, um sie einzeln zu nennen. (melt!
Festival)
MH
Obwohl erst in diesem Jahr das neue Album vom Deichkind herauskam, hatten die Songs darauf doch einen hohen Wiedererkennungswert. Schließlich ist die Band schon gut zwei Jahre (und wahrscheinlich danach noch mal so lange) mit der zugehörigen Tour unterwegs, auf der Stücke wie „Aufstand im Schlaraffenland“ und vor allem „Remmi-Demmi (Yippie Yippie Yeah)“ zu Hymnen wurden. Gerade bei den Besuchern, die Minuten vorher noch „Iih, Deichkind? Das ist doch deutscher Hip-Hop?“ zweifelnd die Nase gerümpft hatten. Eben diese fand man dann oft in der ersten Reihe hüpfend und schreiend, wenn der Deichkind-Hit „Limit“ in 2Unlimiteds Euro-Trash von „No Limit“ überging, ein Sofa auf der Bühne zu Kleinholz verarbeitet wurde oder DJ Phono im Schlauchboot über die Menge getragen wurde.
Highlight: „Remmi-Demmi“ bei Sonnenaufgang beim melt!-Open-Air, während ca. 300 Leute die Bühne stürmen und eine fassungslose Security zurücklassen. (u.a. Würzburg, Soundpark Ost / melt! Festival, Gräfenhainichen)
MH
Nach Love Is All gleich die nächste Band, die ein Saxophon auf die Bühnen bringt. Und auch die Rückkehr von The Rapture, derer mit einiger Spannung und einer gewissen Grundskepsis ob der enormen Erwartungen nach ihrem epochalen „Echoes“-Album vor einigen Jahren geharrt wurde, wusste vollends zu überzeugen. Auch hier ist wieder das erstaunliche wie gerade The Rapture-Songs sich in den Rock’n’Roll-Band-Kontext übersetzen lassen. The Rapture schaffen es dabei, eben nicht nur Musik für Clubs zu machen, sondern live tatsächlich den Tanzbefehl mit der gleichen Vehemenz dem Publikum entgegenzuschleudern. Immer noch die Könige des Post-Punk, Punk-Funk, Disco-Punk, What-Evers. (Berlin, Lido)
CI
Vor den Auftritten beim Southside/Hurricane Festival spielten Sigur Rós quasi einen Warm-Up-Gig in der wunderschönen Alten Feuerwache im doch recht hässlichen Mannheim. Wenn auch unbestuhlt, fand das Ganze doch im angemessenen Rahmen statt: Ein salzsäulengleich regungsloses Publikum verbrachte zu 98% den Auftritt nur auf die Bühne starrend – einzig der frenetische Applaus nach jedem einzelnen Stück brachte Bewegung in die gebannte Menschenmasse.
Highlight: popplagið als letzter Song, zur Hälfte hinter einem mit Projektionen überfluteten Vorhang gespielt. Atemberaubend. (Mannheim, Alte Feuerwache)
MH
Fünf Schweden und ihre energiegeladene und erfrischende Wiederaufnahme des klassischen Indiepop der End-80er. Eine unwahrscheinlich sympathische Band, die den Sound der Platte auf den Konzerten annähernd eins zu eins zu reproduzieren vermag und genau dieses himmlische Chaos, das Nebeneinander aller Instrumente, ja, selbst das kaum verständliche Gesinge und Gekreische von Sängerin Josephina exakt so auf die Bühne bringen. Dass die fünf dabei noch dem Saxophon in der Indie/Punk-Musik seine Berechtigung zurückgeben, ist das Sahnehäubchen auf diesem Schwedenhappen. (Berlin, Magnet / Hamburg, Molotov)
CI
Ein Mann mit Violine und Loop-Pedal auf einer Bühne. Dazu Live-Animationen, die durch Auflegen und Bewegen von Folien auf einem Overhead-Projektor erzeugt werden. Das klingt schräg, hatte aber eher etwas Magisches an sich. Selten erlebt man, dass die Aufmerksamkeit des Publikums mit jedem Stück wächst. Neben den wunderschönen Melodien zog vor allem die Frage in den Bann, wie Owen Pallet (u.a. auch bei The Arcade Fire) das macht, was er da macht. So richtig hat man es immer
noch verstanden, wenn er gerade wieder über eine Schicht von mehreren zuvor gespielten Song-Fragmenten, die anschließend geloopt werden, eine weitere Spur live spielt oder singt. Was man jedoch versteht ist, dass selbst peinliche Stücke wie Mariah Careys „Fantasy“ oder das langweilige „Modern Love“ von der Bloc Party bei Mr. Pallet auf ein Niveau gehoben werden, die ein Anhören der Originalversionen danach völlig unmöglich machen, ohne diese irgendwie halbgar zu finden. (Würzburg, Cairo)
MH
Jaja, es ist in der Zwischenzeit schwer, den Musiker Peter Doherty noch hinter der Kate-Moss-Junkie-Rockfreund-yellow.press-Nebelwand zu erkennen und um so unglaublicher ist es dann, wenn ein Abend tatsächlich nur auf die Songs reduziert ist.
Wie immer bei Herrn Doherty war natürlich auch bei dem beeindruckenden Berlin Konzert in diesem Jahr die Vor- (5 Stunden Verspätung) und Nachgeschichte (MTV-Team mit Blut aus der Heroinspritze bedacht) so gewaltig, dass keiner fragte, wie das Konzert denn war, aber hier kann man es ja nun doch einmal erwähnen: es war fantastisch, ohne Abstriche.
Selbst die irrsinnige Verspätung und das Bangen, ob denn überhaupt ein Konzert stattfinden würde, hatte im Rückblick seine Vorteile. Die Halle war lediglich zur Hälfte gefüllt, weil weder Gala-Leser, noch Junkie-Trainspotter oder Pete-Lookalikes so lange ausharren wollten und letztenendes ein überaus angenehmes Publikum – in zugegebener Maßen beinahe devoter Verehrung – auf den Ex-Libertine wartete.
Das Konzert selbst war von nicht zugetrauter Genauigkeit, aber immer mit dem nötigen Freiraum wie einer spontanen Setlist. Das Repertoire von Doherty, angefüllt mit einigen Libertines-Songs wie „Time For Heroes“ oder „What A Waster“, ist in der Zwischenzeit mehr als vielseitig und das Charisma, das Außerweltliche besitzt er immer noch wie kaum ein anderer in der britischen Musikszene der letzten zehn Jahre. Auch wenn es keiner hören mag: eines der besten Konzerte seit Jahren. (Berlin, Columbiaclub)
CI
UND SONST?
Art Brut – fegten über die Menge und sorgten für die ausgelassenste Stimmung, die Erlangen bis dato erlebt hatte. Bei den Freilicht-Konzerten hatte das Ganze dann leider schnell einen „been there/done that“-Effect und wurde doch zu schnell als Routine erlebt
(Erlangen, E-Werk / Immergut Festival, Neustrelitz / melt! Festival,
Gräfenhainichen)
Aphex Twin – Einer der ganz wenigen Live-Auftritte des Meisters der
schrägen und unhörbaren Töne. Ein „Ballet“ aus Rollstuhlfahrern war noch
das gewöhnlichste, was in diesen 2 Stunden geschah, während denen eine
verstörend-ruhige Atmosphäre langsam in ein völlig durchgeknalltes Chaos
überging (melt! Festival)
The Strokes – Während Franz Ferdinand zuvor durch hyperaktives Rocken
und Rollen versuchten, ihre doch recht dünnen Songs des zweiten Albums
wahrhaftig zu „überspielen“, reichte ein regungslos am Mikro stehender
Julian Casblancas, um die Schotten in den Schatten zu stellen. (Festival
Internacional de Benicassim)
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MH
[…] das zweitschönste konzert im jahr 2006 war für die popblog-schreiber der taz das final fantasy im cairo! darüber freuen wir uns sehr! […]