vonChristian Ihle & Horst Motor 23.01.2007

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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1. Match Point (USA, Regie: Woody Allen)


Es ist wohl nicht übertrieben, bezeichnet man Match Point als die Wiedergeburt des Nischenphänomens Woody Allen. Jahr für Jahr fertigt Allen mindestens einen Film und selten sind wirkliche Enttäuschungen darunter, doch gelang es ihm kaum noch vor anderen als der schon bekehrten Woody-Gemeinde zu predigen. Mit „Match Point“ änderte sich alles: London statt New York, Thriller/Drama statt Komödie und Aufsehen in der Presse statt Nerdgespräche am Tresen. Der sehr stark an Dostojewskijs klassische Themen von Verbrechen, Strafe, Schuld und Sühne angelehnte, subtile Klassenkampfthriller Match Point vereinte Allens Talent brillante Dialoge zu schreiben mit der neu entdeckten Fähigkeit, diese in eine genuin spannende Geschichte einzubetten und dabei die großen Fragen des Daseins zu verhandeln. Geschadet hat es überdies nicht, dass er seit Sofia Coppola der erste war, der das Talent Hollywoods schlechthin, Scarlett Johansson richtig einzusetzen verstand und eine Eleganz in Kamera und Regie an den Tag legte wie seit „Manhattan“ nicht mehr. In einem nicht ganz überzeugenden Filmjahr das herausragende Werk.


2. Brick (USA, Regie: Rian Johnson)


Der kleine Teenager-Film-Noir „Brick“ war vielleicht die Überraschung des Jahres, gerade weil er eine auf dem Papier unmögliche Ausgangslage vollends zu seinem Vorteil zu nutzen wusste. Brick ist eine einzige Referenz an Bogart, Chandler, Sam Spade, kurz, an die Schwarze Serie des Hollywoods der 40er, setzt seine klassische Film Noir Geschichte aber an eine US-Highschool heutigen Datums und erzielt damit absurde und komische Verfremdung. Die Figuren in diesem Kleinod spielen klassische Noir-Gestalten: der hardboiled „Detektiv“ der Marke Bogart, die undurchsichtige Femme Fatale, der sinistre Drogenboss und sein tumber Haudrauf… Klischees allenthalben, die auf wunderbare Weise karikiert werden, ohne dem Film die Spannung zu verleiden oder ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Denn, der Trick bei Brick ist nun einmal, dass all diese Film-Noir-Rollen von 17jährigen Highschool-Absolventen gespielt werden und die Glaubwürdigkeit vollständig intakt bleibt. Hat man sich aber erst einmal auf diese Welt der Adoleszenz eingefunden und akzeptiert, dass die Jungen und Mädchen zwar aussehen wie aus dem High-School-Dating-Movie von nebenan, aber eben sprechen, als wären sie Bogart & Bacall, entwickelt Brick einen Sog, der unweigerlich in den Film hineinzieht. „Brick“ war das unentdeckte Juwel des letzten Jahres: von Regisseur Rian Johnson und Hauptdarsteller Joseph Gordon-Levitt wird man noch hören, ohne Frage.


3. Syriana (USA, Regie: Stephen Gaghan)


Da Regisseur und Autor Stephen Gaghan auch das Drehbuch zu „Traffic“ geschrieben hatte, konnte man selbstredend einen komplex strukturierten Film erwarten. „Syriana“ übertraf den Drogenkartellthriller Traffic noch einmal bei weitem. Gaghan benutzt zahlreiche parallel verlaufende Handlungsstränge, die allesamt irgendwie miteinander zu tun haben, aber bei weitem nicht so zielgerichtet auf den einen Kulminationspunkt zulaufen wie es beispielsweise bei Inarritu (Babel, Amores Perros) üblich ist und damit nur noch mehr als der Mexikaner Inarritu die Komplexität des alltäglichen Lebens wie der Politik verdeutlichen. Die große Kunst Gaghans ist es, in Syriana mit dem Stilmittel der Verwirrung und des „Nie-alles-Wissens“ den Film nicht zu beschädigen, sondern damit seine Idee, die Unauflösbarkeit mancher politischer Verknotungen oder die Unvereinbarkeiten von Zielen auf den Punkt zu bringen.

4. Little Miss Sunshine (USA, Regie: Jonathan Daton / Valerie Faris)


In der Geschichte von Sundance, dem wichtigsten Independentfestival der Vereinigten Staaten, erzielte kein Film jemals eine so hohe Summe für die Verleihrechten wie Little Miss Sunshine. Dementsprechend groß waren die Erwartungen an die kleine Indiekomödie mit der erstaunlich bekannten Besetzung natürlich, umso schöner dass Little Miss Sunshine sie trotz allem erfüllen konnte. Den Regie-Debütanten Jonathan Daton und Valerie Faris gelang es, das Ensemble als Ganzes auf Höchstleistung zu bringen und dabei eine Geschichte zu erzählen, die im gleichen Moment warmherzig wie unendlich amüsant ist, ohne dabei weder sentimental noch albern zu wirken. Die einzelnen Rollen sind mit so viel Geschick geschrieben und eingesetzt, dass aus Little Miss Sunshine mehrere Filme hätten entstehen können: der chronisch erfolglose Erfolgstrainer Greg Kinnear, der schwule suizidgefährdete Proust-Experte und Schwager Steve Carell, der Nitzsche verehrende Sohn mit Schweigegelübde oder der heroin- und Sexsüchtige Großvater Alan Arkin hätten alle einen eigenen Film verdient, so sehr funktioniert dieser Film als Ganzes.

5. Das Leben der Anderen (D, Regie: Florian Henckel von Donnersmarck)


Der sicherlich nicht von Makeln freie „Das Leben der Anderen“ ist ein fulminantes Regiedebüt für Florian Henckel von Donnersmarck: eine der ersten ernsthaften Aufarbeitungen des DDR-Regimes, die dankenswerterweise auf jeglichen Anflug von DDR-Ostalgie verzichtet und den „Goodbye, Lenin“ Zuckerguss ebenfalls im Schrank stehen lässt.
Eigentlich ist das Drama um Stasibedienstete und regimekritische Künstler viel zu schematisch aufgebaut, als dass es funktionieren dürfte, denn nahezu jede denkbare Position wird stur mit einem Charakter abgebildet. So haben wir auf der Künstlerseite den unangepassten, offenen Regimekritiker, der dafür teuer bezahlen muss (Hans-Uwe Bauer), die Künstlerin, die für ihre Karriere alles, nicht zuletzt sich selbst, ihren Mann und ihren Körper verkauft (Martina Gedeck) und mit Sebastian Koch den sowohl-alsauch-Mann: ein bisschen kritisieren, ein bisschen die Seele verkaufen. Auf der Regime-Seite wiederum gibt es den Parteibonzen, dem es weder um Partei noch Land, sondern nur um sich selbst geht (Thomas Thieme), den mittleren Stasibeamten, der noch nicht an jener Stelle ist, aber alles tun würde, um innerhalb des Systems aufzusteigen (Ulrich Tukur) wie den Abhörspezialisten und Stasi-Mann aus Überzeugung, der alles für das Regime, für sein Land macht (Ulrich Mühe). Dass letzterer auch noch analog die allseits bekannte Rolle des „guten Nazis“ (siehe „Der Pianist“ u.a.) spielt, wirkt auch nicht sonderlich originell und umso mehr ist es von Donnersmarck lobend anzuschreiben, dass Das Leben der Anderen dennoch gelingt und der fraglos beste deutsche Film des Jahres war.

6. Jarhead (USA, Regie: Sam Mendes)


Die große Kunst von Sam Mendes ist es, Ennui zu zeigen ohne zu langweilen. Ein ähnliches Kunststück vollbrachte Sofia Coppola im stark stilisierten aber oft missverstandenen „Marie-Antoinette“. Während Coppola den inneren Krieg in den Palästen zeigt, geht „American Beauty“-Regisseur Mendes richtig in den Schmutz: der erste Golfkrieg ist der Schauplatz und Nichtstun steht auf der Tageskarte der Soldaten. Neben Mendes, der gegen Ende von „Jarhead“ mit den brennenden Ölfelder, der Nacht am Tage, Bilder findet, die an den Wahnsinn Vater Coppolas in „Apocalypse Now“ mahnen, ist es Hauptdarsteller Jake Gyllenhaal, der den Film, in dem eigentlich nichts passiert, trägt. 2006 war eigentlich Gyllenhaals Jahr. Er löste sowohl in „Jarhead“ als auch in „Brokeback Mountain“ all die Versprechen ein, die er vor einigen Jahren in „Donnie Darko“ gab, doch die verdiente Aufmerksamkeit blieb letzten Endes doch aus.



7. Domino (USA, Regie: Tony Scott)


Ja, Domino polarisierte. Für die einen nur glitzernde, schnell geschnittene Oberflächenbetrachtung, für die anderen Pop in Reinkultur. Im Endeffekt hatten beide Lager recht, die Frage war nur, ob man sich diesem chaotischen Wirbelwind hingeben wollte oder nicht. Die unglaubliche, aber wahre Geschichte der Domino Harvey wurde von Tony Scott als Angriff auf alle Sinne umgesetzt.
Plotentwicklung oder Charakterzeichnung durften und konnten nicht erwartet werden, aber die Wucht mit der Domino alle Grenzen missachtete, drückte einen förmlich in den Kinosessel, was gleichermaßen der diesmal inspirierten Regie Scotts wie auch der verrückten Einfälle im Drehbuch von Donnie-Darko-Regisseur Richard Kelly zuzurechnen war. Keira Knightley positionierte sich im Vorübergehen auch noch als sexy Actionheroin und widersprach in diesen zwei Stunden erfolgreich einer Festlegung auf Rüschenschmalz dank „Fluch der Karibik“ und „Sinn & Sinnlichkeit“. Auch Tony Scott macht deutlich dass er nach vielen Jahres des Mittelmaßes und der Auftragsarbeiten wieder Lust am Entwickeln eines eigenen Stils bekommen hat: Geschwindigkeit, Jump-Cuts und die unbedingte Nähe der Kamera treten an die Stelle des von Scott seit einem Jahrzehnt gepflegten gelackten, distanzierten Stils.



8. 13 (Tzameti) (F, Regie: Gela Babluani)


Dieses französiche Kleinod lief bisher nur auf Filmfestivals in Deutschland, aber Hollywood hat sich bereits die Remake-Rechte gesichert. Und was das bedeuten kann, zeigt Scorseses The Departed (Original: Infernal Affairs) derzeit. Das existentialistische französische Thrillerdrama war ein in bestechend schönem Schwarz-Weiß gefilmtes, kleines, dreckiges Miststück von einem zynischen Film. Bitte keinesfalls vorher Trailer oder Inhaltsangaben lesen, sondern blindlings mit Nummer 13 auf die Reise gehen!



9. Good Night, And Good Luck (USA, Regie: George Clooney)


Wer hätte vor 10 Jahren gedacht, dass der Fernseharzt George Clooney einmal der große Lichtblick für Cineasten sowie das personifizierte politische Gewissen Hollywoods sein könnte? Nicht nur, dass er in Stephen Gaghans „Syriana“ eine hervorragende Darstellerriege in einem der besten Filme des Jahres anführt, nein, seine eigene Regiearbeit über die Hexenjagd im Amerika der McCarthy-Ära war elegant, stilsicher und agitatorisch brillant ausgeführt. Clooney überrascht von Jahr zu Jahr mehr und hat sich in der Zwischenzeit zu dem vielleicht besten Schauspieler und Player unter all den gut aussehenden Männern Hollywoods gemausert. Wann dreht Sascha Hehn nun sein lang erwartetes Holocaust-Drama?


10. Thumbsucker (USA, Regie: Mike Mills)


…wieder ist die Adoleszenz Hauptdarsteller und auch hier steht um den unsicheren, daumenlutschenden Lou Taylor Pucci (Preise auf der Berlinale und Sudance für Thumbsucker) ein beeindruckendes allstar-Ensemble auf der Bühne. Vince Vaughn und Keanu Reeves spielen angenehm gegen den Strich, doch Benjamin Bratt und Tilda Swinton stehlen die meisten Szenen. Der Soundtrack von Polyphonic Spree und Eliott Smith tut sein übrigens für das Gelingen des Films.

Christian Ihle

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