Die musikinteressierte Hörerschaft weiß es schon lange: Das konventionelle Radio hat versagt. Halbwegs Interessantes ist im Hörfunk, wenn überhaupt, nur noch zweimal pro Woche zwischen 23 und 2 Uhr morgens zu erwarten. Ein vollkommen unzulänglicher Zeitraum, um all den interessanten Veröffentlichungen des weiten Musikspektrums gerecht zu werden. Alternativen müssen also her, und es gibt sie.
Das System Last.fm
In der vorletzten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erklärte die diesjährige Bachmannpreis Gewinnerin Kathrin Passig das Internetradio Last.fm. Dabei ist es ihr gelungen, die Komplexität der Anwendung soweit runterzubrechen, dass auch die weniger internetaffinen Leser nach der Lektüre des Artikels verstanden haben dürften, was das nun eigentlich genau ist, dieses Last.fm. Für alle, die damit noch nichts anzufangen wissen, sei es hier noch einmal zusammengefasst:
Last.fm ist ein Internetradio. Im Gegensatz zu konventionellen Hörfunkstationen handelt es sich bei Last.fm um „ein selbständig dazulernendes, individuelles Radioprogramm, das den Hörer nicht mit Moderatorengerede belästigt und ohne viel Aufwand den musikalischen Horizont erweitert. Die Nutzer trainieren ihr Radio, indem sie die laufenden Tracks mit „love“ oder „ban“ bewerten, was anfangs noch häufig, später immer seltener nötig ist“. Last.fm fußt weiterhin auf „kollaborativer Filterung“ : „Durch solche Filter aus den Vorlieben und Abneigungen anderer Nutzer automatisch erzeugte individuelle Empfehlungen“ entsteht somit ein Radioprogramm, das dem Hörer geradewegs auf den Leib geschnitten ist. Ein Programm also, das perfekt an die persönlichen Hörgewohnheiten und musikalischen Vorlieben andockt. Wer Human League eingibt, bekommt Soft Cell. Zur Erweiterung des musikalischen Horizonts steht die „Similar-Artists“-Funktion zur Verfügung, mit deren Hilfe man sich in „neue, seltsame Welten vorarbeiten“ kann.
Das System kollaborativer Filterung biete gerade für Menschen über 30 eine geradezu notwendige Orientierungshilfe, denn „die intensive Beschäftigung mit Musik kostet Zeit“, so Passig. Mehr noch, das individuelle Empfehlungssystem sei sogar imstande, den Musikjournalismus ein Stück weit überflüssig zu machen. Zwar sei die althergebrachte Rezension weiterhin nicht unbedeutend, „allgemeingültige Musikempfehlungen“ müssten jedoch nicht zwangsläufig zur persönlichen Präferenzstruktur passen.
So weit so gut so passgenau. Was Kathrin Passig in diesem Artikel geschrieben hat, ist alles richtig und nachvollziehbar. Auch das Popblog weiß schließlich sehr wohl um die Vorzüge des „Personal Radios“.
Mit ein bisschen Anstrengung aber lässt sich das vermeintlich Neue an Last.fm als eine ausgemacht konservative Revolution enttarnen. Die folgenden Bedenken mögen zwar einigermaßen umständlich und auch kulturpessimistisch sein, so vollkommen aus der Luft gegriffen sind sie nicht.
Last.fm und die fatale Banalisierung von Musik
Die Anwendung Last.fm fügt sich perfekt in die jüngeren Entwicklungen der Musikwelt ein. Um diese Behauptung zu begründen, müssen wir etwas ausholen.
Mit EMI und Warner kehren nun gleich zwei der vier großen Musikfirmen der Albumproduktion allmählich den Rücken zu. Denen geht es schlecht, das weiß man ja, und deshalb müssen neue Verkaufsstrategien her. In der Tat ist der Absatz von Alben im ersten Quartal 2007 weiter um 20 % gesunken. Gleichzeitig stieg jedoch die Zahl der Einzel-Downloads, also der einzeln heruntergeladenen Lieder, um über 50 %. Aus rein ökonomischer Sicht ist also die Albumproduktion ein zumeist sinnloses Unterfangen. Als lohnender bieten sich kurzfristige Deals an, die lediglich ein paar Singles, Klingeltöne, Videos und T-Shirts umfassen. Auf deren Umsatz wird entsprechend spekuliert, verlassen kann sich hingegen niemand so recht darauf.
Für die Musikindustrie relativ verlässlich sind hingegen die Charts. Als Instrument zur Auslese publikumswirksamer Veröffentlichungen bieten sie sich geradezu an. Da weiß man, was man hat. Denn Hitparaden – ein Phänomen übrigens, dass sich außerhalb der Kulturwelt vergeblich suchen lässt – eignen sich bestens zur Erkundung der „Güternachfrage“. Sie drücken die Vorlieben der Konsumenten in nichts anderem als harten Zahlen aus. So treffsicher dieses System ist, es bleibt vor allem eines: stock konservativ. Von einigen Ausreißern wie den Prog-Rockern von The Mars Volta einmal abgesehen (das kann sich auch wirklich niemand plausibel erklären), sind jene Neuheiten ökonomisch am zuverlässigsten, die sich innerhalb des musikalischen Chart-Rahmens bewegen. Da oben tut sich ja deshalb so wenig, weil vor allem in den musikalischen Status Quo investiert wird. Eine Vorgehensweise, die mit den abstrakten Idealen eines kulturellen Auftrages erst einmal nur bedingt etwas zu tun hat – sie ist eben nur der sicherste Weg. Hinter all dem mag sich eine Binsenweisheit verstecken, eine wesentliche aber, um sich dem Thema Last.fm zu nähern.
Aber wieso denn eigentlich? Was soll Last.fm denn damit zu tun haben? Um es polemisch auf die Spitze zu treiben, arbeitet auch Last.fm, wie die Musikindustrie insgesamt, an einer fatalen Banalisierung von Musik. Vorausgesetzt Musik wird als Kulturgut betrachtet, das eben mehr ist als die bloße Aneinanderreihung von Tönen.
Dies geschieht in vielerlei Hinsicht.
Last.fm beraubt den Pop seiner Geschichte, seines Kontextes
Zuerst einmal beraubt Last.fm die Musik ihres kulturelles Backgrounds. Außer für coole Nerds, DJs und Ewiggestrige, wurde die Schallplatte Anfang der 80er Jahre von der CD abgelöst. Allerdings spielte auch sie nur eine Zwischenrolle auf dem Umstrukturierungskurs der Geschichte der Speichermedien, wie Paul-Philipp Hanske vor kurzem in der Süddeutschen Zeitung feststellte (11.04.07). Ein Kurs, der „weg vom physisch-analogen hin zum immateriell-digitalen Medium“ führen sollte. Obwohl die CD durch ihre physische Präsenz durchaus vorteilhafte Charakteristika besitzt, sie ist – na ja – haptisch erfahrbar und es liegt ihr ein Booklet zur Durchsicht bei, wirkt sie mittlerweile bald altmodisch. Altmodisch, weil die Entwicklung der Speichermedien vor allem eine hin zur Maximierung der Benutzerfreundlichkeit ist. Nichts ist komfortabler zu handhaben, als eine randvoll mit Musik gefüllte Festplatte. Das wissen inzwischen die meisten.
Die schnelle Verbreitung von Breitbandverbindungen ermöglichte es, sich im Handumdrehen und ohne großen Aufwand ganze Alben aus dem Internet herunterzuladen. Zwar ist die Hemmschwelle, sich ein Album zu beschaffen durch das Angebot der Onlinestores gesunken – ein Album kostet hier schließlich nur einen Bruchteil des handelsüblichen CD Preises – trotzdem basiert die Musikauswahl immer noch auf einer überlegten und damit bewussten (Kauf)Entscheidung. Die Musikpresse hat mich beispielsweise über die kulturelle Signifikanz eines Albums informiert, weshalb ich es mir kaufe, und mich im Anschluss in irgendeiner Form, wie auch immer, damit auseinandersetze. An genau dieser Stelle wird der Unterschied zu Last.fm offensichtlich.
Es ist nämlich überhaupt nicht bedenklich, dass Musik nicht physisch präsent ist, schlimmer ist es, wenn sie nicht inhaltlich präsent ist. Wird mir die Entscheidung über meine Musikauswahl durch ein intelligentes Radio geradezu abgenommen, wird auch keine Auseinandersetzung mehr angeregt. Schnell rauschen die einzelnen Songs an mir vorbei, manche gefallen mir, andere stören mich, ich überspringe sie einfach. So funktional dieses Radio als Richtungsanzeiger oder Orientierungshilfe für über 30jährige also auch sein mag, trainiert es den Hörer darauf, Songs lediglich im Vorbeigehen mitzunehmen. Das Signal ist eindeutig: Musik ist zum bequemen Genießen da!
Pop: gerade eben mehr als eine Aneinanderreihung von Tönen
Aber was sind einzelne Songs schon ohne ihren Hintergrund wert? Was ist ein Album wert, dass nur in Snippets vorliegt? Ohne jede kulturelle Einordnung, ohne das Wissen um einen musikhistorischen Hintergrund und all die Posen, die für Pop Musik immer so wichtig waren, verkommt ein Song zu einer irrelevanten Aneinanderreihung von Tönen. C-moll reimt sich auf D-moll seit vielen Jahren genauso gut, wie Liebe auf Herz. Fragen um die Absichten einer Band, relevante Fragen um ihren Gestus, Impetus, ihre politische Orientierung etc. werden durch einen Song nicht beantwortet. Und auch nicht durch die „Artist Description“ von Last.fm.
Auf tiefgründige Weise haben sich seit jeher vor allem Moderatoren und Musikjournalisten mit den Inhalten von Musik auseinandergesetzt. Um zu sortieren, kulturell zu bewerten, auf relevante Phänomene aufmerksam zu machen und zu erklären, was sich da eigentlich gerade revolutionäres tut, in der Popwelt. Und wohin das alles noch führen soll. Ohne das Angebot eines durch Musikpresse und Medien dargestellten kulturellen Mehrwerts von Musik – wie die so drauf sind, die verrückten Künstler und welche Positionen sie vertreten – wäre die Musikgeschichte sicherlich andere Wege gegangen. Oder drastischer ausgedrückt: Punk hätte es sehr wahrscheinlich nie gegeben, wenn die Sex Pistols lediglich in Last.fm eingespeist worden wären. Als bloße Aneinanderreihung von Singles, ohne jegliche Hintergrundinformation. Als ein paar Lieder, die vor sich hinschrammeln oder BAN! eben auch nicht. Da wäre man ganz einfach dran vorbei gekommen. Oder vielleicht hätten Fans der Gröltruppe Toten Hosen ganz nebenbei die Onkelz gehört, weil deren Sound ja dem der Hosen gar nicht so unähnlich ist. Das wusste Vatti ja auch schon ganz genau, der Ton macht eben die Musik.
Last.fm als Ersatzcharts und damit Steuerungselement des Musikgeschäfts
Aber zurück zur Musikindustrie. Die kommt nämlich so ganz ohne Innovationen auch nicht aus. Um zu prüfen, ob sich Investitionen in neue Innovationen als rentabel erweisen, müssen die „Produkte“ Tests unterzogen werden. Zwar tauchen auch trendweisende Musikkulturblogs (hier ein Hinweis in eigener Sache) nicht unter dem Radar der Wirtschaft durch, Last.fm dient dem Zweck der Marktsondierung aber in besonderer Weise. Wie Passigs Artikel zu entnehmen war, wertet Last.fm das Verhalten seiner Nutzer aus und verkauft die gesammelten Daten an die Musikindustrie. Das Personal Radio wird somit zu einer Verlängerung der Charts, zu einem virtueller Absatzmarkt, auf dem der Hörer über die Auslese verkaufsträchtiger Talente entscheidet. Und das tut er noch nicht einmal durch seine womöglich gut überlegte Kaufentscheidung, sondern wesentlich unmittelbarer, schneller und unüberlegter: via Mausklick. Ein Mausklick für ein Talent. Ein Talent wohlgemerkt, das sich in die zeitgeistigen Hörgewohnheiten perfekt einfügen muss. Ansonsten: BAN!
Last.fm wirkt auf diese Weise an Standardisierung, an der planvollen Herstellung von Kulturprodukten mit. Schlimm genug schon, dass ein Großteil aktueller Musik nach dem Grundsatz der Verwertbarkeit komponiert wird, Last.fm könnte diesen Trend sogar noch verstärken. Indem es über die ausspionierten „privaten“ Hörgewohnheiten eine noch genauere Zielorientierung an die Industrie weitergeben kann, wirkt es an der Chancenverteilung mit. Einen Plattenvertrag bekommt eben nur der Künstler, der auch bei Last.fm gut abgeschnitten hat. Diesem Medium, das inhaltlichen Tiefgang systematisch ausschließt. Damit hat Konformismus noch echten Marktwert.
Der Bedeutungsschwund von Popmusik
Dem Bedeutungsschwund von Popmusik, wie er sich in den Verkaufsstrategien der Major Labels ausdrückt, ist das Berieselungsradio Last.fm also ein Erfüllungsgehilfe.
Man könnte noch einen Schritt weiter gehen: Die Anwendung Last.fm konditioniert ein Musikverständnis, das auf reine Unterhaltung und Genuss abzielt – als Gebrauchskunst soll die Musik funktionieren. Als reine Oberfläche. Gerade so, als wäre Musikgeschichte nichts weiter als eine Geschichte von Hörgewohnheiten.
Auch wenn der Mozart-Effekt indessen als gänzlich widerlegt angesehen werden kann, niemand also schlauer wird, indem er anspruchsvolle und klassische Musik hört, sind Gedanken über die eigenen Hörgewohnheiten angebracht. Last.fm stiftet nicht zwangsläufig stimulierende Vielfalt, im schlimmsten Falle strukturiert sich das Programm innerhalb eines derart engen Rahmens, dass nichts anderes erwartet werden kann, als das immer Gleiche. Wachstum ist nur an den Grenzen möglich, nicht aus der gleichgültigen Mitte eines bedingungslosen Einverständnisses mit dem oberflächlich wahrgenommenen Musikprogramm. Last.fm macht Musik zu einem reinen Berieselungstheater, das kulturelle Abwertung produziert und sich diese gleichsam zunutzen macht.
Welche Inhalte soll die nächste Jugendbewegung haben? „Bewegungslos und ohne reden können wir um Verbindung bitten, weil wir einverstanden sind“, sogar mit dem, was da auf uns niederdudelt? So ein Quatsch, natürlich nicht. Ganz so einfach ist die ganze Sache dann nämlich doch nicht. Zum Glück steht Last.fm nicht allein im luftleeren Raum – wir benutzen es gern weiter. Weil wir nämlich eines schon lange wissen: Alles ist besser, als das konventionelle Radioprogramm.
Louis Parker
Ich würde last.fm keinesfalls als den Untergang jeglichen Kulturguts ansehen. Wenn ich einen Künstler entdecke, kaufe ich danach auch seine CDs.