vonChristian Ihle 05.04.2008

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Gypsy-Punk nennt die multinationale Band aus New York ihren eigenen Sound, was durchaus eine Definitionsmöglichkeit ist: osteuropäische Folklore, der Balkan, das Schifferklavier, die Geige und dazu eben immer wieder die Gitarren des Punk.
Hippie-Punk wäre aber ebenso treffend. Die zur Revolutionsgeste gestreckte Faust wird bei Gogol Bordello jeden Moment zu einer Umarmung, einer Affirmation der „unity“. Lässt man das Auge über das Publikum des gestrigen Konzerts im Berliner Postbahnhof gleiten, dann scheint ihnen tatsächlich eine Vereinigung der verschiedensten Szenen zu gelingen. Am Bierstand sehen wir ein Mädchen im Sonic-Youth-Shirt, ein für Rockkonzerte ungewöhnlich großer Anteil von Besuchern mit „Migrationshintergrund“ steht neben sich ihrer Oberteile entledigender Dreadlockgirls und die Hippiejungs tanzen ihre seltsamen Ritualbewegungen neben Punks und überraschend vielen ältere Zuhörern um die 50. Was allerdings letzten Endes auch mit der Band korrespondiert: Sänger, Tausendsassa, Clown und Symbolfigur Eugene Hütz ist mit seinen 36 Jahren schon am Rande der Pop-Altersgrenze, doch die mit Akkordeon und Geige bewaffneten Bandkollegen sind gar jenseits der 50+ Grenze anzusiedeln.

Die aktivste Zuschauergruppe des Konzerts ist zweifellos die Hippie-Brigade. Man kann sich regelrecht vorstellen wie Gogol Bordello in Heiligendamm den Zaun wegrocken würden, wie all die Idealisten zu Kämpfern für eine gute Sache werden, wenn sie von gogolbordellschen Rhythmen aufgeladen durch die Gegend springen. Hütz gibt den Einpeitscher, den Kämpfer, den Einweiser auf den rechten Weg. Er gibt den Wahnsinnigen und Weltverbesserer, Migranten und Misfit, den Bohème und Betrunkenen. Auch die Songs selbst bewegen sich immer in einem Spannnungsfeld: während Geige und Akkordeon die für osteuropäische Folklore übliche Weltenschwermut und Melancholie transportieren, sind Bass und Gitarre ganz im hier und jetzt und überlagern immer wieder die Melancholie mit Aggressivität. Hütz intoniert über diese im Grunde immer gleiche Struktur seine Texte, die vom Blatt gelesen häufig nach spätpubertärer Kampfeslust klingen. „Think globally, fuck locally“ ist nur das deutlichste Beispiel.
Im Zusammenspiel mit der Musik gelingt es Hütz allerdings tatsächlich selbst solche Plattitüden zu einer Message an die Masse werden zu lassen. Sein Publikum folgt ihm in die an diesem Abend viel beschworene „unity“, keine Frage. Bei zwei Stunden Spielzeit mag diese immer aus den Gegensätzen „Weltenschwermut des Osten“ versus „Aggressivität des Westens“, „Melancholie des Gestern“ gegen „Lebensbejahung des Jetzt“ konstruierte Musik einfach zuviel sein, doch schaffen es Gogol Bordello immer wieder auch den unbeteiligten Zuschauer mitzureißen. Am eindrucksvollsten gelingt ihnen das sicherlich im letzten Stück des Abends „Undestructable“, das über mehr als sieben Minuten ausgedehnt wird und trotzdem, ja, unzerstört bleibt.
Die Band verneigt sich artig und das sich in großen Teilen offensichtlich eher selten waschende Publikum schwitzt mit einer Wonne, dass man sich selbst als asketischer Nichtraucher sämtliche Rauchverbote auf diesem Planeten zum Teufel wünscht, und geht geradezu ekstatisch verzückt nach Hause. Auftrag erfüllt. Nächstes mal bei G8, da zeigen wir es denen dann.

Christian Ihle

Bei dieser Gelegenheit:

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