vonChristian Ihle 30.05.2008

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Alt und Jung, Rock und Folk

Kettcar – Sylt

Irgendwie hat man sich schon gefragt, ob das eigentlich noch sein muss, ob man sich eine Band antun muss, deren Gestus, aber auch deren Zielgruppe, inzwischen so schwammig-bieder geworden war, dass man die Konzerte unter allen Umständen meiden musste. Kettcar wurden in der öffentlichen Rezeption zu einem Popkulturgut, das man wie einen Einrichtungsgegenstand in sein Leben integriert. Biederer Deutschrock, und das mit nur einem einzigen Nachfolger-Album.

Trotzdem sind sie geblieben. Jetzt ist „Sylt“ erschienen, das Drittwerk. Und es versucht einen Spagat, auf seine ganz eigene radikale Art und Weise. Und weil dieser Spagat so mutig ist, verdient auch die Band eine Chance. Und siehe da: „Sylt“ reißt mit und schafft es, musikalisch und textlich neue Türen zu öffnen. Mit einer Brachialität und Raffinesse schimpft Markus Wiebusch da ins Mikro, dass man sich unwillkürlich (und auch etwas unfair) an „…But Alive!“-Zeiten erinnert fühlt. „Graceland“, die erste Single, schafft das noch nicht und bleibt einer dieser unwichtigeren Kettcar-Songs. Aber schon „Nullsummenspiel“ ist so gewaltig und aufrüttelnd, dass man sie wieder alle in die Arme schließen möchte. Erik Langer darf an der Gitarre sogar in alten Sometree-Gefilden stöbern und den Postrock antäuschen. Und vom schnöseligen Keyboard-Sound des Vorgänger-Albums hat man sich gottseidank auch recht schnell gelöst.

Kernstück ist der Song „Fake For Real“, der nicht nur beklemmend und unheimlich daherkommt, sondern in den wenigen Zeilen perfekt die düstere Post-9/11-Atmosphere einfängt – mit all der alltäglichen Verlogenheit, die wir uns leisten, um weiterhin sicher leben zu können. In die „Kirche der Angst“ gehen wir am Ende aber eh alle – und „Staub, Staub werden wir alle“! Besser, ungelogen!, hat Wiebusch noch nie getextet. Am Ende bleibt unterm Strich also ein erstaunliches Drittwerk Kettcars, das wieder etwas wagt, sich aus dem Fenster lehnt – und dabei vielleicht einige Fans verschrecken wird, die schon dachten, Kettcar blieben ewig die Gleichen – ein netter Einrichtungsgegenstand, ein After-Work-Mitbringsel, eine Befindlichkeits-Kuscheldecke. Pustekuchen! „Sylt“ ist ein Statement. Musikalisch und textlich. Und eine Notwendigkeit, ohne die Kettcar in der Bedeutungslosigkeit versunken wären. (Robert Heldner)

Im Netz:
* Homepage
* MySpace
* Indiepedia

Anhören!
* Fake for real
* Nullsummenspiel (hier)
* Am Tisch

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Tristan Brusch – My Ivory Mind

Nach Get Well Soon nun der nächste Überflieger aus europäischen Gefilden? Skepsis ist bei grenzenloser Bewunderung ja immer angebracht. Und es kann Tristan Brusch eigentlich nur helfen, wenn man erstmal nicht allzuviel erwartet.
Noch keine 20 Jahre alt, der Kerl, und schon drei Alben auf dem Buckel. Irgendwo zwischen Virginia und Belfast aufgewachsen, steckt gerade mitten im Abitur. Seit dem dritten Geburtstag Geigenunterricht vom Vater. Dazu Klavier und Gitarre. Aufgenommen in einem einsamen Holzhaus auf irgendeiner dänischen Insel. Dazu schmerzhafter Lo-Fi, quakige Stimme. Das klingt alles nach Zutaten für eine Indie-Folk Casting-Show. Aber es ist nunmal so: der Junge hat eine Menge gemacht in seinem Leben, und das erste richtig vertriebene Album ist auch noch tatsächlich ziemlich gut geworden. Man muss an Coco Rosie denken, wenn der Opener „Trist Enough“ erklingt. Ein fein gezupftes Banjo, eine mehr als sonderbare Stimme aus den Zwischenwelten, unwirklich, unweltlich – man erwartet soetwas eben nicht aus Dänemark. Vielleicht noch Schweden. Aber eben nicht Dänemark. Schön, dass es trotzdem stattfindet. Die entspannte Produktion, der klare Sound, all das stellt sich in den Dienst Tristan Bruschs und man hat zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, hier sei etwas unnatürliches entstanden – so ungewöhnlich der Folk-Entwurf Burschs auch ist. Die wirklich bewegenden Highlights fehlen zwar – wenn man schon Devendra Banhart ins Feld wirft, könnte man auf einen Hit wie „Little Yellow Spider“ verweisen. Den aber hat Tristan Brusch nicht vorzuweisen, und es ist nur schwer vorstellbar, dass er überhaupt Wert darauf legt. Dafür ist „My Ivory Mind“ einfach viel zu seltsam-schön. Songs wie das grazil-beschwipste „Gavotte in A“ und das beatleske Kleinod „Lullaby“ sind großartige Verheißungen. Wenn Brusch jetzt, zum Abi, schon so gut ist, was erwartet uns dann bitteschön zum Abschluss der Kunsthochschule? (Robert Heldner)

Anhören!
* Gavotte In A
* The Queen
* Lullaby (hier)

Im Netz:
* MySpace

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