vonChristian Ihle 25.10.2011

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Der zweite Teil unseres Interviews mit Andreas Spechtl, dem Sänger und Songwriter von Ja, Panik. Haben wir in Teil 1 vor allem darüber gesprochen, wie eine Band sich im Musikbusiness bewegen kann, ohne ihren eigenen Idealen untreu zu werden, sprechen wir nun mit Spechtl über die Art, wie er Texte schreibt, welche Referenzen er in seinen Lyrics zieht und welchen politischen Standpunkt er einnimmt:


[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=4o8fXW2vhGY[/youtube]

Der größte Unterschied zwischen den Aufnahmen eurer neuen Platte und ihrer Livepräsentation ist, dass bei „Nevermind“ von jedem Bandmitglied „seine Strophe“ gesungen wird. Woher kam diese Idee? Und warum hast auf Platte doch du alle Strophen übernommen?


Andreas Spechtl (Sänger und Songwriter von Ja, Panik): Die Idee war von Hans Unstern, der bei unseren Konzerten das Licht macht. Am Anfang waren wir skeptisch, weil es ja eigentlich auch keinen Sinn ergibt, denn jedes Bandmitglied singt ja über sich – also in der dritten Person…


…sozusagen Lothar Matthäus Style!


Spechtl: …aber wir haben festgestellt, dass es live toll funktioniert. Es ist beinahe wie bei einem Jazz-Konzert, bei dem jeder nach seinem Solo Szenenapplaus bekommt.


Denkst Du dann im Rückblick, dass ihr das auch auf Platte das schon so hättet aufnehmen sollen?


Spechtl: Das ist schon ein arges Liveding, weil man das Gesicht zur Stimme vor sich hat – da ist es dann auch weniger wichtig als auf Platte, wenn die anderen Bandmitglieder nicht alle wie ein Lercherl singen können.


[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=DWowel15heE[/youtube]

Die Großstadt und die Vereinzelung ist ein beherrschendes Thema auf der Platte – ist das für euch in Berlin spürbarer, erfahrbarer geworden als eurer vorherigen Heimatstadt Wien?


Spechtl: Das Interessante an der Vereinzelung durch die Großstadt ist ja die Gleichzeitigkeit des Versprechens von Nähe, dieses Riesenhaufens von Menschen, die sich aber immer fremder werden und dass die moderne Gesellschaft immer mehr Möglichkeiten zum Rückzug bietet. Es ist eine Dialektik der Kommunikation: einerseits kannst du immer alle erreichen, mit jedem immer reden, aber du musst dafür niemanden mehr treffen. Du sitzt zuhause und hast mehr Kontakt mit Menschen, hast aber im selben Moment weniger physischen Kontakt. Es kommt zusammen und zerfällt gleichzeitig.
Man darf aber auch nicht romantisch aufs Dorf schauen. Wenn ich heim ins Burgenland fahre, nach Deutschjahrndorf, und die alten Frauen hinter den Vorhängen durchschauen und sofort wieder zumachen, wenn sie mich sehen, dann ist das auch keine schönere Welt.


Entwickelt sich da bei Dir ein Kulturpessimismus hinsichtlich des Internets, Facebooks?


Ich bin sicher kein Kulturpessimist. Es geht darum, wie der Fortschritt begriffen wird, wie er verwendet wird. Der Fortschritt hat eine sehr emanzipatorische Seite, kann aber ins Gegenteil verkehrt werden. Das ist wie der Adorno-Klassiker mit der Aufklärung, dass die Aufklärung in einseitiger Handhabung auch in die Barbarei zurückfallen kann.
Man muss in jedem Moment fragen: Wem nützt es? Warum passiert es? Wie wird es angewendet? Sich diese Fragen zu stellen, schützt einen davor zu einem bornierten Kulturpessimisten zu werden.
Die Befreiungs- und Unterdrückungsmethoden sind sich wahnsinnig ähnlich. Mir geht’s um die Verwendung von Dingen, also ums wie.


Generell arbeiten Deine Texte oft mit Zitaten und Referenzen. Läuft das auf einer bewussten Ebene, dass du Lieder hörst, Bücher liest und Dir denkst, genau die Stelle will ich in einen meiner Songs einbauen? Oder verarbeitest du in Deinen Texten einfach unterbewusst, was Du vorher aufgenommen hast?


Spechtl: Früher habe ich mir arg alles aufgeschrieben, war sehr akribisch. Bei dieser Platte wollte ich das gerade ändern, ich wollte sehen, was eigentlich bleibt, wenn ich mir nichts aufschreibe. Wollte sehen, was mich prägt, beeinflusst, was ich gefiltert wieder ausstoße ohne mir wie früher pedantisch eine Notiz mit einem „Einbauziel“ zu machen.
Bei den alten Platten hatte ich mir vorher in einem Hefterl alles aufgeschrieben, was mir gefallen hat und habe beim Texteschreiben dann nachgesehen, was zu dem jeweiligen Song passen würde. Wobei es sehr wenige 1:1 – Zitate bei Ja Panik gibt, ich erlaube mir fast immer eine Änderung, oft sogar eine Umkehrung des Inhalts, wo nur noch Satz und Wörter als Assoziation bleiben.


Baust Du die Referenzen dann bewusst ein, dass der Hörer sie wahrnehmen kann, damit sie Assoziationen bei ihm auslösen?


Spechtl: Einerseits macht es natürlich Spaß, Referenzen durch den Kontext ins Gegenteil zu verkehren, das hat eine humoristische Seite. Manchmal ist es auch ein Fährtenlegen: wenn Du – gerade bei alten Ja Panik – Songs, die inhaltlich etwas vage waren – eine Referenz als Hörer erkannt hast und weißt, wo es hergekommen ist, war darin der Schlüssel, zu erkennen, wie das Lied eigentlich gemeint war. Der Inhalt des Liedes wurde also durch den Kontext der Referenz erst verständlich. Wie eine Überschrift für einen Song.
Meine Arbeitsweise war früher, dass ich den halben Tag gelesen, dann einen Joint geraucht und mich dann ans Texten gemacht habe – so dass in den Lyrics das vorher gelesene wieder auftaucht. Bei der neuen Platte habe ich versucht so zu tun als wäre alles von mir – was natürlich eh eine Lüge ist – um danach selbst zu schauen, was sich eigentlich in einem festsetzt, im Gegensatz dazu dass ich mich vorher gezielt damit gefüttert habe, um einen Kommentar in Liedform dazu abzugeben.


Da ich gerade Der Kommende Aufstand lese, stolpere ich immer wieder über Stellen, die mich an Deine Texte erinnern. Zum Beispiel „So ruft man einerseits die Gespenster ins Leben, und lässt andererseits die Lebendigen sterben“ in Der Kommende Aufstand bzw. „Man ruft Geister hier ins Leben, die Lebendigen, die gräbt man ein und schimpft sie Terroristen, Deserteure, nichtsnutzige Tagediebe“ in DMD KIU LIDT. Ich nehme an, du hast das Buch auch gelesen?


Spechtl: Ja, stimmt, das habe ich gelesen. Und der Text von DMD KIU LIDT beruht auf einer ähnlichen Idee wie das Buch. Ich fand es aber auch lustig, weil ich schon in „Die Luft ist dünn“ (vom The Angst & The Money – Album, Anm.) Bezug nehme auf eine Stelle aus dem Sophokles-Drama Antigone, in dem der Bruder unbeerdigt im Freien liegt und Antigone bittet, die Toten einzugraben, aber letztenendes sie ins Kellerverlies geschlossen wird. Bei Sophokles gibt es also auch eine Stelle, in der es darum geht, dass man die Toten ein- und die Lebendigen ausgraben soll – das ist eine sehr ähnliche Idee und ein schöner Gedanke, der sich auch gesellschaftlich anwenden lässt.





Wie ist deine Meinung denn zu Der Kommende Aufstand?


Spechtl: Ich stehe jetzt nicht inhaltlich völlig hinter dem Buch, aber es hat mich eine ganze Zeit lang beschäftigt. Es ist interessant, aber ich war auch belustigt wie viel Aufmerksamkeit es jüngst bekommen hat, weil es ja eigentlich schon so wahnsinnig alt ist…


… eigentlich wurde es 2006/2007 geschrieben…


Spechtl: …und ist 2007 in Frankreich herausgekommen, dann in England erschienen. Es gab ja auch schon ein Jahr vor der hiesigen Veröffentlichung eine deutsche Übersetzung, die ich damals schon aus dem Internet hatte.
Ich war überrascht, wie ernst das Buch genommen wurde. Ich kann da viel Humor aber auch viel falsche Romantik, viel Situationismus, aber auch wahnsinnig viel „ich weiß es besser“ – Bürgerlichkeit herauslesen. Auch viel Optimismus, an den ich leider nicht glaube. Einerseits rufen sie ja zum kommenden Aufstand auf, andererseits sagen sie aber auch, wir müssen ja gar nichts tun, es wird alles von selbst passieren. Das Buch sagt ja, dass alles den Bach hinuntergeht und wir deshalb sowieso vor einer neuen Weltordnung stehen. Der Kommende Aufstand hat viel von Foucault und sie haben natürlich ihren Marx gelesen.
Prinzipiell ist das schon eine mir nahe Denkform, denn als die Waffe der Kritik funktionieren ja noch immer Marx und die Poststrukturalisten. Was angestrebt wird, erliegt dagegen schon einer romantischen Verklärung. Einer ihrer selbst praktizierten Lösungen, der Rückzug aufs Land, ist einfach kein Ausweg und das kann man dem Kommenden Aufstand auch ankreiden. Seine Autoren, Das unsichtbare Komitee, hatten eine Landkommune, einen Biobauerhof – das ist natürlich auch wahnsinnig bürgerlich, das musst du dir erst einmal leisten können. Das ist nicht anders als wenn die Frau vom österreichischen Finanzminister sagt: „In der Wirtschaftskrise sollen die Bürger doch auf ihrer Dachterasse Gemüse anbauen“…


…was ja fast schon was von Marie-Antoinette hat…


Spechtl: …sie meint das auch wirklich ernst. Sie, im ersten Bezirk in Wien, auf ihrer 120 Quadratmeter Dachterasse kann sich natürlich schön ein paar Radieschen und Erdäpfel anbauen und dann bequem die anderen dazu aufrufen, auch ihre „Dachterrassen“ für die Selbstversorgung zu nutzen…
Am Kommenden Aufstand merkt man, dass es ein Buch eines rich kids ist. Er hatte Zeit sich zu bilden, sich zurückzuziehen. Die Antihaltung des Buches, das Fuck Me, das Sich-Neben-Die-Ordnung-Stellen weckt immer Skepsis in mir. Ich frage mich immer, warum kann der- oder diejenige das so hart behaupten? Warum ist er oder sie nicht in diesem wahnsinnigen Verwertungskreislauf gefangen? Und leider Gottes ist es wahnsinnig oft so, dass das eben die gutsituierten Kindern sind. Marx hatte seinen Engels, der ihm die Scheinchen zugesteckt hat, Walter Benjamin stammt aus einer „guten Familie“, die ganze Frankfurter Schule waren alles „bessere Kinder“. Im Musikerumfeld ist es nicht anders, die ganzen Bohèmen genauso: du brauchst die finanziellen Mittel, um überhaupt auf die utopischen Auswege zu kommen. Ich habe grundsätzlich Sympathie dafür, aber vor dieser Frage gehen alle in die Knie.


Aus welchem familiären Background kommst Du eigentlich?


Spechtl: Ich bin zwar kein „Arbeiterkind“, aber mein Vater ist semi-erfolgreicher Künstler, meine Mutter Lebenskünstlerin – finanziell ging sich da also nie viel aus…


Aber Du kommst vom Land?


Spechtl: Meine Eltern sind zwar beides Wiener, sind aber ins Burgenland gezogen als sie Kinder bekommen haben, nur um sich dann gleich scheiden zu lassen. Ich hatte eher diffuse Familienverhältnisse, wurde von meiner alleinerziehenden Mutter oder eben den Großeltern aufgezogen.


Seit unserem letzten Interview zu Beginn des Jahres hat sich politisch einiges verändert, zugespitzt. Die Krise des Kapitalismus verschärft sich, in Spanien und Griechenland geht die Jugend auf die Straße, um zu demonstrieren. Kommt das herrschende System zu einem Ende oder bleibt es doch nur wie ‘68 bei einem kurzen Aufschrei der Jugend?


Spechtl: Ich stelle mir 68 wilder und kompromissloser vor – wobei ich das sicherlich auch verkläre. Schau nach Spanien, worum es der „Bewegung der Empörten“ eigentlich geht: sie wollen einen Teil vom Kuchen, ohne dass sie das System derart in Frage stellen wie es noch die 68er getan haben. Spanien ist doch ein Schrei nach einer menschlicheren Ausbeutung!


Du meinst, als ob sie sagen würden: „Wir haben alles getan, um fürs System nutzbar zu sein – und jetzt wollt ihr uns nicht nutzen?!“


Spechtl: Genau: „Jetzt habt’s ihr mich zugerichtet! Ich bin das Werkzeug, als das ihr mich haben wollt und jetzt gibt es keine Schraube mehr für mich, die ich drehen darf, um entlohnt zu werden“. In Griechenland war es dagegen gleich von Anfang an – egal wie man dazu jetzt steht – gewalttätiger, oppositioneller. Ich hatte dort mehr das Gefühl, dass es zwei Fronten gab.
In letzter Zeit habe ich mir auch einige Polit-Talkshows angesehen, woran man wirklich verzweifeln kann. Alles ist so sinnlos, alles dreht sich im Kreis. Es wird eine Strategie gesucht, wie „gerettet“ werden kann. Aber ich will ja gar nicht, dass gerettet wird, ich will ja, dass es untergeht! So eine Meinung kommt natürlich gar nicht vor.
Meine Furcht ist, dass die Krise unserer Zeit, die materielle und finanzielle Sorge, in eine andere Richtung losgeht, in den Totalitarismus, faschistische Tendenzen, eine Aufgabe der Toleranz.
Wenn Du Dir die 30er Jahre anschaust, so etwas siehst Du jetzt auch wieder in Europa. Zwar ist es nun wieder mögliche, auch genuin linke Positionen im Medienmainstream zu vertreten und zu hören, aber andererseits schaut man Europa dabei zu, wie es immer rechter wird.
Ich weiß nicht, wie dieses System zu Ende gehen wird, aber ich bin so großer Pessimist, dass es auch „falsch“ zu Ende gehen kann – wenn ein Stein ins Rollen kommt, kann das auch schnell gehen. Ich habe das Gefühl, man sucht schon wieder nach einem „starken Mann“, weil sich niemand an ein Ende denken traut, weil niemand so weit gehen will, dass er sagt „unsere Weltordnung ist gescheitert“ – solange man noch „retten“ will, wird immer der Schrei nach eben einem Retter, einem Führer aufkommen.


Selbst bei Angela Merkel geht ja auch die vorgebliche „Alternativlosigkeit“ in diese Richtung, weil das eigentlich urdemokratische Prinzip der Diskussion und des Ideenwettstreits damit ausgehebelt wird.


Spechtl: Das ist die schrecklichste Form eines Positivismus. Diese Alternativlosigkeit ist sowas Dummes! Da werde ich zu einem Pessimisten, zu einem Schwarzmaler, weil es zeigt, dass die Herren – in diesem Fall auch Damen – der Welt ihre Vorteile nicht kampflos hergeben werden, das war in der Geschichte selten so. Die dicken, alten, fetten Herrn haben noch nie gesagt „Ich räume meinen Platz“.
Und hier muss man dann auch den Pazifismus als Ruhigstellung verteufeln, weil er als Ideologie gewisse Leute beschützt. Ich bin kein Kriegstreiber, aber die Gesellschaft übt eine einseitige Gewalt aus.


Das dockt dann ja auch wieder an die Stelle in DMD KIU LIDT über Merkel und Sarkozy an… „Du stammelst was von Pazifismus und lässt dich ficken für ein Handgeld und du hast nicht einmal geschrien. Von mir aus sollen sie Bomben hintragen zu der grauslichen Bagage, ich werd’ nicht daran denken, eine Träne zu zerdrücken, nicht für Angela und ganz sicher nicht für Nicolas“


Spechtl: Ja, das meine ich auch so. Ich finde es traurig, dass ich so etwas denken muss.


Wie stehst Du dann zu den britischen Riots, die ja die gewalttätigsten Aufstände waren? Sind die für dich politisch?


Spechtl: Die Mainstreammedien wollten die Riots komplett entpolitisieren, weil es keinen „Schrieb“, keine Forderungen gab, keine Ideologie, keine Gallionsfigur.


Ich fand es dagegen aber wahnsinnig politisch, weil das Leben an sich in den Londoner Vorstädten politisch geworden ist. Du kannst natürlich ähnlich wie bei Spanien sagen, dass hier auch nur jemand sein Stück vom Flachbildschirm wollte. Aber dass die Wut, die offensichtlich schon lange gärte, so ausgebrochen ist, das ist natürlich politisch.


Ist dann nicht auch gerade das Plündern von Flachbildschirmen politisch? Weil es sozusagen das tägliche Gebet des Materialismus auf pervertierte Art erfüllt? Dass die Diskrepanz zwischen dem, was Dir eingetrichtert wird, das Du begehren sollst und was Du tatsächlich kaufen kannst, für die Riots sorgte?


Spechtl: Das stimmt absolut, aber sie haben es nicht hinterfragt. Man müsste schon den Warencharakter auch kritisieren, also warum man denn überhaupt ein iPhone haben muss.
Für mich ist aber klar, dass die britischen Riots gezeigt haben, dass in jedem Moment einer Gesellschaft, eines Staates Politik gemacht wird und dass es eben nicht den einen konkreten politischen Anlass braucht, woraufhin eine Reaktion zu erfolgen hat, sondern dass es in einer Gesellschaft gären kann bis es zum Ausbruch kommt. Glückliche, zufriedene Menschen zertrümmern nicht einfach alles. Dort haben die Leute auf der Straße gezeigt, was sie von dem Leben halten, das man ihnen anbietet.


Waren dann die britischen Riots für dich der ehrlichere, weil ziellosere Aufstand?


Spechtl: Ich will hier keine Rangfolge aufstellen. Der britische Riot war sicher der interessantere, weil es keine Ankündigung gab, weil nicht diskutiert wurde.
Ich fand es interessanter, weil es die härtere Absage ans System war.


Ist in Deutschland oder Österreich ein Aufruhr denkbar? Und wenn, eher im spanischen „wir wollen etwas vom Kuchen“ – Sinn oder wie im schwer greifbaren, britischen Riot?


Spechtl: In Österreich passiert sicher gar nichts, denen geht’s viel zu gut. Österreich ist ein reiches Land, die dort diskutierten Probleme gibt es eigentlich gar nicht, in Österreich wird nur lamentiert.


Aber wenn – wie Du vorhin gesagt hast – wirtschaftliche Probleme den Weg in den Extremismus mit sich bringen, dann ist doch frappierend, dass in Österreich stark in der Gesellschaft verwurzelte rechte Tendenzen vorhanden sind? Wenn es die persönliche Verzweiflung, die nach einem starken Mann schreit, gar nicht gibt?


Spechtl: Die rechten Tendenzen sind nicht nur in Österreich salonfähig, sondern auch in anderen Teilen Europas. Es ist ja eher so, dass Deutschland – mit Vorbehalt gesagt – eine Ausnahmeerscheinung darstellt, dass die NPD beispielsweise im Fernsehen hierzulande keine Plattform bekommt. In Österreich würde eine vergleichbare Partei ihre Fressen ins Fernsehen halten dürfen.
Die nicht eingestandene Schuld aus der Hitlerzeit und die fehlende Aufarbeitung sind das Problem. Österreich sieht sich nach wie vor als „das erste Opfer Hitlers“, sie sind ja auch der Meinung, dass sie Hitler nach München hinausgeschmissen hätten.


Also immer noch die gleiche Klage, die Thomas Bernhard in „Heldenplatz“ so eindrucksvoll aufführt.


Spechtl: Nach wie vor. Und das wird sich auch nicht mehr ändern. Die Nazizeit sieht man als geschichtlich einmaliges Ereignis, das nie mehr passieren wird und über das man sich deshalb als junger Mensch auch keine Gedanken mehr machen muss – und es waren die Deutschen.
Wenn ich an meinen Geschichtsunterricht in den 90ern in Österreich zurückdenke, dann machst Du Deinen Abschluss, wenn Du in Geschichte gerade mal bis zum ersten Weltkrieg gekommen bist…
Du kannst in Österreich immer noch Unmut auf Dich ziehen und schockieren, wenn Du sagst: die Österreicher waren genauso große Faschisten wie die Deutschen!


Wirst Du Deine systemablehnende Haltung beibehaltung? Hast Du eine Alternative? Oder denkst Du, dass Du dich arrangieren wirst?


Spechtl: Ich habe wahnsinnige Angst davor, im Alter ruhig zu werden. Man will ja auch zufrieden sein, es schön haben, irgendwann in seinem Leben. Und da wird es schwierig, weil das Sicherheitsdenken anfängt und man beginnt, sich in der unlebbaren Welt einzurichten. Ich sehe das auch schon bei Gleichaltrigen, die mir ideell sehr verbunden waren, aber jetzt an einem Punkt sind, dass auch sie ihr Kuchenstück wollen, weil sie „die Welt doch nicht ändern können“.
Man muss wahrscheinlich zweigleisig fahren: das eine ist meine Idee, wie eine neue Ordnung aussehen soll, aber ich brauche auch eine Idee, wie ich innerhalb der bestehenden Ordnung ein menschenwürdiges Leben leben kann. Das sind die zwei Pole, an denen man sich aufreibt. Man will ja weder vom System eingefangen noch zu einem skurrilen Eigenbrötler werden. Ich bin schon schwer dafür, dass man es sich auch im Hier und Jetzt schön macht.


Ich glaube nicht daran, dass eine Idee für alle funktionieren kann und schon gar nicht dass sie es muss. Ich glaube ganz grundsätzlich an ein Nebeneinander von vielen Entwürfen. Deshalb bin ich auch vehement gegen Staaten, Nationen, Grenzen. Ich weiß aber natürlich auch, dass unser Wohlstands-Level ohne Ausbeutung und Unterdrückung nicht möglich ist. Zumindest für den Übergang müssen wir hier im Westen zurückstecken, damit wahnsinnig viele etwas aufstocken können.
Aber wenn Du nach einer konkreten Idee fragst, wie die Welt besser wird: mit Enteignung könnten wir mal anfangen. Ein paar fette Säue aus den Penthäusern dreschen, nackt, und mit der Peitsche durch die Straßen treiben. *lacht*


(Interview: Christian Ihle)

Ja, Panik auf Tour:
04.11. Berlin
18.11. Frankfurt
19.11. Schorndorf
20.11. Bern
21.11. Heidelberg
22.11. Düsseldorf

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