vonChristian Ihle 16.09.2012

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Ein wenig amüsant ist es ja schon, ausgerechnet Ulf Poschardt das Spießertum beklagen zu hören, aber sein Text zu Bettina Wulff und das Wulffsche Tattoo ist tatsächlich lesenswert:


„Bettina Wulff, die Ehefrau des ehemaligen Bundespräsidenten, hat ein Buch geschrieben, das selbst diejenigen verblüfft, die in ihr eine Art unheimliche Supernova sozialer Mobilität vermutet haben. Das Memoirenfragment extrapoliert ihre 15 Minuten des Ruhms zu einem Porträt des Spießers als junge Frau.
(…)
Wenn man einer guten Tradition dieses Feuilleton folgen würde, könnte man vermuten, dass Bettina Wulff lediglich ein Pseudonym eines Autorenkollektivs ist, das versucht im Geiste Heiner Müllers die radikale Entfremdung des Menschen in den Nischen bürgerlicher Etabliertheit zu illustrieren. Mit beeindruckender Konsequenz vermeidet Bettina Wulff originelle Gedanken, normiert ihre Sprache wie eine Drogerie ihr Shampoo-Regal und macht aus dem Ich den gemeinsamen Nenner aller Vermutungen, die man über die so genannte „Bettina Wulff“ haben könnte.
(…)
Lieblos an den Oberarm getackert wirkt das abgestandene Tribaltattoo, weil es als Geste der Provokation keinen Hauch von Würde und Freiheit besitzt. Die aufgemotzte Fassaden lässt die dahinter geduckte Gewöhnlichkeit noch kräftiger hervortreten. Im altmodischen Sinne nötigten Tattoos seinen Träger Versprechen ab, verrieten etwas vom Innersten, legten falsche Spuren, drohten, wüteten, forderten Träger wie Betrachter heraus.





Nicht im Falle des unvollendeten Tattoos der ehrgeizigen Blonden. „Das Tattoo hat keine bestimmte Bedeutung“, verrät Bettina Wulff und wäre wahrscheinlich verblüfft, dass dies die eigentliche Bedeutung nicht nur ihres, sondern nahezu aller Tattoos in den Körperschaufenstern der bürgerlichen Mittelschicht ist. Es zeige ein „Stück Lebensgefühl“ verrät Bettina Wulff, ein „Stück meiner Überzeugung“, ein „Stück meines Ichs“ – und damit gesteht die Autorin, dass weder Überzeugung noch Ich eine Bedeutung haben müssen. Warum auch?
(…)
Beim Staatsempfang in Moskau konnte – anders als im Freibad von Burgwedel – ein Tattoo noch provozieren. Das Kopfschütteln der Medien über das Tattoo interpretiert Bettina Wulff als Ausweis der Spießigkeit der „Journaille“. Da schwingt jede Menge Stolz mit.
(…)
Bettina Wulff ahnt, dass sie noch so weit aus Großburgwedel flüchten mag, ohne die von ihr attestierte Langweiligkeit des 9000-Seelenortes ablegen zu können. Sie hätte sich den Namen ihrer Heimatstadt in Runen auf den Bauch stechen lassen müssen. Doch dazu wäre ein Mindestmaß Selbsterkenntnis notwendig gewesen.“


(Ulf Poschardt in der WELT über Bettina Wulffs Biographie – und ihr Tattoo)


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