vonChristian Ihle 29.08.2014

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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1. Der Film in einem Satz:


Vom Penner zum Killer. Es geht immer noch mal schlimmer.


2. Darum geht‘s:


Wir lernen Dwight (furchtlos gespielt vom noch unbekannten Macon Blair) in einem Zustand der Verwahrlosung kennen. Er haust in einem kaputten Auto am Strand, wäscht sich heimlich in fremden Bädern und spricht mit niemandem. Eines Tages steht die Polizei vor seinem Haus/Auto und teilt ihm mit, dass der Mörder seiner Eltern die Haftstrafe verbüßt hat und freigelassen wird.
Dwight, der seit diesem Unglück ohnehin mehr dahinvegetiert als wirklich lebt, schnappt sich seine wenigen Habseligkeiten und macht sich auf, Vergeltung zu üben.


[youtube]https://www.youtube.com/watch?v=W8MHgTAJQCI[/youtube]


Jeremy Saulnier, der bisher lediglich eine völlig unbekannte Horrorkomödie („Murder Party“) gedreht hat, nimmt diese Prämisse, um in seinem zweiten Spielfilm ein Brett hinzulegen, wie man es lange nicht mehr im amerikanischen Kino gesehen hat. Diese minimalistische Story, die Dwight zurück zu seinen Anfängen führen wird und in die Geschichte der eigenen wie der Familie der Elternmörder eintauchen lässt, hat eine No-Bullshit-Spannung, die uns über 90 Minuten verkrampft am Rand des Kinosessels sitzen lässt. Saulnier ist kompromisslos in der Ausführung und gnadenlos schlüssig am Ende, dreht die Spannungsschraube immer weiter, ohne dass wirklich viel im Sinne eines Actionthrillers passieren würde. „Blue Ruin“ eben statt „Blood Ruin“, denn Blut gibt es, ja, aber über allem liegt die Traurigkeit über verpfuschte Leben wohin man nur blickt.






In US-Medien wurde gerne der Vergleich zu den Frühwerken der Coen-Brothers gezogen, doch meiner Meinung nach geht diese Referenz fehl. Zwar teilen sich „Blue Ruin“ und beispielsweise das Coen-Debüt „Blood Simple“ einen ähnlichen Figuren-Kosmos und gilt auch bei Saulnier die alte Coen’schen Plotregel „jede scheinbare Lösung deiner Probleme verursacht nur noch größere Probleme“, doch verzichtet „Blue Ruin“ völlig auf komödiantische Erleichterung und lässt uns Zuschauer so nicht aus dem Wickel. Saulniers kleines dreckiges Meisterwerk greift vielmehr auf die kargen, aber unerbittlichen Thriller der goldenen Zeit des US-Independent-Cinemas vom Ende der 70er, Anfang der 80er zurück.

Dass „Blue Ruin“ ein Film zum Mitfiebern ist, erstaunt umso mehr, weil keine Figur, nicht einmal Dwight als pausbäckiger Penner auf Vergeltungstour, sympathisch erscheint. So umgeht „Blue Ruin“ auch alle Probleme, die Selbstjustizfilme sonst mit sich bringen, es ist viel mehr (und das ist kein inhaltlicher Spoiler) auch ein Film über die emotionale Vergeblichkeit von Vergeltung und Rache.

Einer der bemerkenswertesten amerikanischen Thriller seit langer Zeit, produziert für lächerliche, unfassbare 38.000 US-Dollar.


3. Der beste Moment:


Die Endkonfrontation im White-Trash-Haus der „Gegnerfamilie“.
Mexican Standoff und Familienbewältigungsaga in a nutshell.


4. Diese Menschen mögen diesen Film:


Wer spannende Thriller mag, keine Helden braucht und Komik nicht nötig hat, um Härte zu ertragen.


* Regie: Jeremy Saulnier
* imdb

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https://blogs.taz.de/popblog/2014/08/29/fantasy-film-fest-blue-ruin/

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kommentare

  • Wenn ich sowieso beim öffentlichen Umformulieren meiner Sätze bin, dann lieber den hier jetze unten. An dem letzten Satz meines ersten Kommentars gestern wollt ick eigentlich einen Augenblick weiter dran pfeilen, rutschte leider mit durch.

    Bei Wahlergebnissen und Umfragen lässt sich, mit anderer Konnotation, natürlich auch sinnvoll von Minderheiten sprechen.

  • Hallo Anne, meine gefühlte Antwort auf deine Grundfrage ist wie folgt. Von Minderheiten zu sprechen macht Sinn, wenn es um die Verletzung von Grundrechten geht.

    Ich sah gerade fern (auf meinem Fernseh-Bildschirm 😉 ), die ZDF-Sendung „Der Rassist in uns“. Die TeilnehmerInnen in einem Workshop erlebten als Teil eines Experiments mit Menschen Diskriminierung mittels willkürlich festgelegter Merkmale. Ich denke, darum geht es bei dem Begriff Minderheiten im Wesentlichen. Um das Sichtbarmachen von Ausgrenzung in einer Gesellschaft.

    Nachgeordnet ist der Begriff bei Wahlergebnissen und statistischen Umfragen sicherlich auch von Nutzen.

  • Abend, anderes Thema, ich bin nicht User Sancho. Las gerade den Kommentar von Gereon Asmuth heute in der taz zu Diskussion und Streit bei Bündnis 90/Die Grünen anlässlich der Änderung des deutschen Asylrechts. Darin schlussfolgert er, wofür die Partei gebraucht werde: für Minderheiten wie zum Beispiel Flüchtlinge. Beim Nachdenken über Minderheiten frage ich mich, welche Minderheiten alles gemeint sind. Obdachlose Menschen kann ich klar als Minderheit hierzulande bestimmen. Bei wie wenigen Menschen ist die Einordnung aber überstrapaziert? Die Frage kann ich mir nicht beantworten. Spricht man schon bei einer Gruppe von fünf Menschen, die irgendetwas vereint, das gesellschaftlich ausgegrenzt, stigmatisiert, benachteiligt etc. wird, von einer Minderheit? Die winzige Gruppe an BerlinerInnen, die gern Parkplätze für andere Zwecke als zum Autoparken nutzt (Picknicken, Lesen, Spielen, Kreatives) – hörte ich kürzlich im Radio – und dafür vermutlich von vielen schief angesehen wird (weniger in den Stadtteilen Kreuzhain, Prenzlberg, Neukölln, mehr dagegen schon in Alt-Spandau, Mahlsdorf, Frohnau und so fort), macht das Sinn, bei ihnen von einer Minderheit zu sprechen? Diesen ganzen Minderheiten-Diskurs möchte ich besser verstehen. Könnt ihr darüber in der Zeitung von eines Tages nicht in allzu ferner Zukunft ein paar Zeilen schreiben bitte?

  • Erste Frage: Wohnen Sie in Spremberg in Brandenburg?

    Zweite Frage: Sind Sie politikverdrossen? Liest sich für mich so nach dem Motto: Ach, sowieso alles vergebens, kann mensch nüscht ändern.

    Ist mir a bisserl sehr Stammtisch, die Sätze zum Projiezieren von Vorurteilen auf Sündenböcke. Das las und sah ich sogar in meiner 8. Klasse im Fach Deutsch bei der Besprechung des Buchs „Die Judenbuche“ von Annette Droste-Hülshoff und des Films „Die Welle“ differenzierter. Menschen sind längst nicht nur von Emotionen wie Liebe und ihrem Gegenteil Hass sowie Sozialneid getrieben. Das gesellschaftliche Ausgrenzen von Minderheiten ist etwas komplexer meiner Meinung nach.

  • Netter Beitrag James.

    „Es drängt sich die Frage auf, wie dies in einer scheinbar aufgeklärten Gesellschaft möglich ist. Warum gelingt es nicht, den tief verankerten Antiziganismus gesellschaftlich ebenso zu ächten wie den Antisemitismus?“

    Jeder zweite Deutsche den ich kenne trägt seinen Antisemitismus offen zur Schau. Ächten funktioniert halt nicht so wie die aufgeklärten Menschen es gern hätten.
    Der Mensch ist halt von zwei Gefühlen am stärksten gelenkt: Liebe und Neid/Hass.
    Wenn es nicht Sinti/Roma hier gäbe wären es halt zB die Polen….Ein Ventil findet die Dummheit immer

  • Ziehen Sie doch vorrübergehend in eine Stadt mit unterschiedlichsten Menschen um Sie herum, reden mit obdachlosen Menschen und anderen Minderheiten, bei denen Sie Ihre Benennung als nicht „politisch korrekt“ einschätzen (womit Sie doch so viel meinen wie: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“, oder?). Vielleicht äußern Sie sich nach der Erfahrung sensibler. Einsicht ist eine freiwillige Geschichte. Die kann niemand erzwingen.

  • @ alina, horsti:

    Ihr seid so politisch korrekt, dass es zum Kotzen ist. Jetzt brauch ich erst mal ein Zigeunerschnitzel zur Beruhigung

  • Penner, Schwuchtel, Neger, Zigeuner sind Worte die m.E. die wahre Fratze der Gesellschaft zeigen. Unter dem verständnisvollen Schutz und Obdach unserer „zivilisierten“ Welt wird das wahre Wesen der Menschen nur verdeckt.
    Diese oben genannte Worte verdienen Anerkennung weil sie uns erst wirklich zeigen was wir alle sind: sexistische Triebwesen die sich ständig durch ihr Ego zum Hass und Neid verleiten lassen der in jedem schlummert. Also werdet erwachsen in euren warem Stuben Leute. Ihr seid nicht so toll wie es gern hättet….

    Danke für die Filmempfehlung, werdeich mir auf jeden Fall ansehen!

  • Der Duden, ich behaupte der ist das sprachliche Norminstrument der deutschen Sprache Nummer 1, sagt in seinen Definitionen des Begriffs Penner nichts von obdachlosen Menschen.

    http://www.duden.de/rechtschreibung/Penner

    Anfangs schreibt er, der Gebrauch des Wortes sei salopp abwertend. Übersetze ich mal als Beschimpfen. Beschimpfen obdachloser Menschen. Christian Ihle, wie kommt es, dass Sie obdachlose Menschen beschimpfen? Abgrenzung aus Angst vor Obdachlosigkeit?

  • Nice review. Habe den Film gestern Abend gesehen, am Netflix. Nach den Credits, hat Saulnier verfilmt, dirigiert, und bearbeitet diesen Film.

  • Diskriminieren ist recht hochgegriffen, oder? Pennen steht salopp-umgangsprachlich für viele für schlafen, oder? Ein wichtiger Unterschied von Menschen mit und ohne Obdach ist halt, dass die ohne unter öffentlichen Blicken schlafen.

    Unfreundlich finde ich die von User Horsti kritisierte Bezeichnung für Menschen ohne Obdach aber auch. Sie ist kein Einzelfall in der taz. In allen verlinkten Artikeln online taucht sie auf und über 50 weiteren Artikeln, mühsam, die alle zu verlinken.

    http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2011%2F09%2F24%2Fa0071&cHash=988235067a887a53474623e727aee599

    http://www.taz.de/!113193/

    http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2014%2F07%2F02%2Fa0150&cHash=fde60e7310fec1d2f94dbdd4883ec231

    http://www.taz.de/!140347/

    http://www.taz.de/!117060/

    http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2001/11/01/a0138

    http://www.taz.de/!539/

    http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2014%2F06%2F14%2Fa0195&cHash=2b6e7d99497e87da430daa6908732657

    http://www.taz.de/!104935/

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