vonChristian Ihle 18.03.2016

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Henning May singt mit einer schwermütigen, tiefen Stimme, die immer an der richtigen Stelle nachdrücklich hinten in der Kehle zu raspeln beginnt, so wie einst bei Rio Reiser, sagen jetzt viele. Aber auch Westernhagen, Grönemeyer und Sven Regener beherrschen diesen nach Tresenfestigkeit und ehrlicher Handarbeit klingenden Steinkohlebergwerksgesang, große Namen, Mythen des Deutschrocks. Ich musste beim Hören von „Alles Nix Konkretes“ eigentlich immer an Klaus Lage denken, Sie wissen schon: Schimanski, „Faust auf Faust“, tausendmal berührt und Zoom gemacht.

Ja, das ist so ein typischer, hundsgemeiner Kritikertrick, um den netten Jungs eins auszuwischen. Reiser, Regener, das sind coole Vergleiche, aber Klaus Lage, das ist fies, das ist Achtzigerjahremief, Oggersheim und gelber Genscher-Pullunder und die Kaffeekännchen-Minigolf-Gemütlichkeit der alten BRD. Nette Jungs sind Henning May, Christopher Annen, Severin Kantereit und Malte Huck allemal, ihr Provo-Potenzial erschöpft sich darin, auf Journalistenfragen mal „verfickt krass“ zu sagen. Ansonsten wird am Fenster geraucht, um den WG-Mitbewohner nicht zu stören („Länger bleiben“).

(…) „Es geht mir gut, es geht mir eigentlich immer gut“, ist schon eher die Hymne, die in diesem Sommer auf Festivals aus bierdurchspülten Hälsen gebrüllt werden wird, denn AnnenMayKantereit sind eben wahrlich die Band der Stunde: irgendwie alt vor ihrer Zeit, konservativ bis in die distanzierte Verhandlung von Gefühlen und Beziehungen in Songs wie „Pocahontas“ oder „Barfuß am Klavier“ hinein. Statt Diskurs ist Duselei gewünscht: „Mir wär lieber, du weinst/ Ich versteh doch eh nicht, was du meinst“.

Für ihre Authentizität werden AnnenMayKantereit gerne gelobt, als „Gegenentwurf zu vielem, was momentan in der Musikbranche erfolgreich ist“, bezeichnen sie sich selbst. Worin dieser Gegenentwurf besteht, bleibt – da ist der Albumtitel Programm – bisher zumindest inhaltlich eher unkonkret. Was dann wohl das Lebensgefühl der sogenannten Millennials adäquat abbildet. Fair enough. Meine Freundin sagte unlängst, wie immer weise (und nicht ohne Häme): AnnenMayKantereit sind die Revolverheld-Version von Isolation Berlin. Das lasse ich mal so stehen. (3 von 10 Punkten)“

(Andreas Borcholte im SPIEGEL)

„Einer spielt kapitänsmäßig Klavier, einer unauffällig Gitarre, und die Rhythmusgruppe – inzwischen erweitert um den Bassisten Malte Huck – versucht, nicht im Weg zu stehen. AnnenMayKantereit erinnern an die Beatsteaks, obwohl sie nicht wie die Beatsteaks klingen. Mit den Urgesteinen des Berliner Punk-Establishments teilen sie sich den Wumms und das Bummsfallera, eine gewisse Grobschlächtigkeit, die auf Festivals immer geht. Ihr Sänger Henning May singt auch so reibeisern wie der Typ von den Beatsteaks, und seine Texte sind genauso schlecht, nur auf Deutsch. Man erwartet ein Top-fünf-Album von AnnenMayKantereit, vielleicht sogar Top eins. (…) May erzählt gluckernd von Bier und Wein und Mitbewohnern, er bringt „gemeinsam einsam“ als Schlagreim, reimt außerdem „wohn’n“ auf „Balkon“ und „Brötchen hol’n“. Im Stück Pocahontas wiederholt er zehnmal den Namen Pocahontas, dazu erklingt Mumford-&-Sons-Musik. Es tue ihm leid, singt May noch, und das sollte es auch. (…) Der Rock von AnnenMayKantereit kennt keine Risiken, das Weltbild der Musiker pendelt sich ein zwischen „passt schon“ und „weiter geht’s“.
Nicht auszuschließen, dass darin schon der ganze Hund begraben liegt. AnnenMayKantereit singen über Veränderung, ohne etwas verändern zu wollen – und landen damit einen zeitgeistlichen Glückstreffer. Sie bezeugen, dass es überhaupt kein Problem ist, wenn man nichts zu sagen hat, solange man es ernst meint. Mit echtem Herzblut und echten Instrumenten besetzen sie ein Bedürfnis nach echten Songs über echte Menschen und deren echte Probleme. Das haut natürlich rein: Wer mittags beim Poached-Eggs-Frühstück in die erste Existenzkrise des Tages rutscht, für den ist das Konzert von AnnenMayKantereit am Abend schon wieder ein Fluchtpunkt. (…) Mit den Sorgen dieser Platte kann man leben wie mit einem Leberfleck am Rücken, den ohnehin niemand sieht.“

(Daniel Gerhardt in der ZEIT)


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kommentare

  • All diese superschlauen Kritiken von oben herab sind so was von arrogant, herablassend und einfach dumm…Nun lasst doch diese Jungs mal so gelten wie sie sind und vergleicht nicht immer. Die Zeit der Protestsongs ist jetzt eben vorbei.
    Die Tatsache, dass die Band einen so unglaublichen Erfolg hat, ist offenbar für die oberschlauen Kritiker ein Beweis dafür, dass nicht nur diese Jungs, sondern auch die große Zahl ihrer Fans einen bemitleidenswert dürftigen Geschmack haben . Dieses elitäre Gehabe, mit dem diese Band von den selbsternannten Schlaumeiern abqualifiziert wird, geht mir auf den Geist. Aber da sitzen wohl immer noch frustrierte Alt 68-er in den Redaktionen, die das, was sie nicht erreicht haben, nun von den jetzt Jungen verlangen: Politische Power zum Ziele der Veränderung der Gesellschaft, Songs mit politischer Botschaft.-Dass immer mehr gerade auch junge Menschen inzwischen überzeugt sind, keinen Einfluss mehr auf die Politik zu haben und sich deshalb ins Private zurückziehen, ist doch nun wirklich inzwischen nur zu gut zu verstehen. Und davon profitieren auch AnnenMayKantereit.

  • Warum schreiben Journalisten Lp-Besprechungen, Konzertberichte?
    Warum schreiben Menschen Kommentare?
    Warum schreibe ich einen Kommentar?
    Warum manchen AnnenMayKantereit Musik, die ich nicht mag und langweilig finde?
    Warum finde ich Isolation Berlin besser?

  • Da gibt es wieder die Wissenden, die so etwas interpretieren wollen…Warum hört Ihr denn nicht die Musik und seid doch still ????
    Solche Interpretationen sind doch lachhaft.

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