„Deutschland braucht einen Digitalrat“, so ist ein, na ja, Debattenbeitrag von Volker Kauder in der „Welt“ überschrieben. Er hat zu wenig Echo gefunden – jedenfalls angesichts der Tatsache, dass es sich um eine der größten politischen Unverschämtheiten der Ära Merkel handelt. Der Text ist ein trumpiger Stunt, zwölf Jahre Digitalversäumnis und Verhinderung sinnvoller Digitalpolitik umzudeuten.
Volker Kauder ist seit 2005 Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und organisiert die parlamentarische Mehrheit der Kanzlerin. In dieser Funktion, kann man ohne Übertreibung sagen, hat er jeden erfolgreichen Gesetzesentwurf mitgeprägt, aber auch mitverantwortet, was politisch verhindert wurde. Kauder ist die parlamentarische Personifizierung von Merkels Politik.
Die CDU-Definition von „entschlossenem Handeln“
Als Wortmeldung dieses Mannes wäre ein gigantisches „Mea Culpa“ noch zu wenig. Stattdessen beginnt die absurde Frechheit mit der Überschrift, nämlich der Forderung nach einem Digitalrat. Der solle, schreibt Kauder, „die richtigen Antworten für das Zeitalter der Digitalisierung“ formulieren, und die Politik müsse dann „entschlossen handeln“. Zur Erinnerung: Es gab bereits von 2010 bis 2013 einen Digitalrat in Form der „Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft“. Das damalige Mitglied Markus Beckedahl sagt: „Von den zahlreichen Handlungsempfehlungen hat die unionsgeführte Bundesregierung seitdem fast keine umgesetzt.“ So sah entschlossenes Handeln zur Digitalisierung beim letzten Mal aus.
Kauder fordert weiter, „sich mit dem gewaltigen Umbruch zu befassen […] Dieser Umbruch trägt den Namen „Digitalisierung“ […] Die Digitalisierung ist für mich das Megathema der kommenden Jahre.“ Offener Mund. Potztausend, der kommenden Jahre! Der amtierende US-Präsident ist nicht zuletzt durch Kraft und Missbrauch sozialer Medien an die Macht gekommen. Die Digitalbranche ist größter Arbeitgeber in Deutschland. Von den fünf wertvollsten Konzernen der Welt sind Anfang 2018 fünf Digitalkonzerne. Und jetzt stellt Volker Kauder die Digitalisierung vor, mit der man sich befassen müsse.
Schließlich werde „über Digitalisierung und ihre Folgen […] noch viel zu wenig gesprochen.“ Rote Äderchen platzen in den fassungslos geweiteten Augen. Darüber wird viel gesprochen! Es wird bloß seit Jahren zu wenig zugehört, und zwar von: Volker Kauder. Die Digitalisierungsdebatte mag in Deutschland dysfunktional sein und nicht von überragender Qualität – aber sie wird seit über einer Dekade geführt. Kauder hält sich zwölf Jahre die Ohren zu und behauptet jetzt, es sei zu still.
Aus dieser Position der verschlossenen Ohren wagt Kauder die Analyse: „Deutschland ist momentan kein Wirtschaftsstandort, an dem der digitale Fortschritt optimal gedeihen kann.“ Schreikrampf. Das stimmt, aber die suboptimalen Bedingungen sind maßgeblich durch Kauders Mitwirkung entstanden. Seine Fraktion hat wenig getan und viel verhindert. Im Detail wird das anhand Kauders eigener Aussagen deutlich.
„Als Erstes muss endlich dafür gesorgt werden, dass Deutschland zu einem Land des schnellen Internets wird.“ Stoßatmung, erste Iro-Haare ausgerissen. Bei fast keinem Digitalthema haben die bisherigen Regierungen von Angela Merkel so verlässlich versagt wie beim Breitbandausbau. Andere Länder gaben Abermilliarden für digitale Infrastruktur aus, in Deutschland ist man auf dem Land quasi offline.
„Selbst Portugal ist hier […] besser.“ Zuckungen im Augenlid. Kauder schafft es, die Beschwerde über seine eigenen Fehler mit abfälligem Chauvinismus zu verbinden.
„Vor allem mittelständische Firmen im ländlichen Raum klagen.“ Erstickungsanfall. Blutige Tränen. Sie gelten etwa der Verhinderung des Internet-Universaldienstes, von der Union 2013 parlamentarisch abgeräumt. Das Gesetz hätte eine Mindestgeschwindigkeit auch auf dem Land festgelegt. Hätte, hätte, Kupferkabel. Kauder und Konsorten entschieden sich für die Telekom-Bilanz und gegen eine solche Verpflichtung.
„Das Ziel, das im Sondierungspapier formuliert ist, den flächendeckenden Ausbau mit Gigabit-Netzen zu erreichen, muss daher unbedingt erfüllt werden.“ Zittern der Unterlippe, hysterisches Lachen. Ja, das Ziel muss erfüllt werden. So wie die Ziele der letzten Regierungen:
2008: „Problem fehlender Breitbandanschlüsse werde binnen 12 Monaten weitgehend gelöst“ (Parlamentarischer Staatssekretär der CDU)
2009: „Drei Viertel der Haushalte haben bis 2014 50 Mbit/s“ (Merkel)
2011: “ erhebliche Potenziale auszuschöpfen […], um weitere ehrgeizige Ziele der Breitbandstrategie zu erreichen“ (Bundesregierung)
2013: „50 Mbit/s für alle bis 2018“ (Koalitionsvertrag)
2013: Unionsminister Dobrindt verspricht „das schnellste Netz der Welt“
2015: „CDU will Rechtsanspruch auf schnelles Internet einführen… überall in Deutschland“ (CDU-Programmkommission)
(…)
„…aber auch durch die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland.“ Verzweiflungshecheln. Meine Güte! Wenn irgendjemand jedes sinnvolle Zuwanderungsgesetz abgelehnt hat, war es die Bundestagsfraktion der Union. „Kinder statt Inder“ forderte die NRW-CDU im Jahr 2000, und in den Köpfen von Kauders Fraktion hat sich seitdem wenig verändert. (…)
Immerhin: Kauder hat Online-Nachrichten entdeckt
„Es gilt, ein positives gesellschaftliches Klima für Innovation im digitalen Zeitalter zu schaffen. Deutschland muss wieder mehr ein Land mit der Lust am Neuen sein.“ Zweiter Wutanfall, diesmal mit Zitterkrämpfen. Die Union führte das Leistungsschutzrecht ein, ein Innovationsverhinderungsgesetz. Die Union hielt trotz vorgeblicher Marktorientierung ihre Hand stets schützend über alte Geschäftsmodelle, von Dieselsubvention bis Telekom-Protektion. Das „positive Klima für Innovation“ haben Merkel und Kauder im Digitalen bekämpft.
„Das Wissen der Welt wird über Tablets und Smartphones noch mehr zu jeder Zeit zugänglich sein.“ Fieberschub, vor Wut die Schneidezähne zerbissen. Die Unionsfraktion hat sich dagegen gesperrt, das Urheberrecht angemessen für den Wissenszugang zu aktualisieren. Sie hat jahrelang die zugangsreduzierende Störerhaftung propagiert. Sie hat so lange wie möglich Wissensentwicklungen wie Open Access gebremst.
„Es ist schon wieder weltweit ein Regulierungs- und Vollzugsdefizit entstanden, ähnlich dem im Finanzsektor vor der Wirtschaftskrise 2008 und 2009, nur diesmal im Digitalbereich.“ Beginn einer Hirnblutung. In schwarzgelben Zeiten schrieb die Unionsfraktion: „Die christlich-liberale Koalition will mit einer Finanztransaktionssteuer die öffentlichen Haushalte entlasten und ungezügelte Finanztransaktionen bremsen.“ Die Steuer kam natürlich nicht. Da kann man zuversichtlich sein, dass die Union das Regulierungs- und Vollzugsdefizit im Digitalbereich ähnlich effektiv angeht. Etwa so wie das von ihr mitbeschlossene Netzwerkdurchsetzungsgesetz.
Hurra, die Union plant eine Veranstaltungsreihe
„Die Politik muss sich den Herausforderungen durch die Digitalisierung in dieser Wahlperiode auf allen Ebenen stellen.“ Hemmungsloses Schluchzen, spontane Eiterbeulen. Das Parlament hatte die eingangs erwähnte Enquete-Kommission eingesetzt, um, Zitat: „die politischen Fragen der Digitalisierung zu beantworten.“ Unterschrieben im März 2010. Von Volker Kauder persönlich. Man möchte Kauder packen und schütteln und schreien: Wer war denn an der verdammten Regierung in den letzten 12 Jahren? Wer? Wer? Kalter Zorn. Der Iro liegt in blutigen Strähnen im Raum verteilt.
Es folgen Kauders Schlussakkorde, die so falsch sind, dass nicht einmal das Gegenteil richtig wäre: „Meine Fraktion plant bereits, der Digitalisierung eine eigene Veranstaltungsreihe zu widmen.“ Hurra, eine Veranstaltungsreihe. Damit wird alles in Ordnung kommen! Ebenso wie mit der ebenfalls von Kauder vorgeschlagenen „Schaffung eines zentralen Koordinators für den Bereich Digitalisierung, am besten im Kanzleramt.“ Also jenem Digitalminister, den nicht zuletzt die Union verhindert, seit ca. 2009 der Vorschlag aufkam?
„Deutschland braucht einen Digitalrat“, sagt Volker Kauder. Diesen Digitalrat kann ich gerne erteilen: Man schicke als erstes diejenigen zum Teufel, die zwölf Jahre lang alles verhinderten und sich jetzt ohne jedes Schuldeingeständnis über die Zustände beklagen. Zusätzlich schlage ich vor, das Wort „kauderhaft“ einzuführen, als sinnhafte Ergänzung zwischen den Begriffen frech, realitätsavers und schamlos.“
(Sascha Lobo bei Spiegel Online über den CDU-Fraktionschef Volker Kauder)
Mit Dank an Lenny Berger!
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