vonChristian Ihle 09.11.2020

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

Mehr über diesen Blog

Die junge Dominique (Brigitte Bardot) steht vor Gericht, weil ihr (Ex-?)Freund erschossen aufgefunden und sie, daneben liegend, gerade noch vom Selbstmord bewahrt werden konnte. In Rückblenden werden in Zeugenaussagen und Anwaltspladoyers Leben, Lieben und Wirken der Dominique aufgefächert, natürlich subjektiv gefärbt wie in einem kleinen „Rashomon“ mit Baguette und Baskenmütze.

Wer (wie ich zunächst) jetzt aber einen schnöden Gerichtsthriller um die Auflösung eines Verbrechens erwartet, wird auf falschem Fuß erwischt. Denn Regisseur Henri-Georges Clouzot hat etwas völlig anderes im Sinn: er will den Generationskonflikt verhandeln und wählt dafür – raffiniert, dieser Franzose! – tatsächlich das Setting eines Gerichtsdamas. Denn um die Auflösung, wer hier wen erschossen hat, geht es Clouzot gar nicht, was sicherlich für manche irritierend sein kann.

Hier wurde ein eingebetteter Medieninhalt blockiert. Beim Laden oder Abspielen wird eine Verbindung zu den Servern des Anbieters hergestellt. Dabei können dem Anbieter personenbezogene Daten mitgeteilt werden.

Vielmehr scheint mir „La Vérité“ eine Demonstration des Lebensstils der Jugend und der Attitude der legendären Pariser Left Bank zu sein, ein Eintauchen in ihre Cafés und damit in die Diskussionen und Leben der Post-Weltkriegs-Jugendlichen. Ohne explizit ausgesprochen zu werden sehe ich hier Anklänge an die Ideen der Lettristen und Situationisten, die in diesen Jahren genau in jener Szene beheimatet waren und in diesen Cafés wohnten: „Ne travaillez jamais!“ – die Ablehnung der Arbeit und dafür die Lust am Spiel als Kern des Lebens.

Die „Vérité“ aus dem Filmtitel meint also mehr die Wahrhaftigkeit, mit der die Jugend ihr Leben führen will, als die tatsächliche Frage nach der objektiven Wahrheit einer Tatnacht.

Das ist trotz zweistundenplus Spielzeit fesselnd und faszinierend, insbesondere in den Rückblende-Sequenzen. Ich bin auch völlig begeistert, wie progressiv „La Verité“ 1960 war. Wenn man Clouzots Werk mit der Prüderie der amerikanischen Spielfilme aus der jener Zeit vergleicht, holla La Waldfee!

Dominique wird als Libertin portraitiert, als promiskuitiver Freigeist, der an den Konventionen der Gesellschaft und der alten Generation zugrunde geht. Der zu diesem Zeitpunkt immerhin schon 57jährige Clouzot stützt im Zweifel auch die Position von Dominique und keineswegs die Anklagen „seiner“ Alterskohorte. Dennoch stellt er seiner Dominique-Figur keinen Freibrief aus, sondern zeigt in den Rückblenden auch das Leid, das mit einer so hedonistischen Lebensweise einhergehen kann, wenn die Partner im Spiel des Lebens nicht auf der gleichen Grundlage agieren (können).

„La Verité“ ist ein faszinierender Blick in das Paris der frühen 60er und so auf den Bruch im Verständnis zwischen den Generationen, aufgrund dessen am Ende des Jahrzehnts die Revolte tatsächlich die Straße ergreifen wird.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/popblog/2020/11/09/filmtagebuch-la-verite-mit-brigitte-bardot/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert