Chronicle of a Summer (1961, Regie: Edgar Morin, Jean Rouch)
zur Leihe bei La Cinetek
„Sind sie glücklich?“ ist die einfache Frage, die Jean Rouch und Edgar Morin zu Beginn des Films Pariser Passanten stellen. Die Antwort ist häufiger als nicht „Arbeit, Fernsehen, Schlafengehen / So macht das Leben keinen Sinn“.
Aus diesem, auf den ersten Blick schlichten Beginn entwickeln Rouch/Morin bereits Eckpunkte der Frage, was Leben denn sein kann und soll, picken sich im Folgenden einige Interviewpartner heraus, konfrontieren sie mit konkreten, diffizilen Themen (Rassismus, Antisemitismus, Algerienkonflikt, Depression), besetzen ihre Fragerunden bewusst aber scheinbar zufällig mit gegensätzlichen Paaren (Schwarz und weiß, Studenten und Arbeiter, Alt und Jung) und graben sich immer tiefer in die Leben ihrer Gesprächspartner.
Dabei sitzen Rouch & Morin ständig selbst am Tisch, machen ihre Präsenz klar und damit die Wirkung der Kamera auf die Aussagen der Interviewten. Am Ende führen sie die verfilmten Gespräche den Protagonisten vor, lassen diese über ihre eigene Performance im Moment des Gesprächs sprechen und gehen zum Ende selbst dsikutierend aus dem Kinosaal, wandern die Gänge entlang und besprechen das Ergebnis des eigenen Films („We wanted to make a film about love, but it turns out to be about indifference, or, if not indifference, one that triggers off a reaction, not necessarily a sympathetic one“, Jean Rouch).
Was für ein reicher, vielschichtiger, ständig sich verändernder und den Zuschauer herausfordernder Film! (8/10)
Rodeo (2022, Regie: Lola Quivoron)
im Kino
Eine räudige, mit Benzin getränkte Straßenköterballade aus Frankreich.
Die junge Julia (Julia Ledrou, rough) schreit gegen die Welt an und findet eine Ersatzfamilie in einer illegalen Motorrad-Akrobaten/Hehler-Bande, mit der sie die verrücktesten Stunts durchführt und die heftigsten Diebstähle fabriziert.
Julia selbst bleibt in all ihrem Frust und ihrer Loneliness ein Chiffre und so hat auch „Rodeo“ selbst seine Längen, gelingt aber ein poetisch-rätselhaft-rauhes Ende. (6/10)
Exhibition (2013, Regie: Joanna Hogg)
bei Mubi
Wohlsituiertes Künstlerehepaar in ihren End50ern ist einerseits glücklich und vertraut, andererseits in ständiger Habachtstellung. Sie entscheiden sich, ihr architektonisch beeindruckendes Häuslein zu verkaufen. That’s it, was den Plot angeht.
In den Hauptrollen reizvoll besetzt mit Viv Albertines von den Slits und dem Künstler Liam Gillick sowie in großer formaler Strenge von Joanna Hogg inszeniert.
Inhatlich aber leider arg arg zäh. (4/10)
Compulsion (2017, Regie: Ángel González)
auf Amazon Prime Freeve
Ein minimalistischer, fieser Horror-Thriller aus Spanien.
„Compulsion“ spielt im Grunde in nur zwei Settings: in der Wohnung eines Pärchens und in einer abgerockten Sommer-Residenz im Nirgendwo. Als die Frau an der Treue ihres Mannes zweifelt, folgt sie ihm im Auto zu der ihr unbekannten Sommer-Residenz. Dort entdeckt sie zwar auch eine andere Frau, aber die Wirklichkeit ist noch viel schlimmer: die hübsche Schwarzhaarige ist im Keller festgekettet.
Aus dieser einfachen Prämisse spinnt Ángel González ein höllisch spannendes Garn. Befreiungs- und Fluchtaktionen enden immer im nächstschlimmeren Ergebnis und der Bösewicht ist von so unangenehmer männlicher Präsenz, wie ich lange keinen mehr gesehen habe. Die begrenzten Mittel der Produktion werden sogar gewinnbringenden eingesetzt. Die Beschränkung auf wenige Orte macht die Atmosphäre nur noch einschnürender, die direkte, immer den Charakteren dicht folgende Kamera vermeidet jeden Glanz und zeigt damit die Brutalität in schonungslosen Härte.
Stark! (7/10)
Old People (2022, Regie: Andy Fetscher)
auf Netflix
Da weiß man gleich wieder, was man an Peter Thorwarth und seinen deutschen Netflix-Genre-Filmen wie „Blood Red Sky“ oder „Blood & Gold“ hat, wenn man dagegen einen solchen Rohrkrepierer wie „Old People“ schauen muss.
In wirklich hässlicher und zugleich zu glatter Ästhetik wird in „Old People“ ein Pladoyer für das Kümmern um die Alten und gegen den Pflegenotstand gesprochen, stellt dabei aber die Alten in abstossender Hässlichkeit aus – also was nun? Dazu auch noch einfach öde erzählt. Keine Stunde ausgehalten. (3/10)
Die Bestechlichen (1984, Regie: Claude Zidi)
Comedykrimi aus dem Frankreich der Mitt80er, mit Blick auf das große Publikum gedreht – und das mit Erfolg: „Les Ripoux“ war 1984 der zweiterfolgreichste Film des Jahres in Frankreich mit 5,8 Millionen Zuschauern (direkt vor „Indiana Jones“ auf #3 und „Amadeus“ auf #4).
Dankenswerterweise ist „Die Bestechlichen“ trotzdem nicht so nervtötend wie „Schtis“ & Co, exerziert aber andererseits auch wirklich alle Buddy Movie – Klischees durch.
Philippe Noiret ist als verschlagener Altpolizist, der sich durch sein Viertel gaunert, der große Mehrwert des Films, weil sein schnauzbärtiger, korrupter Bulle so richtig schön eingelebt wirkt. (4/10)
The Good Liar (2019, Regie: Bill Condon)
überall zur Leihe
Etwas betulicher, aber unterhaltsamer Film über einen alternden Trickbetrüger, der mittels Liebesschwindelei einen letzten großen Fisch ans Land ziehen will, aber den Fisch unterschätzt.
Am Ende ist „The Good Liar“ etwas zu einfach gestrickt, um wirklich überraschen zu können, und die historischen Exkurse in die Nazi- bzw. Nachweltkriegszeit sind der Glaubwürdigkeit auch nicht förderlich, aber dank zweier guter Schauspielleistungen von Helen Mirren und Ian McKellen bleibt „The Good Liar“ ein ordentlich unterhaltender Film. (6/10)
Shattered Glass (2003, Regie: Billy Ray)
bei Amazon Prime und Plex
Praktisch das Drehbuch zum Relotius-Fall vor der Zeit.
Ende der 90er: ein gefeierter Jungautor beeindruckt beim wichtigen politischen US-Magazin „New Republic“. Reportage um Reportage sorgt Stephen Glass bei Kollegen und Lesern für Begeisterung und Aha-Momente, bis ein paar Digital-Journalisten bei einer Hacker-Story auf einmal misstrauisch werden und zu recherchieren beginnen…
Aus heutiger Sicht sind manche Momente fast nicht glaubhaft, aber tatsächlich passiert: wie in den End90ern jemand wie Stephen Glass (in beeindruckend schmierig-wurmiger Unausstehlichkeit von Hayden „Anakin“ Christensen gespielt) mit simplsten Internet-Moves noch eine Riege erfahrener Journalisten täuschen konnte. Eine rudimentäre Website für ein erfundenes Unternehmen aufgesetzt, einen fake AOL-Mailaccount für einen Informanten eröffnet, eine Voicemail mit fremder Stimme besprechen lassen… das genügt schon um über Monate von der Fact Checking Redaktion durchgewinkt zu werden.
Wie aber letztlich durch externe Recherche und das Nachhaken des neuen, ungeliebten Chefredakteurs (Peter Sarsgaard, stark) sein Lügengebäude zusammenfällt, ist ein sehr kurzweiliger Ritt durch die Journalismus-Welt.
„Shattered Glass“ ist ein tolles Thriller-Drama über Manipulation und Storytelling. (7/10)
Vigil (2021, Regie: James Strong, Isabelle Sieb)
zur Leihe bei Magenta oder Joyn
E01/02: britische Thriller-Serie, die recht interessant konstruiert ist: eine Storyline spielt auf einem Atom-U-Boot, auf dem ein Todesfall geschehen ist. Eine Polizistin leitet – gegen passiven Widerstand der Marineführung – dort die Untersuchung. Parallel ermittelt eine Kollegin über Wasser zu den Hintergründen, wobei die beiden Polizistinnen durch diese Konstellation nur schwerlich kommunizieren und sich abstimmen können.
E03-06: Vor allem hinsichtlich seines Spannungsbogens gut gemacht – und zwar so gut, dass man sich die meisten Logikfragen lieber gar nicht erst stellt. Ob das im Kleinen oder gar im Großen (wozu das alles? really?) Sinn ergibt, mal dahingestellt, „Vigil“ lässt sich aber mit seinen sechs Folgen schön wegschauen. Passend, dass „Vigil“ der erfolgreichste Serienneustart der BBC seit „Bodyguard“ war, denn das Fazit ist ein ähnliches: spannend und handwerklich gut, aber mit einigen Drehbuchlücken. (7/10)