vonChristian Ihle 06.09.2024

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Gastbeitrag von Du Pham

Es ist Herbst 1995.
Normalerweise hätte ich Hausarrest
wie immer in den Herbstferien
Dieses Mal nicht
Take That ist so ziemlich vorbei
Obwohl ich die Zeit meist allein verbringe
maximal mit meinem Bruder
bin ich dabei gerne draussen und verlängere
weswegen es jährlich zur eben erwähnten Strafe kommt
Ich fahre mit meinem Supermarktmountainbike durch die Gegend
am Rand einer mittelgrossen Stadt am Niederrhein
An der englischen Kaserne vorbei
in der Hoffnung meinen Crush – Thomas – zu treffen
Seine Haare eine wilde stufige Variante des Pilzkopfes

Etwas später erscheint Dangerous Minds mit Michelle Pfeifer
Hochhaus, alleinerziehende Mutter, wenig Geld
trotzdem geht sie mit uns in Kino
Wir fühlen uns mit dem was auf der Leinwand abgebildet wird
verbunden

Als das Jahr 1995 zu Ende geht
verändert sich etwas in mir

And all the roads we have to walk are winding
And all the lights that lead us there are blinding
Because maybe
You’re gonna be the one that saves me

Und nicht nur ich
die Musikwelt verändert sich
Kurt Cobain suizidiert sich und den Grunge mit
Wu-Tang Clan etabliert einen surrealen Hip Hop-Stil
Es gibt Mega-Metal-Festivals mit Metallica, AC/DC, Iron Maiden
Von Kurt Cobain fühlte ich mich in meiner Traurigkeit verstanden
Von Oasis fühlte ich mich ans Leben gebunden

Ich wusste nicht zu formulieren was ich fühlte
was es mit mir machte
dass niemand mit mir sprach
und warum es mir im Grunde nichts ausmachte

Dann kamen die Lads
die sagten was sie dachten
und sich als verletzte Underdogs
zeigten wehrten

Wonderwall ist
der Song den Liam zuerst nicht singen wollte
der Song von dem Noel heute nur ein iuah übrig hat
der Song von dem es läpsch ist
den Zugang zu Oasis zu bekommen

Aber: Ich war 12 und hatte ein schweres Herz

Sie waren die anarchische Sex Pistols-Version von Take That
und ich schockbetört

Die Texte von Noel
die zwischen Quatsch und Poesie changieren
die Stimme von Liam
die zwischen kratziger Melancholie und tröstlicher Pöbelei wandelt

Meine Mutter verehrte die Beatles
mein Bruder bog nach Dangerous Minds zum Rap ab
Wir als Familie vor lauter Referenzen miteinander verbunden
Noel klaute nicht, er sampelte
Coca Cola, T-Rex, Velvet Underground
Und sich selbst
Das bekannte Maaaybee teasert Noel schon 1994 bei Live Forever an

Massive Riffs rohe Energien ungezügelter Lärm
langgezogene Vokale
die scheinbar banalen Texte
so viele versteckte grossartige Zeilen
immer bis zum Anschlag
alles
der Wall of Sound

Oasis hat mit ihrer Biographie
ihrem ehrlichen und unangenehmen Auftreten
etwas geschaffen was keine Band zuvor konnte
Sie hat mich akzeptieren lassen woher ich komme
Und die die mich dafür geschämt haben
den Mittelfinger zu zeigen

Es gibt Jahre an denen ich keinen einzigen Oasissong höre
Dann sind sie auf einmal wieder da
die Momente in denen mein Herz wieder 12 ist

Wenn ich mit einem Exfreund auf einer Hochzeit Oasis-Videos schaue
Wenn ich mit Kumpels ein Konzert von einem der Gallaghers besuche
wir uns in den Armen liegen und die Münder so gross aufreissen
wie einst Liam

Diesen Sommer war ich in Großbritannien
das erste Mal in Manchester
mit dem Fahrrad etwas hochwertiger als das Mountainbike
Der Lieblingsjunge begleitet mich
Nicht Thomas nicht britisch
aber auch ziemlich hübsch
Ich spiele ihn während wir die 150 Kilometer
von Wales in diese musikträchtige Stadt fahren
Oasis (und The Smiths)-Songs vor
mit denen er nie viel anfangen konnte
Er hört geduldig zu unterstützt mich während des Aufenthaltes mit jeder Pore
schubst mich in die Storegalerie von Brian Cannon
quieckt und filmt als ein Strassenmusiker Don’t Look Back in Anger singt

Dienstag 27 August
ich habe Glück und arbeite mit meinem Lieblingskollegen
und Langzeitkumpel
Er überbringt mir die Nachricht

(Said it’s good to be back, it’s good to be back)

special people change
Unser gelebter Alltag weist nur noch wenig Gemeinsamkeiten auf
Wir sind wieder gleich – und verbunden
Wir planen unseren Manchestertrip

Samstag 31 August
Der hübsche Junge hat ebenfalls Laptop und Handy bereit
Meine beste Freundin, Team Blur, steht überraschend früh auf
Mir schreiben Menschen Nachrichten
die kein Oasis hören aber helfen wollen

Während die Definitely Maybe – Deluxe 30th Anniversary Edition läuft
fliegen der Junge und die Freundin bereits aus ihren Logins
werden als Bots gesperrt

Es sind noch 38.000 Menschen vor mir in der Warteschlange
ich lese alles was der News Alert ausspuckt
vom Guardian bis zur Zeit und natürlich auch die taz
Es gehört wohl zum guten Kulturton an der Neuigkeit nichts gut zu finden
Man könnte meinen sie wollen auch mal den Gallagher geben
es wird gerohrspatzt wie es seit Schulzeiten
schnöselige Blurfans nicht mehr taten
Nur sind sie keine Teenies sondern ausgewachsene Journalist*innen im Feuilleton
und wieder steht mein Mund weit offen
Während also darüber echauffiert wird
dass Oasis sich als Working-Class-Band tatsächlich erlaubt
mit ihrer Rückkehr Geld verdienen zu wollen
tappen sie allesamt in die Falle und
zeigen sich in ihrem Klassismus und Aufgeblasenheit
ekelhaft elitär und frömmlerisch

They are the uninvited guests who stays till the end

Vielleicht kann man sich daran stören wie Noel die Gitarre spielt
Vielleicht ist es ein Abrufen von Gefühlen die in der Jugend Halt gegeben haben
Vielleicht sind Koteletten nicht jedermanns Sache – oder Möglichkeit

So, (What’s the Story)?

Definitiv sind die ersten beiden Alben nicht streitbar
Definitiv sind sie der Sound einer Generation
Definitiv haben sie Musikgeschichte geschrieben

Sich an Prügeleien
brüderlichen Zwisten
medial hochgepitchten Beef mit Blur
festzuklammern
dabei eigentlich kein Wort über die Musik
der einhergehenden Bedeutung zu verlieren

Uff, das schmeckt nach aufgewärmten Erbsenpüree und ist so rebellisch
wie über Menschen herzuziehen die Obst einkochen

We see things they’ll never see
You and I are gonna live forever

Als Liam

The sun is coming up and it’s going down
But it’s all just the same at the end of the day

makellos zerbrechlich performt
hänge ich im Buffer fest
Mir kullern 12-jährige Tränen
Damals gab es weder CD noch Konzert
heute hätte ich mir das Komplettdeluxeultrapaket buchen
können
einfach weil ich wollte
aber auch weil ich mich
über den Umstand dass Noel das Stück
Sad Song nennt
vergnügen kann

am Ende des Tages als die Sonne untergeht
ist es genauso wie am Morgen diesen Tages

Ich habe kein Ticket für Oasis
halte vieles rund um die Tour für einen grossen fuck
aber ich habe wieder dieses bestimmte Flattern in der Bauchgegend
was eben nur Musik nur Oasis kann

Es ist Spätsommer 2024.
Ich habe kein Alter ich habe kein Geschlecht ich habe keine Klasse
Ich habe den unschuldigsten und aufregendsten Liebeskummer aller Zeiten

My Heart Will Always Be Your Home
Forever and a day

Gastbeitrag von Du Pham

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