vonChristian Ihle 12.10.2024

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Kinds of Kindness (2024, Regie: Yorgos Lanthimos)
auf Disney+

Drei Stunden Yorgos Lanthimos sind selbst dann nicht leicht verdaulich, wenn sie in drei Anthologie-Häppchen serviert werden. Im Gegenteil: der Meister der Greek New Wave kehrt nach zwei academygerühmten – und für seine Verhältnisse – Mainstream-Ausflügen mit „The Favourite“ und „Poor Things“ wieder a) in die Jetzt-Zeit und b) in die Weird-Zeit zurück.

Die drei abstrakten Kurzgeschichten, die Lanthimos hier erzählt, sind so wenig greifbar, dass ich außer einem Gefühl für die Kaputtheit der Welt und einem ewigen Tauziehen zwischen Dominanz und Submission nicht einmal sagen könnte, worum es hier eigentlich geht. Nichsdestotrotz ist das so verstörend kalt gefilmt und konsequent kühl erzählt, dass ich fasziniert vor „Kinds Of Kindness“ sitze.

Kein Spaß, aber was ist schon wirklich ein Spaß im Stahlbad der Welt. (7/10)

Rebel Ridge (2024, Jeremy Saulnier)
auf Netflix

Gut zehn Jahre ist es her, dass Jeremy Saulnier mit dem Doppelschlag „Blue Ruin“ (#3 Filme des Jahres 2014) und „Green Room“ (#1 Film des Jahres 2016) sich als einer der faszinierendsten Genre-Auteure vorgestellt hat. Ein im Vergleich dazu etwas mauer Netflix-Film 2018 und dann… lange nichts.

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„Rebel Ridge“ hatte eine komplizierte Entstehungsgeschichte, wurde zunächst wegen Covid verschoben und der eigentlich verpflichetete Hauptdarsteller John Boyega („Star Wars“) stieg während der Dreharbeiten aus bisher immer noch ungeklärten Gründen aus. Saulnier musste zurück auf Los. Dass ihm bei diesem Chaos ein so guter Film gelungen ist, lässt hoffen, dass Saulnier wieder zurück ist auf seinem Niveau der Mitt-Zehner-Jahre.

Besonders stark ist der Beginn von „Rebel Ridge“, der innerhalb von wenigen Minuten all die rassistisch grundierte Ungerechtigkeit der USA so spürbar macht, dass man als Zuschauer vor Wut schon in die Tischkante beißen möchte. Dass Saulnier seine „Rambo: First Blood“-Variante – denn im Grunde ist „Rebel Ridge“ ja: ungerecht behandelter Veteran vs die Obrigkeiten in einem Hinterwäldlerdorf – im Folgenden immer wieder bricht und seine Kampfmaschine zum bewussten Nicht-Killer aufbaut und ausgerechnet ihn als jenen Charakter präsentiert, der am ernsthaftesten versucht, die Gewalt-Spirale immer wieder zu durchbrechen und mit vergeblicher Vernunft gegen die Widrigkeiten kämpft, ist ein faszinierendes Spiel mit dieser thematisch vertrauten Grundstory.

Lediglich die unnötige Länge des Films und die überflüssige Ausweitung der Geschichte auf eine verworren erzählte Korruption im Hintergrund verhindern, dass „Rebel Ridge“ wie die beiden Farb-Filme Saulniers zu einem wirklichen Ereignis wird.
Dennoch: einer der besten Netflix-Filme seit langer Zeit. (7/10)

My Dear Killer (1972, Regie: Tonino Valerii)
auf amazon prime

Die obligaten Giallo-Elemente sind an ihrem Platz: Lederhandschuh-Killer, mindestens zwei heftige Mordtaten, unangenehm konnotierte sexuelle Anspielungen, verwirrende Story!

Anders gesagt: schön unterhaltsam und zurückhaltend genug, um nicht gänzlich im Absurden zu landen. (6/10)

Hunt (2022, Regie: Lee Jung-jae)
auf amazon prime

Koreanische Politik ist echt wild!
Dieser heftige Action-Polit-Film, der sich inhaltlich ein wenig an die „The Departed“-Struktur anlehnt, wirft viele Figuren und noch mehr schemes in den Mixer bis alles mit einer großen Explosion endet.

Bis dahin haben sich die Wege der beiden Hauptfiguren so oft getwistet, dass sie sich praktisch beide um 180 Grad gedreht haben. Was sie aber nicht daran hindert, mit der gleichen Verbissenheit wie zuvor weiter zu rennen.

Verrückt, dass diese Geschichte auch noch auf drei real life Events beruht, was es wahrscheinlich für Aficionados der koreanischen Innenpolitik noch geschmacksintensiver macht.

„Hunt“ ist das filmgewordene „Hardcore Band playing their popular song“-Meme aus dem japanischen Parlament:

(6/10)

Certified Copy (2010, Regie: Abbas Kiarostami)
auf mubi

Verwirrend oder faszinierend? Abbas Kiarostami läuft mit einem Pärchen durch Norditalien und lässt uns ständig im Unklaren, ob hier zwei Fremde ein Paar geben oder ein Paar zwei Fremde spielt. Als wär hier noch nicht Vielschichtigkeit genug, diskutieren die beiden ständig über Fragen von Original und Kopie in der Kunst und die Unmöglichkeit von wirklicher Authentizität.

Für mich dennoch mehr als Gedankenexperiment reizvoll als dass ich einen echten Zugang zu den beiden Figuren finden konnte, die von Binoche (anstrengend, aber gut) und dem Opern-Sänger William Shimell (arrogant, aber anziehend) gespielt werden. (6/10)

Die letzte Nacht des Boris Gruschenko / Love and Death (1975, Regie: Woody Allen)
auf amazon prime

Muss mich immer mal wieder daran erinnern, dass es auch eine Zeit gab, als Woody Allen gar nicht nur schematische Woody-Allen-Filme gedreht hat. Wie eben „Die letzte Nacht des Boris Gruschenko“ (aka „Love And Death“), der ein richtiger Kostüm- und Historienschinken mit Allen’schen Dialogen ist. Gerade diese Diskrepanz aus Set-Design-Aufwand, purer Albernheit – gern auch manchmal mit an Buster Keaton mahnender Physical Comedy garniert – und hochphilosophischen Witzdialogen macht schon den Reiz des Films aus.

Insgesamt mehr auf der Schmunzelseite als wirklich ein Schenkelklopfer, aber die weirde Idee, eine Ingmar-Bergman-Komödie als Historienfilm zu drehen, verdient schon Applaus. (6/10)

Kalter Hauch / The Mechanic (1972, Regie: Michael Winner)
auf amazon prime

Zwei Jahre bevor Michael Winner & Charles Bronson mit „Death Wish“ einen großen, umstrittenen Smash-Hit landeten und eine der ersten Action-Franchise der modernen Hollywood-Geschichte begründeten, drehten sie mit „The Mechanic“ eine dem späteren Hit ähnliche, aber überlegene Variante.

Hier spielt Bronson nicht wie in „Death Wish“ einen durch die Umstände zur Selbstjustiz gezwungenen Architekten, sondern einen Melville’schen kühlen Killer, der mit der Präzision eines gut ausgebildeten Handwerkers seinem Beruf nachgeht. Insbesondere die wortlosen, ersten 15 Minuten sind herausragend inszeniert.

Die größte Schwäche des Films ist sicherlich der Eintritt des jugendlichen Asis, der zu Bronsons Assi wird: Jan-Michael Vincent unterbietet Bronsons eher mäßiges Schauspiel noch einmal locker und ist nicht nur der kommende Niedergang des Hauptcharakters, sondern auch des Films selbst.

Dennoch insgesamt ein gelungener Früh-70ies-Action-Film mit angemessen zynischem Weltbilck, der nur noch mehr sein könnte – wie er auch in seinem gelungenen, erstaunlich deprimierendem Ende noch einmal zeigt. Tendenz zur 7/10. (6/10)

Der Golem, wie er in die Welt kam (1920, Regie: Carl Boese, Paul Wegener)

Eine Art jüdische Variante des Frankenstein-Mythos: eine Figur wird zu Leben erweckt, fühlt sich missverstanden und wendet sich gegen seine Schöpfer.

Allerdings gelingt es „Der Golem, wie er in die Welt kam“ weniger, eine Nachfühlbarkeit mit dem „Monster“ zu kreieren als James Whale gut zehn Jahre später mit seiner „Frankenstein“-Verfilmung. Dafür sind die Sets beeindruckend und die Bilder gelungen.

Interessant, aber ohne die verstörende Präsenz, die andere Proto-Horror-Filme aus der deutschen Stummfilm-Ära wie „Nosferatu“ oder „Dr Caligari“ besitzen. (6/10)

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