Welch ein Hochgenuss, diese Sammlung (im locker gefassten Sinne) deutschsprachiger Songs aus knapp 50 Jahren, durchzulesen. Der übliche Ansatz „Die besten…“ wurde hier gleich ad acta gelegt, es handelt sich eher um relevante oder prägende Stücke, aber es sind eben auch nicht DIE relevantesten oder prägendsten, sondern eine sehr feine Selektion von naheliegenden, besonderen und völlig absurden Titeln. Zudem schneidet beinahe jeder Text weitere Stücke derselben oder anderer Künstler:innen an und so ließe sich schnell eine doppelt so lange Playlist als die aus dem Buch erstellen.
In die Beschreibung jedes Stücks, von Track 1 „Freddy Quinn – Heimweh“ bis Track 99 „Echt – Du trägst keine Liebe in Dir“ sind Verweise auf politische und kulturelle Gegebenheiten und Einflüsse dargestellt, die man an manchen Stellen auch „gnadenlos subjektiv“ nennen könnte. Aber ernsthaft, wie sonst sollte man emotional und wertend über Musik schreiben? Vor allem, wenn man fast immer so richtig liegt wie Wolfgang Zechner. Warum ist mir dieser begnadete Autor bisher gar nicht über den (Lese)-Weg gelaufen.
Natürlich gibt es die naheliegenden Dinge, wie Kraftwerk, Fehlfarben, Blumfeld oder Abwärts, die völlig obskuren Dinge wie die schon angesprochenen Cindy und Bert, die abartigen Geschichten wie Ferienprogramm-Bennys Plastic-Bertrand-Adaption oder Freddy Quinns Anti-Gammler-Hymne „Wir“. Dazu minutiös skizziert wie die Anfänge der Neuen Deutschen Welle genuine Punk-Aneignung brachte und in Rekordzeit zu einem Kommerzprodukt umfunktioniert wurde, die die deutsche Sprache im Pop für beinahe ein Jahrzehnt versaute. Das betont der Autor vielleicht einmal zu oft, es nervt ein wenig, wenn man das im fünften Text zum fünften Mal liest, ABER: Man kann eben auch jeden Text für sich stehend (noch einmal) lesen und dann sind diese Wiederholungen und Klarstellungen zu einer besseren Einordnung sehr hilfreich.
Was man sich aber angesichts der Zusammenstellung auch vorstellen kann: Man mag die zugehörige Playlist nicht wirklich durchhören, sicher sind abseitige Entdeckungen dabei („Wie a Glockn“ von Marianne Mendt), aber „Ich will Spaß“ oder „99 Luftballons“ mag man sich nicht mal aus musikhistorischen Gründen ernsthaft nochmal um die Ohren schlagen lassen. Man kann es sich bei diesen Worten denken, dass zwischen allen Lobeshymnen der eine oder andere Verriss für eine segensbringende Aufheiterung sorgt. Highlight dabei die Seite zu Rammsteins „Heirate mich“, welches als einzigen Kommentar auf der sonst leeren Seite „Nein.“ beinhaltet.
Gleich zu Beginn ist mir der Ausdruck „auf Polyvinylchlorid gepresst“ mehrfach aufgefallen und ich habe mal mitgezählt und war schon bei Song 31 (Kraftwerk – Autobahn) bei vier Verwendungen dieses ärgerlichen Synonyms für Schallplatte. Mir schwante Übles, doch in den verbleibenden Texten kam das heruntergefallene Bild kein einziges Mal mehr vor. Alles wird gut (indirekt drin mit DAF – Der Mussolini),
Alles in Allem eine gnadenlose Empfehlung von mir.
Extra-Kudos für den Autor, bei den Danksagungen am Ende auf andere Standardwerke zum Thema zwischen Albert Koch, Diedrich Diederichsen, Jürgen Teipel und Frank Apunkt Schneider verlagsübergreifend hinzuweisen. (Text: Horst Motor)
Wolfgang Zechner:
Völlig schwerelos – Glanz und Elend der deutschsprachigen Popmusik in 99 Songs
324 Seiten
Vorabdruck des Kapitels:
* ANARCHY IN GERMANY? Strassenjungs – „Ich brauch meinen Suff“