vonLeisz Shernhart 26.11.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Im Urlaub werde ich Zeuge folgender Szene: Auf der Bühne eines Freizeitparks beginnt eine mittelmäßige Coverband mit dem Soundcheck. Die Gruppe besteht aus Schlagzeug, Sänger mit Gitarre, Bass und einer wunderschönen braungelockten Geigerin. Die Violine der Frau ist mit Tonabnehmern versehen, so wie auch alle anderen Instrumente. Die Band trägt den Namen des Frontmanns mit der Gitarre, so steht es auf dem Plakat. Durchgeführt wird der Soundcheck von einem jungen Mann, etwa Mitte 20, der ein blaues Polohemd mit der Corporate Identity des Freizeitparks trägt. Blonde Haare, pinke Sonnenbrille, tätowierte muskelbepackte braungebrannte Unterarme, weiße Shorts und knallgelbe Flip-Flops. Es ist warm, der Bereich vor der Bühne, eine Art Amphitheater-Struktur, beginnt sich allmählich zu füllen.  Menschen mit Kindern, die Kinder mit Eis, einige Stehtische mit Herrengedecken, Spielplatz und Hüpfburg in unmittelbarer Nähe. Der junge Tongehilfe hat den Soundcheck beinahe beendet. Gesang und Instrumente sind leidlich abgemischt, nur die Violine der hübschen Geigerin widersetzt sich hartnäckig. Mehrfach spielt sie einige Lieder an, bricht ab, signalisiert dem Tonmann, dass sie mit den Frequenzbereichen noch unzufrieden sei. Der jugendlich wirkende Mischer reagiert zunehmend genervt und verärgert. Unlustbetont verschiebt er virtuelle Regler auf seinem per Bluetooth mit der Anlage verbundenen I-Pad. Die übrigen Bandmitglieder werden spürbar nervös. Man merkt ihnen an, dass auch sie mit der Abmischung eigentlich unzufrieden sind, doch sie ertragen es still. Nur die Violinistin gibt keine Ruhe. Mit einem Mal fährt der unverschämte Jüngling die Künstlerin auf äußerst herabwürdigende Art und Weise cholerisch an. Der Sound sei so in Ordnung, man spiele hier nicht im Wembley Stadion, für wen sie sich wohl halte. Seit zehn Minuten habe er eigentlich Pause und so lasse man die Regler nun stehen. Basta! Die Geigerin setzt an zur Replik, doch der Frontmann, dessen Name das Bandplakat ziert, wirft sich hastig dazwischen. Er flüstert ihr einige Worte ins Ohr, versucht zu beschwichtigen, vermutlich mit Hinweis auf die Abendgage. Schließlich ergibt sie sich, doch lässt noch einmal kurz ihr Talent aufblitzen, indem sie ihrer Violine, trotz lausiger Tonqualität, ein Stakkato herzzerreißend himmlischer Passagen entzaubert. Anschließend folgt sie ihren Bandkollegen zögerlich an die Bar, wo diese eines ihrer beiden Freigetränke einlösen und in ein vertrocknetes belegtes Brötchen vom Catering beißen. Die Violinistin steht abseits, nimmt einige kleine Schlücke aus ihrem alkoholfreien Getränk und wirkt nachdenklich, vermutlich noch immer gekränkt. Am Konservatorium hat sie Violine studiert, zwar ohne Abschluss, doch begnadet und virtuos. Zudem spielt sie Klavier und ein wenig Oboe. Wie kann man sie so behandeln?  Der Frontmann der Band bemerkt dies nicht. Er unterhält sich gekünstelt freundlich mit dem unverschämten Bengel vom Ton und will es sich nicht verscherzen. Die Auftritte hier im Familienpark sind beliebt und eine sichere Einnahmequelle über den Sommer, wenngleich die Gage kaum reicht, um alle Bandmitglieder angemessen zu bezahlen. Doch ihm, als Frontmann und Namensgeber der Band, der zudem den Auftritt durch Kontakte an Land gezogen hat, steht ohnehin der Löwenanteil zu.

Als die Band am Abend spielt, schaffe ich es gerade noch zum letzten Song, einer Zugabe des wahrscheinlich massentauglichsten Hits der Gruppe. Ich beobachte die Violinistin. Ihr Make-Up sitzt, doch man sieht ihre Traurigkeit. Routiniert spielt sie die letzten Takte zu Ende und als das Publikum den Frontmann beklatscht, erahnt man in ihren braungrünen Augen eine einzelne funkelnde Träne.

 

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