vonLeisz Shernhart 04.12.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Der schnöde Sachtext zeugt mit dem Gedicht einen Essay. Der Samen der Verfremdungsverfahren verschmilzt im Zeugungsakt mit der Eizelle des Weltwissens.  Der Künstler und die Welt bekommen ein Kind und bezeichnen es als ihr Kunstwerk. Noch im Kreissaal wird es begutachtet, gewogen und bestaunt. Die Geburtshelfer sind das Publikum. Berauscht bringen sie den frisch gebackenen Eltern ihre Hochachtung in Form von Applaus zum Ausdruck. Ein weltliches Wunder sei geschehen! Beseelt wickelt man das Werk in Tücher, bettet es des Nachts, hört es neben sich atmen, hütet und umsorgt es, begreift es als Sinn einer erbarmungswürdig bürgerlichen Existenz.  Liebevoll säugt Mutter Welt das neugeborene Kunstwerk an ihrer Brust, während der Künstler es aus einiger Entfernung beäugt. Die gebenedeite Frucht seines Leibes schmiegt der Künstler gerne wie selbstverständlich an sich, erkennt sich in ihr wieder, verliert sich im Betrachten der Schönheit seiner eigenen Schöpfung. Wenn das Kind jedoch vor Fieber deliriert, liegt die Welt vor Sorge wach und wadenwickelt es mit mütterlicher Liebe, während der Künstler danebenliegt und schnarcht. Wenn im Sommer die Sonne scheint, ist es die Welt, die dafür sorgt, dass das Kunstwerk mit dem nötigen Lichtschutzfaktor bedeckt wird und ausreichend trinkt. Der Künstler holt sich währenddessen einen Sonnenbrand und schweigt. Benimmt das Kunstwerk sich daneben, schimpft der Künstler es aus. In Fragen der ästhetischen Erziehung ist er ungeduldig und sprunghaft, ungelenk und stur. Die Mutter jedoch mahnt zumeist milde im Tone einer maßvollen Stimme der Vernunft. Des Künstlers größte Sorge gilt der Gefahr, sein Werk könne, verzogen durch die Welt, zum lebenden Werbeträger einer hohlen Konsumwelt heranwachsen. Die Welt versteht dies nicht.

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