vonLeisz Shernhart 09.04.2024

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Herr Westermann diniert in einem süddeutschen Wirtshaus. An einer langen Tafel sitzt er, aneinandergereiht neben seinesgleichen, ihnen gegenüber dieselbe Anzahl an wanstigen Weibern. Der vorderste trägt ein leicht zerknittertes hellblaues Leinenhemd sowie eine elegante schwarze Hose aus billigem Anzugstoff an braunen in die Jahre gekommenen Lederschuhen. Seine Haare sind köterblond, grau meliert und kurz. Die Haut ist unrein und speckig. Auf seiner knotigen Nase, überzogen von feinen rötlich violetten Äderchen, befindet sich ein Brillengestell aus Leichtmetall mit kleinen runden Gleitsichtgläsern. Alles in allem bietet Herr Westermann eine eher unspektakuläre Erscheinung. Über seinem üppigen Bauch ist eine braune Stoffserviette gespannt. Der Gastraum, in dem die Westergesellschaft sich trifft, ist gut gefüllt, doch keinesfalls überladen. Von außen blicken einige hungrige und ausgezehrte Zaungäste durch die Fenster, doch die Türen sind gänzlich gesichert. Einem wohl orchestrierten Takt folgend, spülen Familien ein und aus, Tische wie Teller füllen sich, werden geleert, abgetragen, gereinigt, um sich sogleich auf ein Neues zu besetzen. Ein rauschendes Fest der Zügellosigkeit. Herr Westermann und seine Zunft befinden sich gerade mittendrin. Ihre gesamte Tafel steht voll mit Schüsseln, Gläsern, Flaschen, Karaffen, Gedecken, Besteck und bunten Bechern. Kein Mensch redet auch nur ein Wort, doch es herrscht geschäftiges Treiben. Mit seinen unansehnlichen Fleischhänden greift Westermann ungeniert Schüssel um Schüssel. Auf sein marmoriertes Stück argentinischen Rinds, medium rare, türmt er Kroketten, Bratkartoffeln, Pilzrahm, Preißelbeeren, Rotweinjus, Bohnen im Speckmantel, Schweinemedaillons, Dauphinkartoffeln, Rotkohl, Wildragout und Steinpilzrisotto. Die Schweißperlen treten ihm auf die fettige Stirn und sein öliges Faltenhemd verwandelt sich allmählich zur Schlangenhaut, kurz vor der ultimativen Häutung. Doch Herr Westermann bekommt nie genug. Mit fettbesudelten Wurstfingern vergeht er sich grunzend an allem, was die livrierten Lakaien ihm buckelnd vor den Fettwanst pflanzen. Dazu fließen flaschenweise Weine, allesamt große Gewächse aus den renommiertesten südfranzösischen Anbaugebieten. Die Nachspeisen flankieren regionale Gewürztraminer, Espresso Machiato, Dreierlei vom Schokospritz mit Schlag, Früchtesorbet, eine Handvoll gezuckerte Palatschinken sowie ein Quittenkompott mit Streuselkonfi. Nachdem er behäbig den letzten mühsamen Bissen Krokant in sich hineingestopft hat, erhebt sich Herr Westermann schwerfällig und schleppt sich benommen, mit glasigem Blick und sichtlich angeschlagen, in Richtung des marmorgefliesten Sanitärbereichs. Ein paar verwöhnte Plagen, denen man jeden Wunsch von den Lippen abliest, noch bevor sie überhaupt im Stande sind, sich diesen zu denken, stehen auf seinem Kreuzgang Spalier. Und während Herr Westermann seinen randvollen Schweinsdarm langsam unter Qualen in eine blank polierte Schüssel aus Meisner-Porzellan entleert, sitzt auf der anderen Seite des Zaunes eine magere Mutter im Dreck und weint. Ihr einziges Kind war an Mangel krepiert.

 

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