vonLeisz Shernhart 09.05.2024

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Vor wenigen Tagen, am 04. Mai 2024, verstarb der US-amerikanische Künstler Frank Stella in New York. Bekannt wurde der Künstler unter anderem durch seine sogenannten „Black Paintings“, Werke, die, wie der Name schon sagt, einfarbig schwarz und somit zunächst reichlich unspektakulär wirken. Auf dem monochromen schwarzen Hintergrund sind in leicht kontrastierenden etwas helleren, aber noch immer recht dunklen, Farbnuancen, regelmäßige geometrische Formen erkennbar. Zur Entstehungszeit dieser Serie, gegen Ende der 1960er Jahre, wurden diese als extrem minimalistisch empfundenen einfarbigen Werke seitens der Rezipienten teilweise recht kontrovers diskutiert. Während ein zumeist akademisch und bildungsbürgerlich geprägtes Publikum, das sich traditionellerweise selbst gerne auf die Schulter klopft, um sich zu gratulieren, wie klug es doch ist, Stella als Avantgardisten verehrte, fühlte sich der Großteil einer eher bildungsfernen und popkulturell geprägten Bürgermasse häufig durch Stellas schwarze Bilder provoziert. Nicht gerade unverständlicherweise sahen sich Stella sowie seine sich ihm anbiedernde Entourage an Galeristen und Kunst- und Kulturwissenschaftlern mit der recht banalen Frage konfrontiert, was denn bitte an einem schwarzen Gemälde mit sich darauf kaum abhebenden simplen geometrischen Formen so Besonderes sein solle? Woher nehme man sich das recht, derartige Arbeiten als Kunstwerke zu bezeichnen, sie in renommierten Ausstellungshallen auszuhängen und sie letztlich für horrende Unsummen zum Kauf anzubieten. Warum in aller Welt soll so etwas bitte Kunst sein? Was unterscheidet sinnentleertes Gekrakel von einem ernstzunehmenden Artefakt? Ich vermute, es sind nicht zuletzt Kontroversen dieser Natur, die einen Künstler aus der Masse hervorstechen lassen. A good artist is loved by most, hated by few, respected by all. Ohne etwas Empörung geht es offensichtlich nicht, wenn man sich einem breiteren Publikum zugänglich machen will als Kulturschaffender. Kunst bewegt sich dabei zumeist in einem Spannungsfeld aus Tradition und Innovation. Eines Tages tut jemand etwas anderes als seine Vorgänger es taten und das Publikum hat nun grundsätzlich zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: Die einen lehnen es gänzlich ab, da mit den bis dato geltenden Regeln der Kunst gebrochen wurde, während die anderen es gerade deswegen als genial verehren. Auch die Literaturgeschichte ist voll von solchen Begebenheiten. So zum Beispiel in der Literatur des Sturm und Drang, um an dieser Stelle nur eines von vielen Beispielen skizzenhaft herauszugreifen. Charakteristisch für die Stürmer und Dränger ist der Bruch mit den präskriptiven Kunstregeln der normativen Poetiken, die bis dato für die Kunstästhetik von der Antike bis zur Aufklärung programmatisch waren: Poesie wird nicht länger als ein durch die strenge Einhaltung bestimmter Regeln unpersönlich reproduzierbares System, sondern vielmehr als gelungener einmaliger „Wurf“ im Sinne eines individuellen Ausdrucks der Eigentümlichkeit des Dichters verstanden. Der Sturm und Drang erhebt die Individualität und Subjektivität des Poeten zum Programm[1] und „sieht Leib, Seele und Geist als unteilbaren Ausdruck der [dichtenden] Person.“[2] Erstmals rückt die Genieästhetik des Sturm und Drang die Frage nach der Ursprünglichkeit des Dichters, im Sinne der historischen und persönlichen Bedingungen seines Schaffens, ins Zentrum der Betrachtung. Subjektivität, Gefühl und Empfindung werden dabei „zum wichtigsten Maßstab des Verständnisses einer Dichtung.[3] Entscheidend bei der Frage nach der Akzeptanz eines innovativ anmutenden Werkes ist letztlich auch das Momentum seiner Entstehungszeit. Nur wer (scheinbar rein zufällig?) zur richtigen Zeit am richtigen Ort auftaucht, hat eine Chance, fortan als ikonisch gelten zu dürfen. Der Rest wird, wenn überhaupt, bestenfalls retrospektiv als jemand, der seiner Zeit vorausgewesen sein könnte, gewürdigt oder schlicht dem Epigonentum zugeordnet. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor, der darüber entscheidet, ob etwas als Kunstwerk gelten darf oder nicht, ist die Kontextualisierung des entsprechenden Gegenstands. Mogelt man beispielsweise, à la André Breton, unverschämterweise einen höchst banalen und gänzlich weltlichen Alltagsgegenstand wie eine Telefonbuchseite in einen dadaistischen Gedichtband, so gilt diese Seite aufgrund des Kontextes, in dem sie veröffentlicht wird, fortan als Lyrik. Ziemlich frech, könnte man meinen. In dieselbe Kerbe schlagen nicht zuletzt die sich häufenden berühmte Anekdoten von Reinigungskräften in Museen, die hoch dekorierte Kunstwerke versehentlich als vermeintlichen Müll entsorgen, getreu dem längst sprichwörtlich gewordenen Motto: Ist das Kunst oder kann das weg? Als Künstler darf somit nahezu jeder gelten, der es wagt, in der Mitte eines Museumssaal seine stinkende Notdurft zu verrichten. Vor diesem Hintergrund ist die Kunst als reine Behauptung entlarvt. Kunst ist folglich all das, was behauptet, Kunst zu sein. Damit ist Kunstgenese a priori als subversiver Akt des Postfaktischen zu verstehen.

[1] Dazu Kaiser, Gerhard: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. Tübingen 1996, S. 184

[2]  Ebd. S. 184.

[3] Karthaus, Ulrich: Sturm und Drang. München 2000, S. 65.

 

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